Schock, Zweifel, Trauer - die Nachricht vom Tod Osama bin Ladens hat die Islamistenszene in Aufruhr versetzt. "Brüder hütet euch vor den Lügen der Ungläubigen, vielleicht ist es ja eine Falschmeldung", hieß es am Montag in einem türkischen Forum militanter Islamisten. In einem arabischen Forum wurden die Mitglieder durch die Blume aufgefordert, sich nichts anmerken zu lassen, "und keine Nachrichten von Medien mehr zu veröffentlichen".
"Ich bin traurig, dass dieser große Gotteskrieger getötet wurde", erklärt Sam Ramdan (31), ein Geschäftsmann aus dem Jemen, wo die Familie Bin Laden ihre Wurzeln hat. Der Händler, der in seiner Heimat wegen seiner Bewunderung für den Terrorchef keine Repressalien zu befürchten hat, glaubt, "dass die Amerikaner das Al-Kaida-Phänomen immer übertrieben dargestellt haben".
Der ägyptische Islamisten-Anwalt Montasser al-Sajat hätte Bin Laden zumindest ein anständiges Begräbnis gegönnt. Dass die Amerikaner seine Leiche im Meer versenkt hätten, zeuge von schlechtem Benehmen, sagt er dem arabischen TV-Sender Al-Dschasira, der seine Bekanntheit auch der Veröffentlichung von Al-Kaida-Videos verdankt.
Experten rechnen mit einer Welle von Racheakten
"Für die Anhänger von Osama bin Laden ist dies ein großer Schock", sagt ein Angehöriger der jemenitischen Sicherheitskräfte, dessen Einheit im Süden des Jemen gegen die lokalen Al-Kaida-Zellen kämpft. Er hofft genauso wie die Terrorfahnder im benachbarten Saudi-Arabien, dass Bin Ladens Tod zu einem entscheidenden Sieg im Kampf gegen den Terrorismus wird.
Dass die Selbstmordanschläge der Al-Kaida-Terroristen durch den Tod des blutrünstigen Terrorchefs ein Ende finden werden, glaubt zwar in Fachkreisen niemand. Einige Terrorismusexperten rechnen sogar zunächst mit einer Welle von Racheakten. "Ich denke, dass Al-Kaida sicher versuchen wird, Vergeltung zu üben, besonders in Europa und im Nahen Osten, wo die Mitglieder des Netzwerkes besonders aktiv sind", sagt der jordanische Autor Mohammed Abu Rumman.
Es bleibt aber abzuwarten, ob die Terroristen durch die inzwischen deutlich aufmerksameren Fahnder in Europa und anderswo gestoppt werden - so wie zum Beispiel bei den Paketbomben aus dem Jemen, die noch rechtzeitig entdeckt worden waren.
Ein Nachfolge-Ideologe ist nicht in Sicht
Doch langfristig wird Al-Kaida durch den Tod des Anführers sicher geschwächt. Denn dass der Jugendverführer mit der sanften Stimme eine große Lücke im internationalen Imperium des islamistischen Terrors hinterlässt, ist unbestritten. Keiner seiner möglichen Nachfolger - weder der verbissene Ägypter Eiman al-Sawahiri noch der uncharismatische Kommandeur Abu Jahja al-Libi - verkörpert so wie er die Kombination von Kampf und Glaube, Kalaschnikow und Koran.
Nicht nur Amerikaner freuen sich über den Tod Bin Ladens. Zu den Menschen, die über sein Ableben erleichtert sind, gehören auch schiitische Muslime, die von den Al-Kaida-Terroristen zu Ungläubigen erklärt worden waren. "Die Mütter der Opfer in Bagdad und Amerika sind in diesem Moment froh über dieses große Ereignis", sagt der Abgeordnete Jonadam Kana, der als irakischer Christ zu einer Gemeinde gehört, die schon mehrfach Opfer des Al-Kaida-Terrors wurde.
Doch auch viele sunnitische Muslime sind froh, dass es den Amerikanern nun nach jahrelanger Fahndung gelungen ist, den meistgesuchten Terroristen der Welt zu töten. Denn sie haben das Gefühl, dass Al-Kaida auch ihnen das Leben schwer macht. Vor allem Muslime, die in den USA und in Europa leben, fühlten sich in den vergangenen Jahren oft unter Generalverdacht, weil es ihren Nachbarn zum Teil schwer fiel, zwischen islamistischen Terroristen und frommen, friedliebenden Muslimen zu unterscheiden.
Al-Kaida wird auch ohne Osama weiterbestehen
Die ägyptischen Muslimbrüder, die eine "Islamisierung" des Staates mit friedlichen Mitteln herbeiführen wollen, haben sich nach der Todesmeldung noch einmal deutlich vom Terror Bin Ladens distanziert. Sie geben jedoch vor allem den westlichen Medien und den USA die Schuld an der "Medienkampagne gegen den Islam". Außerdem nehmen die Muslimbrüder den Tod des Al-Kaida-Anführers zum Anlass, erneut zum Abzug aller US-Truppen aus Afghanistan und dem Irak aufzurufen. Auch die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) betont mit einem Hinweis auf das Palästina-Problem: "Die wichtigsten Gründe (für Terrorismus) sind politische Ungerechtigkeit und dass man Völkern, die unter Besatzung leben, das Recht auf Selbstbestimmung verwehrt."
Für die Al-Kaida-Terroristen ist der Verlust ihres Anführers nicht die erste Niederlage in diesem Jahr. Auch die arabischen Revolutionen - von Ägypten bis Syrien - haben den Einfluss des Terrornetzwerkes geschmälert. Denn die Araber erhoben sich friedlich und zum Teil auch erfolgreich gegen ihre korrupten Herrscher, obwohl ihnen die Al-Kaida-Anführer immer zu gewaltsamen Methoden geraten hatten. Als sich dann auch noch Staaten des von Al-Kaida verteufelten Westens mit den Aufständischen in Libyen solidarisch erklärten, geriet die Al-Kaida-Theorie von den "Ungläubigen", die aus Eigennutz und Niedertracht alle korrupten Herrscher der Region unterstützen, ins Wanken.
Al-Kaida wird auch ohne die Leitfigur Osama bin Laden fortbestehen. Denn schon jetzt operieren die Terrorzellen im Jemen, in Marokko und im Irak autark. Und viele Terroristen verehren ihre lokalen Anführer fast genauso wie Bin Laden. Doch für die Rekrutierung neuer Terroristen wird es entscheidend sein, ob es den noch verbliebenen Angehörigen des harten Kerns von Al-Kaida in Pakistan gelingt, einen neuen Anführer zu finden. Gesucht wird ein Terrorist, der die Gefühle frustrierter junger Muslime ebenso gut manipulieren kann wie der Millionärssohn aus Saudi-Arabien.