Am 24. Februar 2010 tritt Deutschlands prominenteste Protestantin vor die Presse. Der Tisch steht voller Mikrofone, davor Kameras - wie bei so vielen Auftritten Margot Käßmanns zuvor. Der Raum ist bis auf den letzten Platz gefüllt, auch ihre vier Töchter sind da. Doch ihr Gesicht ist an diesem Nachmittag blass. "Am vergangenen Samstag habe ich einen schweren Fehler gemacht", gesteht sie. Die Nachricht von ihrer Alkoholfahrt mit 1,54 Promille prangt da schon in den Schlagzeilen.
Margot Käßmann macht einen scharfen Schnitt: "Mir geht es neben dem Amt auch um Respekt und Achtung vor mir selbst und um meine Gradlinigkeit, die mir viel bedeutet." Mit sofortiger Wirkung legt sie alle kirchlichen Ämter nieder. Die hannoversche Landeskirche - die größte Deutschlands - steht nach zehn Jahren plötzlich ohne Bischöfin da, und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) verliert nach nur 119 Tagen ihre Ratsvorsitzende.
Vorbild für den Umgang mit Verfehlungen
Über den Rücktritt redet Margot Käßmann bis heute nicht gern. Sie hoffe, dass irgendwann darüber genug berichtet sei, sagt die 52-jährige Theologin. Vor einem Jahr hatte ihr das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sogar eine Titelgeschichte gewidmet. Ihre Konsequenz wurde zum Maßstab auch für die Politik erklärt. Damals war noch nicht klar, wer 2010 noch das Handtuch werfen sollte. Es folgten Bundespräsident Horst Köhler, mehrere Ministerpräsidenten, der katholische Augsburger Bischof Walter Mixa und Hamburgs evangelische Bischöfin Maria Jepsen. In diesen Tagen wird Käßmann in Kommentaren zur Plagiatsaffäre um Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg immer wieder als Vorbild dafür herangezogen, wie man mit persönlichen Verfehlungen umgehen kann.
Erst knapp vier Monate vor ihrem Rücktritt hatte Käßmann das EKD-Spitzenamt von Wolfgang Huber übernommen. Die Wahl einer Frau wurde von vielen als Aufbruch gesehen. Die zierliche und in allen Medien präsente Theologin aus Hannover war nicht minder streitbar, aber deutlich emotionaler als der Professor aus Berlin. Zu Silvester 2009 löste sie mit dem Satz "Nichts ist gut in Afghanistan" eine größere friedensethische Debatte aus als die gesamte evangelische Kirche mit ihren Denkschriften und Synodalberatungen in den Jahren zuvor.
"Eine wichtige Stimme in unserer Kirche"
Der plötzliche Rücktritt warf die EKD aus dem Konzept. In kürzester Zeit rückte Stellvertreter Nikolaus Schneider als amtierender Ratsvorsitzender an die Spitze der rund 24 Millionen deutschen Protestanten. Der 63-jährige räumt unumwunden ein, dass er nicht dieselbe charismatische Ausstrahlung wie seine Vorgängerin hat. Seine anfängliche öffentliche Zurückhaltung hat Schneider abgelegt, seit er im November von der EKD-Synode auch offiziell zum Käßmann-Nachfolger gewählt worden ist. In der Debatte um die Präimplantationsdiagnostik hat er die EKD dazu gebracht, ihre Position zur gentechnischen Untersuchung von Embryos noch einmal zu überdenken. Und in Afghanistan hat er sich im Februar ein eigenes Bild der Lage gemacht - kritisch, aber deutlich differenzierter als die radikale These seiner Vorgängerin.
Ein Jahr nach Käßmanns Rücktritt bleiben noch zwei Punkte offen. Wer in der Nacht der Trunkenheitsfahrt ihr Beifahrer war, beschäftigt vor allem Boulevardmedien. Für die Kirche spannender ist die Frage, welche Rolle sie künftig spielen soll. "Wir freuen uns, wenn sie eine wichtige Stimme unserer Kirche bleiben wird", hat Präses Schneider vor der EKD-Synode gesagt. Eine Präzisierung steht noch immer aus.
Pastorin mit Bezügen bis zum Ruhestand
Zum ersten Mal nach dem Rücktritt trat Käßmann beim Ökumenischen Kirchentag im Mai in München wieder öffentlich auf, den Herbst verbrachte sie an einer Universität in den USA. Sie schreibt Bücher, hält Vorträge und Predigten. Wo sie auftaucht, sind Kirchen und Säle voll treuer Anhänger. Tausende haben ihren Bestseller "In der Mitte des Lebens" gelesen, die Einsichten einer Frau über 50. Demnächst erscheint ihr Tagebuch aus Amerika.
Im Januar hat Käßmann für ein Jahr eine Gastprofessur in Bochum angetreten, bei der sie vor allem sozialethische Fragen aufgreifen will. Ihre eigene soziale Lage ist sicher: Nach mehr als zehn Jahren als Bischöfin hat sie bis zum Ruhestand Anspruch auf ihre Bezüge. Offiziell ist sie nun Pastorin der Landeskirche. Nachfolger Ralf Meister (49), wird am 26. März als Landesbischof eingeführt. Wenn Meister die Dienstwohnung in der Nähe des Maschsees bezieht, geht auch in Hannover die Phase des Übergangs zu Ende. Seine Vormieterin wohnt inzwischen in Berlin.