Nadine Peters (Name geändert) hadert mit einem Familiengeheimnis. Es geht um sechs Jahre, während derer ihre Eltern politisch verfolgt wurden, weil sie von der DDR in den Westen ausreisen wollten. 1982 wurde ihr Vater auf der Straße verhaftet. Damals war sie gerade 18 Jahre alt. Wenige Monate später holte man ihre Mutter zu Hause ab. "Es ist furchtbar, die Mutter in Handschellen zu sehen", erzählt die heute 46-Jährige.
Die Familie sei nicht zerbrochen, obwohl sie auf Schritt und Tritt überwacht worden sei, sagt Peters. Die Eltern mussten für mehrere Jahre ins Gefängnis, die Kinder bei der zweiten Verhaftung auch für zwölf Monate. Danach wurden sie beruflich degradiert und wussten nicht mehr, wem sie noch trauen konnten.
"Diese Erfahrung hat uns so eng zusammengeschweißt, wie es für eine Eltern-Kind-Beziehung nicht das Beste ist. Man will seine Eltern beschützen", sagt Nadine Peters. Von ihrer Geschichte erzählt sie kaum jemandem: "Das ist ein großer Vertrauensbeweis." Auch in ihrer Familie sei das Gespräch darüber nur eingeschränkt möglich.
Ganz viele verschiedene Lebensgeschichten
Der Berliner Psychotherapeut Stefan Trobisch-Lütge arbeitet derzeit an einer wissenschaftlichen Publikation. Er hat zehn dieser "Kinder" im Alter zwischen 20 und 50 Jahren befragt sowie weitere Interviews ausgewertet: "Ich wollte wissen, wie die Kinder im Umgang mit den Eltern, die politisch verfolgt wurden, reagieren und welche Einstellungen sich bei ihnen bilden - ohne die Vorannahme, dass psychische Schädigungen dabei herauskommen müssen."
Dem Psychologen hat sich das Thema durch seine Arbeit als Leiter der Beratungsstelle "Gegenwind" für politisch Verfolgte aus der DDR geradezu aufgedrängt. Rund 200.000 Menschen sind in der 40-jährigen DDR-Geschichte aus politischen Gründen inhaftiert worden. Manche von ihnen suchen heute therapeutische Hilfe, darunter auch ihre Kinder.
Es sind sehr unterschiedliche Lebensgeschichten, die Trobisch-Lütge für seine Studie ausgewertet hat. Manche Kinder wurden erst nach der Haftzeit ihrer Väter oder Mütter geboren, andere waren selber - wie Nadine Peters - in die Inhaftierung verwickelt. Einige Kinder trennte der Staat durch Zwangsadoption von den Eltern. Manche Mütter und Väter reagierten auf die Geschehnisse mit psychischen Problemen oder gar Suizid. Einigen wenigen ist eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gelungen, beobachtet der Therapeut.
"Bei allen Nachkommen - selbst bei den nach der Inhaftierung geborenen - ist die Verfolgung der Eltern ein bedeutsames Thema in der Biografie geworden", sagt Trobisch-Lütge. "Alle Befragten sind intensiv damit beschäftigt, die Spuren der Vergangenheit zu klären." Das hänge auch damit zusammen, dass die Zersetzungsmethoden der Stasi in den Familien weiter wirkten.
Depressionen, Ängste und somatische Störungen
Allerdings unterscheiden sich die Töchter und Söhne der Stasi-Opfer sehr darin, wie sie mit dem elterlichen Schicksal umgehen. Manche, sagt der Therapeut, versuchen sich übermäßig einzufühlen. Andere blocken die Geschichte ihrer Väter und Mütter ab und denken mehr über die eigene Rolle nach.
Dafür, dass viele Kinder sich nicht von der Verfolgungserfahrung ihrer Eltern abschotten können, fand Grit Klinitzke Hinweise. Die Psychologin hat an der Uni Leipzig 42 Kinder von früheren politischen Häftlingen aus der sowjetischen Besatzungszone und der DDR interviewt.
Dabei zeigten diese im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung erhöhte psychische Belastungen, sagt die Wissenschaftlerin. Sie seien unter dem Strich depressiver, ängstlicher und stärker von somatischen Störungen betroffen. Zu ihren Mitmenschen bauen sie vergleichsweise weniger Nähe auf: "Sie beschreiben sich als misstrauisch, vorsichtig und distanziert."
Eltern geben die persönlichen Belastungen weiter
Besonders auffällig findet Klinitzke, dass sie zwischen den Kindern, die vor und nach der Haftzeit geboren waren, keinen Unterschied feststellen konnte. Diejenigen, die durch den Gefängnisaufenthalt monate- oder jahrelang von ihren Müttern und Vätern getrennt waren, zeigten sich nicht stärker belastet. "Das weist auf transgenerationale Weitergabe hin", sagt die Psychologin. Wie schon aus Holocaust-Studien bekannt sei, gäben die Eltern ihre persönlichen Belastungen über die Kommunikation, das Erziehungs- und Bindungsverhalten an die Kinder weiter.
"Bis ich Anfang 30 war, ging es mir richtig schlecht", erzählt Nadine Peters. Die mehr als sechs Jahre dauernde ständige Überwachung ihrer Familie habe sie sehr geprägt und ihr den Kontakt zu anderen Menschen erschwert: "Ich war depressiv und konnte mich niemandem öffnen." Diese Verschlossenheit setze sich bis heute fort. "Nur beruflich habe ich einen Neustart erlebt", sagt sie: Nach ihrer Ausreise aus der DDR 1988 konnte sie in Westberlin studieren.