Religionsunterricht ist in Berlin in der Defensive

Religionsunterricht ist in Berlin in der Defensive
In Berlin ist der Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach. Er ist hier nur ein freiwilliges Angebot der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Verschiedene Faktoren erschweren den Stand des Religionsunterrichts noch zusätzlich. So gibt es seit dem Jahre 2005 das Pflichtfach Ethik, welches von allen Schülern besucht werden muss. Außerdem finden wir, nahezu einmalig im Bundesgebiet, ein Konkurrenzfach zum Religionsunterricht.
10.01.2011
Von Andreas Fincke

 Aus den Wurzeln der Freidenker-Bewegung ist der Weltanschauungsunterricht des Humanistischen Verbands Deutschlands (HVD), die "Humanistische Lebenskunde", hervor gegangen. Man könnte, auch wenn das seltsam klingt, dieses Fach als "freidenkerischen Religionsunterricht" apostrophieren. Und fast jeder sechste Berliner Schüler besucht diesen Humanistischen Lebenskundeunterricht.

Das Unterrichtsfach hat in Berlin eine lange Tradition. Es wurde 1918 als Alternative zum Religionsunterricht erstmals eingeführt. Nach einer wechselvollen Geschichte mit zeitweiligen Verboten konnten die Freidenker 1984 im damaligen Westteil der Stadt das Fach neu etablieren. Vorausgegangen waren heftige Diskussionen. Bis 1989 führte die Humanistische Lebenskunde jedoch ein "Schattendasein" mit etwa 1.000 Teilnehmern pro Schuljahr. Erst mit der Wiedervereinigung gewann das Unterrichtsfach zunehmend an Bedeutung.

Inzwischen liegen die aktuellen Zahlen für das laufende Schuljahr vor. Danach besucht etwa jeder zweite Schüler (51,4%) einen freiwilligen Religions- und Weltanschauungsunterricht. Die Teilnahmequote ist in den letzten Jahren gestiegen. Entgegen manchen Befürchtungen hat das Pflichtfach Ethik den Religions- und Weltanschauungsunterricht also bisher nicht verdrängt.

Evangelischer Religionsunterricht liegt immer noch vorn

Derzeit nehmen 15,56 % der Schüler (49.813) am Humanistischen Lebenskundeunterricht teil. Es lohnt ein Vergleich: So besuchen 25,12 % (80.393) der Kinder in Berlin den Evangelischen Religionsunterricht sowie 7,82 % (25.021) den Katholischen Unterricht. Während die beiden großen Kirchen eine geringe Abnahme ihrer Teilnehmerzahlen vermerken, weist der HVD auf eine leichte Steigerung hin. Diese Steigerung ist beachtlich, da die absoluten Schülerzahlen aufgrund der demografischen Entwicklung rückläufig sind. Wenig verwunderlich ist, dass der Lebenskundeunterricht in den östlichen Stadtteilen überproportional stark besucht wird. Spitzenreiter ist dabei der Bezirk Pankow mit einer Teilnahme von 28,14 %. Der katholische Religionsunterricht wird in diesem Bezirk von weniger als 5 % der Schüler besucht.

Je nach Schultyp lassen sich interessante Unterschiede benennen. An den öffentlichen Grundschulen nimmt fast jeder dritte Schüler am Weltanschauungsunterricht des HVD teil (31,93 %). Das ist fast die Quote, welche der Evangelische Religionsunterricht an den Grundschulen erreicht (33,23 %). Der Katholische Religionsunterricht wird an diesen Schulen mit lediglich 8,4 % deutlich schwächer besucht.
Anders hingegen ist der Befund an den Privatschulen. An den privaten Gymnasien besuchen überdurchschnittlich viele Schüler (mehr als 85 %) den Religionsunterricht.

Diese Zahl ist leicht zu erklären, denn es gibt in Berlin zahlreiche Gymnasien in der Trägerschaft der Evangelischen oder Katholischen Kirche. Folglich gibt es praktisch keinen Humanistischen Lebenskundeunterricht an privaten Gymnasien. Dem HVD ist dieses Phänomen nicht entgangen, es dürfte also nur eine Frage der Zeit sein, bis er sich um die Gründung eines freidenkerisch/humanistischen Gymnasiums bemühen wird.

Die Gesellschaft driftet auch an den Schulen auseinander

Nebenbei illustrieren diese Zahlen, worin ein dramatisches Problem unserer Bildungslandschaft besteht: das Auseinanderdriften der Gesellschaft. So schicken christliche Eltern ihre Kinder bevorzugt auf private Schulen, während Schüler aus kirchenfernen Familien eher eine öffentliche Schule besuchen. Erstaunliche 30 % der Teilnehmer am Evangelischen Religionsunterricht finden wir an einer privaten Schule; das gilt ebenso für 11 % der Teilnehmer am Katholischen Religionsunterricht. Wie angedeutet, besuchen lediglich zwei Prozent der Teilnehmer am Humanistischen Lebenskundeunterricht eine Privatschule. Es ist zu fragen, ob diese Trennung für die Gesellschaft förderlich ist und ob der kirchliche Bildungsauftrag sich wirklich überwiegend an kirchliche "Eliten" richtet.

Der Erfolg des Unterrichtsfachs Humanistische Lebenskunde an öffentlichen Schulen erklärt sich aus unterschiedlichen Aspekten:

  • Vieles spricht dafür, dass Eltern dieses Fach weniger aus weltanschaulicher Überzeugung wählen, sondern weil es einen guten Namen hat. "Lebenskunde" klingt gut.
  • Schulnahe Entscheidungen werden oft nach Rücksprache mit Freunden und Nachbarn getroffen. Offensichtlich hat der Lebenskundeunterricht einen guten Ruf. Er wird positiv wahrgenommen und empfohlen.
  • Es gibt in Berlin heftige antikirchliche Affekte. Der Streit um den Religionsunterricht und der Volksentscheid darüber ("Pro Reli") haben dem Image des Religionsunterrichts nachhaltig geschadet.
  • In der Schulwirklichkeit ist der Lebenskundeunterricht weniger weltanschaulich aufgeladen, als die Veranstalter das gern hätten. (Vergleichbares gilt auch für den Religionsunterricht.) Auch kennen viele Eltern die weltanschaulichen Implikationen gar nicht.

Die Diskussion um Religions- und Lebenskundeunterricht wird oft so geführt, als ginge es um Einflussgebiete, Machtbereiche und "Claims". Als ginge es darum, wie die Kirchen oder der Humanistische Verband ihren Einflussbereich geltend machen. Das verkennt das Wesen der schulischen Bildung, bei der die Schüler im Mittelpunkt des Engagements stehen müssen. Der Religionsunterricht soll helfen, die Kinder in religiösen Fragen sprach- und auskunftsfähig zu machen. Sie benötigen diese Kompetenz, weil unsere Kultur auf christlichem Fundament ruht und weil der interreligiöse Dialog ständig an Bedeutung gewinnt. Daher brauchen wir den Religionsunterricht. Es ist nicht nachvollziehbar, worin der Mehrwert eines nichtreligiösen Lebenskundeunterrichts liegen könnte.

Die Kirchen sind in Berlin in der Defensive

Aber dennoch: Die Erfolgsgeschichte des Humanistischen Lebenskundeunterrichts von einem abseitigen Unterrichtsfach zum zweitgrößten Anbieter eines Weltanschauungsunterrichts zeigt, wie sehr die Kirchen in der Hauptstadt in die Defensive geraten sind. Der HVD hat die Absicht, das Fach in den nächsten Jahren schrittweise in weiteren Bundesländern anzubieten. Erste Erfahrungen sammelt man derzeit in Brandenburg, wo der HVD Lebenskunde bereits 2007 einführen konnte. Hier sind die aktuellen Teilnehmerzahlen zwar vorerst bescheiden, aber ebenfalls wachsend.

Richtig spannend wird es Mitte Januar 2011. In einem Musterprozess erwartet der HVD ein Urteil zum Lebenskundeunterricht in Nordrhein-Westfalen. Sollten die Richter hier den Weg öffnen, dürfte es die Humanistische Lebenskunde bald bundesweit geben. Gibt es ein "Gegenmittel"? Gewiss: Den Religionsunterricht so attraktiv gestalten, dass keiner zur Konkurrenz abwandern möchte.


Dr. Andreas Fincke ist Theologe und Publizist in Berlin.