120 Millionen Euro für ehemalige Heimkinder

120 Millionen Euro für ehemalige Heimkinder
Der Runde Tisch Heimerziehung hat an Bund und Länder appelliert, die Empfehlungen für einen Entschädigungsfonds im Umfang von 120 Millionen Euro schnell umzusetzen. Die Moderatorin des Gremiums, Antje Vollmer, sagte bei der Vorstellung des Abschlussberichts am Montag in Berlin, dies müsse im kommenden Jahr geschehen.

Mit dem Geld sollen individuelle Zahlungen an ehemalige Heimkinder geleistet werden, die zwischen 1949 bis 1975 in einem kirchlichen, staatlichen oder privaten Heim unter Demütigungen, brutalen Erziehungsmethoden, Gewalt oder Arbeitszwang gelitten haben. Experten rechnen mit rund 30.000 Betroffenen, die den Fonds in Anspruch nehmen könnten. Vollmer sagte, die genaue Zahl sei unbekannt. Bei den verschiedenen Anlaufstellen hätten sich bisher rund 2.500 Opfer gemeldet.

Im Fonds sind 100 Millionen Euro für Zahlungen an ehemalige Heimkinder vorgesehen, die körperlich, seelisch oder materiell unter Folgeschäden des Heimaufenthalts leiden. Dabei kann es sich um Kosten für Therapien, finanzielle Hilfen im Alter oder auch Mietzuschüsse handeln. 20 Millionen Euro gehen in einen Topf, aus dem vorenthaltene Renten nachgezahlt werden sollen. Für zahlreiche Jugendliche, die ab dem 14. Lebensjahr hart arbeiten mussten, waren bis zur Volljährigkeit von den Heimen keine Rentenbeiträge entrichtet worden.

Der Fonds soll von Bund, Ländern und Kirchen jeweils zu einem Drittel finanziert werden. Die Kirchen haben ihre Zahlungsbereitschaft zugesagt. Bund und Länder müssen darüber noch entscheiden. Der Ländervertreter am Runden Tisch, Georg Gorrissen, versicherte, dass Bund und Länder die Fonds-Lösung begrüßen. Der Abschlussbericht soll am 19. Januar dem Bundestag übergeben werden.

Vollmer: Heimkinder verdienen Mitgefühl

Vollmer sagte, das Leid der Opfer werde anerkannt. Heimerziehung sei kein Makel, sondern verdiene das Mitgefühl der Gesellschaft. Den Heimkindern sei vielfaches Unrecht geschehen. Verantwortlich dafür seien alle, am Heimerziehungs-System beteiligten Institutionen. Auch nach damaligem Recht habe es "Rechts- und Regelverstöße" gegeben. "Heimkinder konnten ihre Rechte niemals selbst vertreten", sagte Vollmer. Das begründe ihren Anspruch auf Rehabilitierung und finanzielle Anerkennung, obwohl das Unrecht rechtlich verjährt sei.

Regionale Anlaufstellen sollen die Anträge der ehemaligen Heimkinder entgegennehmen und individuell prüfen. Vollmer versicherte, die Hürden würden nicht hoch sein. Der Fonds ist nach oben offen, damit alle Opfer unabhängig vom Zeitpunkt der Antragstellung Zahlungen erhalten können. Einer der Heimkinder-Vertreter am Runden Tisch, Hans-Siegfried Wiegand, sagte, dies sei die Bedingung für die Zustimmung der Heimkinder-Vertreter zur Fonds-Lösung gewesen. Er forderte die Wirtschaft und die Allgemeinheit zu Spenden an den Fonds auf.

Wiegand räumte ein, die ursprünglichen Forderungen der ehemaligen Heimkinder seien nicht erfüllt worden. Sie hatten eine pauschale Opferrente von 300 Euro im Monat oder Einmalzahlungen von 54.000 Euro verlangt. "Wir haben nicht alles, aber wir haben viel erreicht", sagte Wiegand. Im Einzelfall könne es zu beträchtlichen Zahlungen an die Opfer kommen. Heimkinder, die sexuell missbraucht worden sind, sollen über den Runden Tisch Missbrauch der Bundesregierung entschädigt werden, der bis Ende 2011 ein Ergebnis vorlegen will.

Kritik: erneut in Rolle der Opfer und Bittsteller

Die Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder, Monika Tschapek-Güntner, kritisierte das Ergebnis des Runden Tisches als "Farce" und kündigte Einzelklagen auf eine Entschädigung an. Der Verein will weiter für pauschale Entschädigungen kämpfen und lehnt die Einzelfallprüfungen für Zahlungen aus dem Fonds ab. Tschapek-Güntner und Jürgen Beverförden, der als Stellvertreter am Runden Tisch mitgearbeitet hatte, empfahlen den früheren Heimkindern gleichwohl, Anträge an den Fonds zu stellen. "Wir werden die Anträge stellen und den Weg der Klage trotzdem gehen".

Tschapek-Güntner und ihre Mitstreiter sehen sich durch die Bedingungen für die Zahlungen indes erneut in die Opfer- und Bittstellerrolle gedrängt. Dem halten Vollmer und auch die Heimkinder-Vertreter am Runden Tisch entgegen, dass eine pauschale Entschädigung neue Ungerechtigkeiten hervorbringen würde. Für jene, die nun Anträge stellen wollen, bleibt aber die Ungewissheit, ob und wieviel Geld sie bekommen werden.

Fonds ist nach oben offen

Zwar können sie nach Auskunft des Ländervertreters am Runden Tisch, Georg Gorrissen, ab sofort bei einer der bereits bestehenden Anlaufstellen Anträge auf Zahlungen aus dem Fonds stellen - doch ist nicht sicher, ob dieser überhaupt bis Ende 2011 eingerichtet werden wird. Der Bundestag und die elf westdeutschen Länderparlamente müssen dem Fonds noch zustimmen. Vollmer drängte am Montag, dies müsse rasch erfolgen. In einem halben Jahr will der Runde Tisch eine erste Bilanz der Umsetzung seiner Empfehlungen ziehen.

Ein Erfolg der Heimkinder-Vertreter am Runden Tisch ist, dass der Fonds nicht gedeckelt, sondern nach oben offen ist. Allerdings braucht es dazu die Zahlungswilligkeit des Bundes, der Länder und der Kirchen auf längere Sicht. Die Heimkinder-Vertreter haben bereits zu zusätzlichen Spenden aufgerufen.

Antje Vollmer zeigte sich indes optimistisch, dass es zu angemessenen Zahlungen kommt. Sie verwies darauf, dass bis heute niemand die Zahl derer kenne, die sich wirklich melden werden. Bisher haben sich rund 2.500 Menschen an die unterschiedlichen Anlaufstellen für Heimkinder gewendet. Experten gehen von 30.000 Anträgen aus. Aber erst, wenn die geplanten regionalen Anlaufstellen ihre Arbeit aufgenommen haben, so Vollmer, werde man wissen, für wie viele Anträge an den Fonds gestellt werden und ob die 120 Millionen Euro reichen.
 

Schneider: "Erschreckendes Kapitel der Geschichte"

Beide Kirchen begrüßten den Abschlussbericht, bekräftigten ihre Zahlungsbereitschaft und bedauerten das Unrecht an den Heimkindern. Der Ratsvorsitzende der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Präses Nikolaus Schneider, und der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, forderten eine schnelle Umsetzung der Empfehlungen.

Schneider sagte, die Arbeit am Runden Tisch habe "den Blick auf ein erschreckendes Kapitel der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gerichtet". Es sei bedrückend und beschämend, dass auch in kirchlichen Heimen in erheblichem Maße gegen die Maßstäbe des Evangeliums gehandelt worden sei. Zollitsch zeigte sich erleichtert, dass eine Lösung gefunden worden sei. "Ich bitte die Betroffenen von Herzen für diese traurigen Ereignisse um Verzeihung", fügte er hinzu.
 
Auch die Diakonie begrüßte die Ergebnisse. "Der Runde Tisch hat durch klare, offene und differenzierte Aufarbeitung ein Zeichen der Versöhnung gesetzt", sagte Bischof Frank Otfried July, Vorsitzender des Diakonischen Rates. Auch von CDU/CSU und Grünen wurde die Beschluss für einen Entschädigungsfonds positiv bewertet.

Der Runde Tisch Heimerziehung hatte im Februar 2009 seine Arbeit aufgenommen. Er beriet unabhängig vom Runden Tisch zu Fällen sexuellen Missbrauchs, der im Frühjahr dieses Jahres von der Bundesregierung ins Leben gerufen worden war. Über die Umsetzung der Empfehlungen entscheiden der Bundestag und die Parlamente der westdeutschen Bundesländer. Nach Experten-Schätzungen sind zwischen 1949 und 1975 rund 800.000 Kinder und Jugendliche in westdeutschen Heimen aufgewachsen.

epd