Liebe Gemeinde,
Abschied tut weh, insbesondere, wenn er vorzeitig und abrupt erfolgt. Gern hätte ich noch bis Juli 2012 meinen bischöflichen Dienst getan. Doch der Vorwurf, unsere Kirche und ich als Bischöfin hätten sexuelle Missbrauchshandlungen vertuscht und würden auch Jahre, Jahrzehnte später nicht entschieden genug eine Aufklärung betreiben, stand im Raum. Die Opfergruppe brauchte ein deutliches Zeichen aus unserer Kirche heraus. Die Schuldigen sollten sich stellen. Andere gierten zumindest nach einem Sündenbock, um ihn in die Wüste zu schicken. Vorher würde man keine Ruhe geben. Es musste klar gemacht werden, wie ernst wir als Kirche die Missbrauchsfälle nehmen.
So übernahm ich Verantwortung und bat um Vergebung. Und dafür erhielt ich viele Zeichen der Nähe und des Mitfühlens, die mir gut taten. Wenige Tage nach der Ankündigung meines Rücktritts wurde dann endlich auch externe Hilfe herangezogen. Klarheit gibt es allerdings immer noch nicht. Das ist bedauerlich und schmerzt weiterhin.
Als Kirche Jesu Christi, als lutherische Kirche betonen wir die Rechtfertigung des Sünders aus Glauben, hoffen wir auf Gottes Vergebung. Das meint ja keineswegs, alles mit Schweigen oder dem Mantel vermeintlicher Nächstenliebe zuzudecken. Im Gegenteil: wir brauchen den Willen und oftmals auch den Mut, Fehler aufzudecken und öffentlich zu benennen, Konsequenzen zu ziehen und dann neu anzufangen – mit Gottes Hilfe. Der Buß- und Bettag mahnt uns, darin einander beizustehen. Das gilt innerkirchlich und gesellschaftlich. Wie not-wendig, wie heilvoll solche Buße ist, für uns persönlich und für die Gemeinschaft, wird uns bereits im Alten Testament ausführlich vor Augen gehalten wird. Gott ist barmherzig, aber er sieht nicht einfach über unsere Sünden, über unser Fehlverhalten hinweg. Billige Gnade oder einfach Schwamm drüber ist Gottes Art nicht.
"Gott wurde zornig"
Einen kleinen Text zu dieser Thematik haben wir als Lesung aus dem 2. Mosebuch gehört, in dem die heutige Tageslosung steht: "Der Herr sprach zu Mose: Das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des Herrn Werk sehen". Das Volk Israel war von Mose aus Ägypten herausgeführt, hatte Manna und Wachteln vom Himmel erhalten und Gottes Beistand und Rat in vielen Situationen erfahren. In der Wüste Sinai dann wurde Mose von Gott auf den Berg gerufen, damit er die Zehn Worte Gottes erhalten sollte. Und alles Volk antwortete einmütig und sprach: "Alles, was der Herr geredet hat, wollen wir tun".
Doch schon kurze Zeit später verloren sie ihr Vertrauen zu Gott, wichen von dem Weg, den Gott ihnen geboten hatte. Sie forderten neue klare Zeichen. Als Mose noch auf dem Berg Sinai war, fingen sie an, ein Goldenes Kalb zu gießen, und sie tanzten um es herum. Gott wurde zornig. Mose aber flehte Gott an, tat Fürbitte. Wieder ließ Gott sich erweichen und versprach einen Neuanfang und sagte zu Mose: "Haue dir zwei steinerne Tafeln zu, wie die ersten waren, dass ich die Worte darauf schreibe, die auf den ersten Tafeln standen, welche du zerbrochen hast". Mose tat das und dankte Gott für seine Barmherzigkeit, seine Gnade, seine Huld, seine Langmut und seine Treue.
Liebe und Gerechtigkeit
13 Eigenschaften Gottes kennt die jüdische Tradition. Sie lassen sich zusammenbündeln auf Liebe und Gerechtigkeit, sagt Hermann Cohen, der deutsch-jüdische Philosoph. Diese Eigenschaften Gottes sollen und können uns Anreiz sein für unser Leben: Liebe und Gerechtigkeit! Der Glaube ist ein unruhiger Geist – er will sich nicht im Herzen zur Ruhe setzen; er will auch in die Hände gelangen, unsere Füße lenken, hin und her. Er attackiert so unsere Gewohnheiten und Traditionen und zielt somit immer auf unser Leben und Handeln nach den Worten Gottes, in der Individualethik ebenso wie in religiösen Institutionen, auch im sozialen und wirtschaftlichen Bereich und in der Politik.
Glaube darf nie nur Privatsache bleiben. Leben in der Nachfolge Jesu Christi kann dazu führen, dass wir auf Straßen und Plätzen an Gottes Gerechtigkeit erinnern, dass wir bei Verantwortlichen, auf Ämtern und Behörden vorstellig werden, nicht im Sinn der Besserwissenden oder stets korrekt Handelnden, nein, um der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit willen, die für alle gilt in gleicher Weise. Die Gebote sind für alle da und damit auch Gottes Liebe und Gerechtigkeit. Glaube will am liebsten Liebe werden. So ist das.
Eigentlich hätte mein Abschiedsgottesdienst in der Hauptkirche St. Michaelis gefeiert werden sollen, doch aus Termingründen war es leider nicht möglich. So wurde diese St. Georgskirche gewählt. Und beider Kirchen Namenspatrone: Michael, der Erzengel, und Georg, der Drachentöter, stehen klar für Glaubenskraft und Kampf gegen das Böse, für Gerechtigkeit und Liebe. Mit dieser Kirche hier weiß ich mich eng verbunden – durch die Aids-Seelsorge und die Unterstützung der Homosexuellen in Kirche und Gesellschaft, durch die Gottesdienste mit und für die jungen Frauen vom Sperrgebiet, die Gottesdienste am Tag "Nein zur Gewalt gegen Frauen", Terre-de-Femmes-Veranstaltungen, durch die Ökumene, nicht nur mit der Afrikanischen Gemeinde, durch die interreligiöse Zusammenarbeit mit den Muslimen, aber auch durch die Suppenküche und die Kirchenmusik und: last but not least durch die ganz normale treue Gemeinde.
Geschwisterliches Miteinander
Geschwisterliches Miteinander hat hier einen guten Ort. Menschen mit oder ohne Pass, Kirchenmitglieder oder Suchende, Muslime und Juden, Wohlhabende und Arme, Heteros und Homos, Gesunde und Kranke, Junge und Alte, kulturell Engagierte und politisch Verantwortliche wissen, dass sie hier willkommen sind. Die Gemeinde zeigt dabei keine Beliebigkeit, sondern ist klar im evangelisch-lutherischen Profil.
In meiner bischöflichen Zeit erlebte ich viele solcher Gemeinden, solcher Menschen in den anderen Stadtteilen, Städten und Dörfern, die in ähnlicher Weise ihren Glauben leben, zu leben versuchen, ohne bürokratische und machtbestimmte Hemmnisse, mit Mut zu gelebter ehrlicher Gemeinsamkeit und Toleranz, auch gegen den Trend. Das ist der Reichtum der Kirche. Wenn Kirche sich vornehmlich von Statistiken und Medien, von dem Verlangen nach gesellschaftlicher Anerkennung und eigener Bedeutungsfülle leiten lässt, dann hat sie ihren Auftrag verfehlt. Nicht nur in biblischen Zeiten gab es vielfältig schimmernde Einflüsterungen des Versuchers.
Frömmigkeit und Mission und Parteilichkeit für die Schwachen und Ausgegrenzten gehören untrennbar zusammen, auch wenn die Akzente jeweils unterschiedlich gesetzt werden müssen. Besuchsdienste, Seelsorge, Beratung, Gottesdienste zu besonderen Anlässen, Bibelarbeiten, sie alle dienen dazu, das Evangelium im Alltag weiterzugeben. Da treten Gemeinden und Gruppen in die Bresche, wenn Gewalt gegen Anders-Aussehende und Anders-Lebende geübt wird, wenn die Armut das Leben einzelner und ganzer Gemeinschaften zerstört, wenn ökologische Gefahren wahrgenommen werden, wenn Rechtsextremismus unsere Gesellschaft bedroht. Gedenkveranstaltungen wie in der Schule am Bullenhuser Damm oder auf dem Joseph-Carlebach-Platz und die Stolpersteine an vielen Orten sind mahnende Zeichen, sich gesellschaftlich kritisch zu engagieren und Farbe zu bekennen. Auch die Fragen, Visionen und Störmanöver der Kulturschaffenden können uns als Kirche nicht egal sein.
Bischöfin als Demonstrantin
Am Rande bemerkt: oft habe ich mich an meine erste Demonstration als Bischöfin erinnert: 1992 gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, u. a. zusammen mit Will Quadflieg vom Thalia Theater, mit Landesrabbiner Levinson und mit den Gewerkschaften und der Universität. Kultus und Kultur sollten viel öfter angstfrei und mutig auftreten und bisweilen manche Tabus brechen, zu Umwegen bereit sein, um der Kunst und um Gottes willen. Überhaupt: Gott leitet uns doch nicht starr wie auf Eisenbahnschienen, sondern mit biblischen Geschichten und Worten, bisweilen auch durch Menschen und seine Geschöpfe, die sich uns in den Weg stellen, wie Bileams Eselin einst.
Multikulti und ökumenische wie interreligiöse Offenheit sind nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit. Es ist unsere Aufgabe, eine menschenfreundliche Gesellschaft mitzugestalten, um der Liebe und Gerechtigkeit willen, die unser Gott uns schenkt und zutraut. Die Ökumene kann uns in all diesem Ermutigung und Frömmigkeit und Ausdauer vermitteln, so wie wir es in der HafenCity bei der "Brücke" erleben, aber auch sonst in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen, vor Ort und in den vielfältigen kirchlichen Partnerschaften, den lutherischen, aber auch anglikanischen und orthodoxen.
Kirche und Gesellschaft, Kirche und Politik haben die Aufgabe, ein gutes Miteinander zu ermöglichen und zu fördern. Ich hoffe, dass die Nordelbische Kirche sich dieser inhaltlichen Aufgabenfülle immer wieder neu aus Glaubensgewissheit und mit Herzblut widmet. Anvertraut sind uns die biblischen Texte und Choräle, Gebete und geistliche Traditionen, die uns leiten zu geistlichem Reden und seelsorgerlicher Begleitung, zu diakonischer Zuwendung und Mahnung und auch zur klaren gesellschaftlich-politischen Anwaltschaft, weit über die Kirchengrenzen hinaus.
"Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott"
Wo geschwisterliches Miteinander eingeübt wird, findet Integration statt. Wo Klarheit und Ehrlichkeit, Liebe und Gerechtigkeit die Tagesordnung bestimmen, da wird vom Reich Gottes etwas spürbar. Da werden die Menschen des Herrn Werk sehen, mitten unter uns, und von seiner Barmherzigkeit und Gerechtigkeit und Liebe berührt. Seien wir nicht zaghaft und nicht verzagt, sondern vertrauen wir darauf, dass Gott mitten unter uns ist und wirkt.
Die Bibel ist eine Gebrauchsanweisung für unser Leben. Etwas unübersichtlich ist sie, aber man hat sein ganzes Leben Zeit, aus ihr herauszuhören, was Gott von uns will. "Woran du dein Herz hängst, das ist dein Gott." Ich gebe zu, mein Herz hing und hängt nicht an Strukturen und Gremien, nicht an Bürokratie und Verwaltung, - dass diese notwendig sind und manchmal auch Freude bereiten, das habe ich zwar oft erlebt, aber mein Herz hängt nicht daran und schon gar nicht an Superlativen jedweder Art.
Mein Bestreben war und ist es, der biblischen Botschaft, in ihrer Fülle, Wege zu bahnen, soweit das überhaupt möglich ist. Die Bibel ist keinesfalls so etwas wie ein Goldenes Kalb, etwas Selbstgemachtes oder Erhabenes nur für besondere Anlässe. Sie ist – mit meinem Lieblings-Luther-Zitat gesprochen "wie ein Kräutlein, je mehr du es reibst, desto mehr duftet es".
Ich sage Dank
Ich habe viel lernen und erleben dürfen in den vergangenen 18 Jahren. Ich sage Dank Euch, Ihnen aus den vielfältigen Bereichen, der kleinen und großen Ökumene, aus Hamburg und St. Petersburg, aus England und Dänemark sowie aus Palästina und Genf. Ich danke den Partnern und Partnerinnen aus der interreligiösen Gemeinschaft, der Politik und den Behörden, den Kammern und Verbänden, den Universitäten, den Gewerkschaften, den Frauenverbänden und eben den Schwestern und Brüdern aus der Nordelbischen Kirche, der VELKD und EKD und dem LWB. Allen, die mir halfen mit Rat und Tat und auch Kritik. Und meine Bitte: tragt mir meine Fehler und Versäumnisse nicht zu lange nach. Es war eine sehr schöne, reiche Zeit.
"Der Herr sprach zu Mose: Das ganze Volk, in dessen Mitte du bist, soll des Herrn Werk sehen."
Als Kinder sangen und spielten wir "Zeigt her eure Füße, zeigt her eure Schuh und seht den fleißigen Waschfrauen zu, sie waschen, sie spülen ... den ganzen Tag!" Ein schillerndes Lied, zwischen Stolz und Armut.
Die gesellschaftlichen und kirchlichen Frauenbilder haben sich verändert, vieles andere ebenfalls. Geblieben ist allerdings der Drang vieler Menschen, die eigenen Leistungen herauszustellen, auf Verdienste zu achten, sich mit denen gut zu stehen, die gerade das Sagen haben und über Macht verfügen. Von tatsächlichen oder vermeintlichen Verliererinnen und Gescheiterten, von Ohnmächtigen und Ausgeschiedenen wendet man sich schnell ab. Wie zu Jesu Zeiten schon. Deshalb wandte Jesus sich ja gerade denen zu, die arm und schwach, fremd und ausgegrenzt waren.
Unser Blick sei also gerichtet auf Gott und sein Werk, auf all das, was er uns schenkt und ans Herz legt, voller Liebe und Gerechtigkeit, auf alle seine Schöpfungswerke und auf den kranken Nachbarn auch. Amen.
Maria Jepsen (65) wurde am 19. Januar 1945 in Bad Segeberg geboren. Sie studierte Altphilologie und Theologie in Tübingen, Kiel und Marburg. Nach Examen und Ordination war sie als Geistliche in Lehmsahl-Mellingstedt, Meldorf und Leck, ehe sie 1991 Pröpstin des Kirchenkreises Hamburg-Harburg wurde. Im April 1992 wurde Jepsen, die mit einem evangelischen Pfarrer verheiratet ist, durch die Nordelbische Synode überraschend zur weltweit ersten lutherischen Bischöfin gewählt. Sie hatte darüber hinaus zahlreiche nationale und internationale Kirchenämter inne. Mitte Juli trat Jepsen von ihrem Amt zurück. Ihr war vorgeworfen worden, einem Fall von sexuellem Missbrauch in einer Gemeinde in Ahrensburg nicht entschieden genug nachgegangen zu sein. Ihre reguläre Amtszeit hätte im Juli 2012 geendet. Die 65-Jährige will künftig als nordelbische Beauftragte den ökumenischen Dialog mit der russisch-orthodoxen Kirche in Sankt Petersburg fortführen.