"Angela wir kommen, du hast Dich schlecht benommen!" – ein Demonstrant vor dem Berliner Kanzleramt skandiert unter amüsiertem Gelächter der Umstehenden seine Protest-Parole. Heute geht es gegen die Energiepolitik der Bundesregierung, gegen den "geheimen Deal mit der Atomlobby". Das Kanzleramt hatte Anfang des Monats in kleinster Runde nach Verhandlungen mit Vertretern der Energiekonzerne den "Ausstieg aus dem Ausstieg", also eine Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken in Deutschland um durchschnittlich 14 Jahre beschlossen. Die Demonstranten, die jetzt zu Zehntausenden durch das Berliner Regierungsviertel ziehen, stören sich nicht nur an der Kernkraft als Energiequelle, sondern auch an der als nicht eben mustergültig demokratisch eingeschätzten Entscheidung der Regierung.
Schon mittags hatten sich nach Angaben der Veranstalter etwa 10.000 Demonstranten zwischen Hauptbahnhof und Spree versammelt, um dann von Norden und Süden das Kanzleramt zu umzingeln. "Wir riegeln jetzt das Kanzleramt ab, damit die Atomlobby nicht mehr rein kommt" ruft einer der Veranstalter durch das Megaphon eines Polizeiwagens. Und wenig später: "Ich bin nicht von der Polizei. Aber danke, das sie uns dabei hilft".
Spaß am und mit dem Protest
Alles ist genau geplant. Etwa 600 Demonstranten lösen sich aus dem Hauptzug, um das Gebäude einzukreisen, das natürlich aus Sicherheitsgründen großzügig abgesperrt ist. Vor der Hauptfassade ein Meer aus Transparenten und Flaggen, überwiegend mit den bewährten "Atomkraft? Nein Danke!" - Motiven aus den Hochzeiten der Bewegung, aber auch Oppositionsparteien, Naturschutzverbände und private Initiativen sind dabei. Die Polizei hält sich im Hintergrund, mit Ausschreitungen ist heute eher nicht zu rechnen.
Als es plötzlich anfängt zu regnen, sorgt die Ansage "Angie, alles nur für Dich! Komm raus!" für Heiterkeit, danach schallt Musik aus einem der Begleitfahrzeuge und einige junge Demonstranten tanzen gegen den Regen an – zum Glück nur ein kurzer Schauer. Die Menschenmasse, die immer noch wächst, ist eine bunte Mischung aus den traditionellen Atomkraftgegnern der 80er Jahre, ergrauten Umweltschützern, jungen Kämpfern für eine bessere Welt, politisch Engagierten und auch Kindern, die wahrscheinlich einfach Spaß daran haben, auf den mitgebrachten Vuvuzelas, Trillerpfeifen und Trommeln ordentlich Lärm zu machen.
"Wir haben auch etwas zu sagen"
Zeitweise erinnert der Umzug an ein großes Familienfest mitten in Berlin, fast so wie die Loveparade vor zehn Jahren. Von Gewalt und Aggressivität keine Spur, auch wenn der Platz in den Straßen, auf den Brücken und am Spreeufer zwischen Regierungsviertel und Hauptbahnhof immer enger wird. Um 15:15 Uhr, als die Sitzblockade rund ums Kanzleramt mit dem "Atom-Alarm" unter lautem Getröte, Gerassel und knallenden Trommeln aufgelöst wird, spricht der Ansager auf der Hauptbühne von 100.000 Demonstranten. Die Menge johlt. "Es sind viele, sehr viele, weit mehr als wir erwartet hätten", sagt später auch ein Polizeisprecher.Die Polizei wird später 30.000 schätzen, andere Beobachter sprechen von 50.000. So oder so: Es sind viele.
"Die Politik hat hinter verschlossenen Türen über unsere Zukunft beschlossen, jetzt machen wir denen klar, das wir auch etwas zu sagen haben" meint ein etwa 40-jähriger Mann der "Bäuerlichen Notgemeinschaft Gorleben", die extra aus dem nördlichen Niedersachsen mit fünf Treckern angereist ist. "Man hat das Gefühl, die alte Anti-Atomkraftbewegung lebt wieder auf", so einer der Veranstalter. Der Protest gegen die Laufzeitverlängerung und die "Kumpanei" zwischen Regierung und Atomlobby wird dabei längst nicht mehr nur von der traditionellen Anti-Atom-Bewegung getragen, sondern mittlerweile auch von bislang zurückhaltenden Naturschutzverbänden, Gewerkschaften und kirchlichen Kreisen.
Das Volk holt sich den Rasen zurück
Auf dem Weg zurück zur Abschlusskundgebung am Bahnhof stehen Informations-Stände von der "Sozialistischen Internationale", für die Atomkraft vor allem ein Symbol des Kapitals ist, neben Beratungs-Zelten von Öko-Strom Anbietern, Bratwurstbuden und Bierständen. Gleich um die Ecke werfen die Demonstranten zu Miniatur-Giftfässern umfunktionierte Blechdosen auf einen Müllhaufen im eigens eingerichteten "Endlager" neben der Rednerbühne.
Fünfhundert Meter Luftlinie entfernt sammeln sich derweil einige Tausend Demonstranten auf der Wiese vor dem Reichstag, was ursprünglich vom Berliner Verwaltungsgericht verboten worden war, da es "den Rasen stark schädigen" könne. Über den Flaggen und Transparenten vor dem Reichstag prangt die Inschrift "Dem Deutschen Volke". Heute hat es für ein paar Stunden Berlins Straßen friedlich erobert.
Cornelius Wüllenkemper ist freier Journalist in Berlin.