Manuel Herz zögert. Er schaut zur Seite für einen Moment, ehe sein Blick wieder hell und offen wird. "41", sagt er, "und Sie?" Die Frage nach seinem Alter hat ihn etwas irritiert. Als der Architekt den Wettbewerb der Jüdischen Gemeinde Mainz zur Gestaltung eines Synagogenneubaus gewann, war er 30. Doch Herz ist jung geblieben in der Zeit von der Idee bis zur Verwirklichung. Am 3. September, nach nur knapp zweijähriger Bauzeit, wird das neue Bethaus im historischen jüdischen "Magenza" feierlich eröffnet.
Die Synagoge ist ein architektonisches Wunderwerk geworden. Sie fügt sich elegant in die Straßenverläufe und Blockrandbebauung der Mainzer Neustadt ein – doch ihr Antlitz ist verspielt, wellenförmig, ein wenig störrisch auch. Der Bau, der halbkreisförmig die Fläche eines ganzen Häuserblocks einnimmt, zeichnet auf abstrakte Art die fünf Buchstaben des hebräischen Wortes "Kedushah" nach, das bedeutet Segnung, Erhöhung. Erst durch die Nutzung durch die Gläubigen, erläutert Herz die dahinter stehende Idee, wird das Bethaus zu einem gesegneten Haus. Das Dach der eigentlichen Synagoge ist wie ein Widderhorn gestaltet (Foto rechts).
Der Talmud als Raumvorstellung
Ein Wort als architektonische Idee? Das Thema Judentum und Raum hat den in Köln geborenen Architekten seit jeher beschäftigt. Seitdem die Römer im Jahr 70 nach Christus den Tempel in Jerusalem zerstörten, lebte das Volk Israel fast zwei Jahrtausende zerstreut. Die Folge: "Es gibt keine ausgeprägte Kultur des Bauens im Judentum", erläutert Manuel Herz, der heute sein Büro in Basel hat. Nicht Steine und Wände, sondern der Talmud bildeten deshalb die jüdische Vorstellung von Raum.
Der Vorplatz des Gemeindezentrums macht eine öffnende Geste hin zur Mainzer Innenstadt. "Das war mir wichtig, denn es gibt nichts Schlimmeres, als hinter Zäunen zu wohnen", betont der Architekt (Foto unten). Die geriffelte Oberfläche des Gebäudes hat er zum großen Teil mit gebrannter und glasierter Keramik gestaltet. Das dunkle Grün, durch den Brennprozess ohnehin nuanciert, sieht sich im Tageslicht unzähligen Schattierungen ausgesetzt. "Das sind Sachen, die man gar nicht planen kann, sondern die sich ergeben."
Inbegriff für Kultur und Gelehrsamkeit
"Magenza" war im Mittelalter der Inbegriff für Kultur und Gelehrsamkeit. Spätestens seit dem 9. Jahrhundert lebten Juden in Mainz, hier findet sich der älteste datierbare jüdische Grabstein in Europa aus dem Jahr 1049. Die Mainzer Rabbinerschule mit dem Gelehrten Gerschom ben Jehuda war auf dem ganzen Kontinent berühmt. Doch immer wieder kam es auch zu antijüdischen Ausschreitungen und Vertreibungen, ihre Bethäuser wurden zerstört. Ende des 15. Jahrhunderts wurden die Mainzer Juden wieder einmal aus der Stadt gewiesen – 120 waren es zu diesem Zeitpunkt.
Doch schon bald siedelten sich wieder Juden in der Bischofsstadt am linken Rheinufer an, wenngleich sie nun in einem abgetrennten Stadtviertel leben mussten. Die Tore des Ghettos fielen am 12. September 1792 als Frucht der französischen Aufklärung. Die folgenden Jahrzehnte brachten einen enormen Aufschwung, das jüdische Vereinswesen blühte. 1871 erreichte die Zahl der jüdischen Mainzer mit knapp 3.000 ihren Höchstwert. Rabbiner wie Siegmund Salfeld (1843-1926) und später Sali Levi (1883-1941) prägten das Kulturwesen der Stadt.
Opfer der Novemberpogrome
Die Bedeutung der Mainzer Gemeinde spiegelte sich auch in ihren Synagogenbauten. 1853 war in der heutigen Klarastraße eine neue Synagoge im maurischen Stil entstanden. Architekt war Dombaumeister Ignaz Opfermann. Das Bethaus hatte eine Orgel, was vielen orthodoxen Juden zu weit ging: Sie bauten sich 1877 an der Flachsmarktstraße eine eigene Synagoge nach Plänen von Stadtbaumeister Eduard Kreysig. Während der Novemberpogrome 1938 wurde sie durch Brand beschädigt und später abgebrochen.
Das gleiche Schicksal ereilte die Mainzer Hauptsynagoge, die 1912 eröffnet worden war. Die Eleganz des 25 Meter hohen Kuppelbaus, den der Stuttgarter Architekt Willy Haas konzipiert hatte, lässt sich heute nur noch auf Schwarz-Weiß-Bildern erahnen. Die Nationalsozialisten zündeten das Gotteshaus am 9. November 1938 an und sprengten kurz darauf die Reste. Die in der Stadt verbliebenen Juden wurden gezwungen, den Trümmerhaufen zu beseitigen. 1939 lebten noch 1.452 Bürger jüdischen Glaubens in Mainz. Die meisten von ihnen wurden später in die Konzentrationslager in Polen und Theresienstadt verschleppt und getötet.
Starker Zuwachs aus Osteuropa
Doch schon am 17. Oktober 1945 gründeten Überlebende eine neue Jüdische Gemeinde. Zu ihr gehören inzwischen auch die Gläubigen in Bingen und Worms. Gemeindevorsitzende ist Stella Schindler-Siegreich. Die Zahl der Mitglieder stieg nach dem Fall der Berliner Mauer durch die Zuwanderung aus Osteuropa, vor allem der Ex-Sowjetunion, binnen weniger Jahre um das Achtfache auf 1.035. Da der Gebetsraum an der Forsterstraße nur rund 100 Plätze hat, entstanden die Pläne für ein neues Bethaus.
Als Standort wurde nach vielen Überlegungen der Platz der alten Synagoge gewählt. Dort war inzwischen ein Gebäude des Mainzer Hauptzollamts errichtet worden. 1988 entdeckte man Reste der alten jüdischen Säulenhalle und stellte sie auf dem Grundstück auf – sie bleiben als Mahnmal neben dem Neubau erhalten. Nach dem Architektenwettbewerb, der 1999 den ungewöhnlichen Entwurf von Manuel Herz als Sieger kürte (rechts im Bild ein Gang im Veranstaltungstrakt), und dem Abriss des Zollamts konnte mit dem Bauarbeiten begonnen werden. Der Grundsteinlegung am 23. November 2008 folgte ein knappes Jahr später bereits das Richtfest.
"Nicht auf den ersten Blick"
Entstanden ist ein Gebäude, "das sich nicht auf einen Blick preisgibt", wie Manuel Herz nicht ohne Stolz sagt. Die Synagoge, die über 450 Plätze verfügt, ist nach Osten und damit Jerusalem ausgerichtet. Kühn wie ein riesiges Widderhorn ist sie geformt – das Schofar erinnert die Juden an die verhinderte Opferung des Isaak durch seinen Vater Abraham. Es ist Symbol des Vertrauens und der Verbindung von göttlicher und menschlicher Natur. Ertönt das Horn, fühlt sich die Gemeinde zum Gottesdienst zusammengerufen.
Im Zentrum des Bethauses steht wie in jeder Synagoge der Lesepult, die sogenannte Bima. Durch das Dach fällt Licht genau in diese Mitte. Die Bedeutung des Wortes wird auch an den Wänden versinnbildlicht: Dort findet sich ein Meer von Buchstaben, die sich an manchen Stellen zu Sätzen zusammenfügen – wichtige jüdische Gebete, Bibelstellen, auch Gedichte von Mainzer Rabbinern (Foto unten). Der Toraschrank, der an der östlichen Stirnseite Platz finden wird, ist ein Geschenk der christlichen Kirchen – als "besonderes Zeichen unserer Verbundenheit", so Kardinal Karl Lehmann.
Überraschende Blicke nach draußen
Das neue Gemeindezentrum ist architektonisch in vier Teile gegliedert. Neben Synagoge und Foyer entsteht ein Veranstaltungstrakt mit einem großzügig gehaltenen Saal sowie Senioren- und Jugendräumen. Im Verwaltungstrakt entstehen auch einige Wohnungen. Die Fenster gewähren an vielen Stellen überraschende Blicke nach draußen, es sollen "kommunikative Räume" sein, sagt Architekt Herz. "Manchmal kommt einem das Gebäude sehr nahe, und dann wird es wieder weit. Es kann auch wehtun."
Einen "Lernort" wünscht sich Gemeindevorsitzende Stella Schindler-Siegreich und freut sich, dass etwa jüdische Schulkinder in der Synagoge künftig Hebräischkurse bekommen sollen. Elf Millionen Euro kostet der Neubau, die Kosten teilen sich die Stadt Mainz, das Land Rheinland-Pfalz und der Bund. Eine "Magenza-Stiftung" zur Förderung des Projekts wurde gegründet, Schirmherren sind Oberbürgermeister Jens Beutel und Ministerpräsident Kurt Beck (beide SPD).
98 Jahre danach ...
Am Freitag kommender Woche, genau 98 Jahre nach der Eröffnung der alten Hauptsynagoge, wird der Herz-Bau eingeweiht. Zu den prominenten Gästen zählen Bundespräsident Christian Wulff, die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, und Kardinal Karl Lehmann. Manuel Herz wird einer der jüngeren Gäste des Festakts sein. Und Stella Schindler-Siegreich weiß, dass die Arbeit danach nicht weniger wird: "Im Keller ist eine Mikwe vorgesehen, ein jüdisches Tauchbad. Das müssen wir dann noch ausbauen."
Literatur zum jüdischen Mainz:
Rolf Dörrlamm: Magenza. Die Geschichte des jüdischen Mainz (Festschrift zur Einweihung des neuen Verwaltungsgebäudes der Landes-Bausparkasse Rheinland-Pfalz), Mainz 1995
Hedwig Brüchert (Hg.): Die Mainzer Synagogen. Ein Überblick über die Mainzer Synagogenbauwerke mit ergänzenden Beiträgen über bedeutende Mainzer Rabbiner, das alte Judenviertel und die Bibliotheken der jüdischen Gemeinden (Sonderheft der Mainzer Geschichtsblätter), Mainz 2008.
Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Religion.