Jüdische Kantoren: Mit Kippa, Stimme und Gefühl

Jüdische Kantoren: Mit Kippa, Stimme und Gefühl
Das Abraham-Geiger-Kolleg bildet in Berlin und Potsdam erstmals wieder jüdische Kantoren aus. Die Hochschule war in der NS-Zeit geschlossen und 1999 wiedereröffnet worden. Der Kern des Berufs: Die Vermittlung spiritueller Werte.
29.07.2010
Von Yvonne Jennerjahn

Mit einer Kippa auf dem Kopf und den Fingern auf den Tasten steht Israel Goldstein vor der Elektroorgel und wartet. Ein jüngerer Mann mit blondem Pferdeschwanz neben ihm versucht, sich mit geschlossenen Augen zu konzentrieren. Dann streift er die Sandalen von den Füßen und beginnt zu singen - ein Stück zum Abschluss des jüdischen Jom-Kippur-Festes, wenn alle vom Fasten erschöpft sind und doch noch einmal versuchen, mit einem Gebet zu Gott durchzudringen.

Es ist die letzte Unterrichtsstunde eines Gesangskurses, den Goldstein in Berlin gegeben hat. Drei Wochen lang hat der ehemalige Leiter der New Yorker "School of Sacred Music" an der jüdischen Kantorenschule des Abraham-Geiger-Kollegs unterrichtet. Was er den Schülern vermitteln will: im Gottesdienst in der Synagoge an den entscheidenden Stellen mit dem richtigen Maß an Gefühl zu singen.

"Wichtigster Träger des Gottesdienstes"

Seit 2001 bildet das Kolleg in Berlin und Potsdam Rabbiner aus, seit 2008 auch jüdische Kantoren. Es ist die erste akademische Ausbildungsstätte für jüdische Geistliche in Deutschland seit der Schließung der jüdischen Hochschule durch die Nationalsozialisten im Jahr 1942.

Das Kantorenstudium dauert vier Jahre, Praktika in Gemeinden, ein Jahr in Jerusalem und ein Abschluss der Universität Potsdam gehören dazu. Zwei Frauen und drei Männer bereiten sich derzeit am Kolleg auf ihre künftigen Aufgaben als Kantoren und Vorbeter vor. Und die sind groß: "Es geht um die Vermittlung spiritueller Werte an die Gemeinde", sagt der akademische Direktor der Kantorenschule, Jascha Nemtsov. "Das ist der Kern des Berufs."

Auf den Rabbiner könne man im Gottesdienst auch mal verzichten, urteilt er. Aber nicht auf den Kantor. Denn der jüdische Gottesdienst sei Musik. "Der Kantor ist der wichtigste Träger des Gottesdienstes", erklärt der 46-jährige Pianist und Musikwissenschaftler, der 1992 aus Russland nach Deutschland gekommen ist. "Es gibt nichts Gesprochenes, es wird alles gesungen." Auch die Tora-Abschnitte müssen mit genau festgelegten Melodien vorgetragen werden. "Das ist eine ganze Wissenschaft für sich, da darf nichts verwechselt werden."

Er muss alles im Kopf haben

28 musikalische Motive mit Variationen sind bestimmten Wörtern zugeordnet, doch in der Torarolle sind sie nicht verzeichnet. "Das muss der Kantor alles im Kopf haben", sagt Nemtsov. Die Anforderungen an die Studierenden sind deshalb hoch. "Zu uns kommen keine Leute, die gerade Abitur gemacht haben", betont er, sondern professionelle Musiker mit Bühnenerfahrung.

Nikola David ist einer von ihnen. 15 Jahre lang hat der ausgebildete Opernsänger aus Serbien Engagements an Bühnen im ehemaligen Jugoslawien und in Deutschland gehabt, in Belgrad, Eisenach, Augsburg, Pforzheim, München und anderen Städten. Er hat den Tamino in Mozarts "Zauberflöte" gesungen, den Basilio in der "Hochzeit des Figaro" oder den Nemorino in Donizettis "Liebestrank". Letzte Station war das Dessauer Opernhaus. Dann ist er vor drei Jahren als Leiter des Kulturzentrums zur jüdischen Gemeinde nach Augsburg gegangen.

Die Musik habe ihn in Novi Sad in die jüdische Gemeinde gebracht, erzählt der 41-jährige Tenor, der seit zwölf Jahren in Deutschland lebt. "Ich habe immer so ein Gefühl gehabt, irgendwann wird das auch mein Beruf", sagt er. In Augsburg hat ihn der Rabbiner der Gemeinde darin bestärkt. Nun pendelt er seit zwei Jahren zwischen Gemeinde und Familie in Bayern und dem Kolleg in Berlin. In zwei Jahren will er fertig sein, dann soll er in Augsburg als Kantor eingestellt werden.

Ein Ort, an dem man sich aufgehoben fühlt

Auch Isidoro Abramowicz hat schon einen längeren Weg hinter sich. Vor neun Jahren ist der 37-jährige Argentinier aus Buenos Aires nach Deutschland gekommen. Er hat Klavier, Gesang und Chorleitung studiert, als Musiker gearbeitet, Konzerte gegeben. Seit einem Jahr studiert er am Abraham-Geiger-Kolleg.

Ein Kantor, sagt Isidoro Abramowicz, soll den Menschen mit Gesang und Gebet einen Ort geben, an dem sie sich aufgehoben und zu Hause fühlen. Genau das sei auch sein Ziel: "Dass man betet, auch wenn man nicht gläubig ist." In diesem Sommer wird er zu seinem Studienjahr nach Israel aufbrechen. Und im Herbst wird im Abraham-Geiger-Kolleg der nächste Studienanfänger erwartet, der eine Ausbildung zum jüdischen Kantor beginnt.

epd