Der Kampf der Interpretationen geht weiter

Der Kampf der Interpretationen geht weiter
Heute mit gutem Rat für Faktenchecker. Aber wen erreichen Faktenchecks? Immerhin können sie Schäden beheben, die Talkshows anrichten ... Außerdem: das "Loser-Image" der Medien, der Bedeutungsverlust der Journalisten, Bewerber-Gedränge beim Hölle-Preis der Freien und die ARD-"Luther-Matrix" im Fegefeuer der Fernsehkritik.

Vor einer Woche ging der Kampf gegen sog. Fake-News im deutschen Superwahljahr so richtig los. Erst hat die ARD ihr "Faktenfinder"-Portal gestartet (Altpapier), dann legten die großen Digitalkonzerne mit neuen, wie heißt das? ... Tools! nach.

Facebook spendiert seinen Nutzern derzeit zehn "Tipps zum Erkennen von Falschnachrichten", von denen horizont.net ein Screenshot gelang. "Google weitet Einsatz von Faktencheck-Label aus", meldete tags drauf im Wetterbericht-Sound die DPA (zeit.de). "Ausweiten" bedeutet in diesem Fall, dass Google "künftig verstärkt auf Hintergrundberichte hinweisen" möchte, "in denen Medienunternehmen oder Verlage die Faktenlage bei strittigen Themen überprüfen", sofern diese Verlage oder Unternehmen bestimmte Bedingungen erfüllen und algorithmisch "als seriöse Informationsquellen eingeschätzt werden".

Heißt: Google spuckt bei Suchanfragen Faktenchecks aus, die von Befugten "eingereicht" wurden (ndr.de). Dürfte heißen: Wer als Verlag oder so was nicht gratis für Facebook Fakten checken möchte, wozu zurzeit außer correctiv.org und vielleicht focus.de weiterhin kaum jemand bereit scheint, kann seine Faktenchecks auch bei Google einspeisen.

Es ist also ein guter Zeitpunkt, um zu fragen, ob all das, das mindestens in den USA schon länger ausprobiert wird, denn hilft. Karoline Meta Beisel ist dem für die Süddeutsche nachgegangen, vor allem mit Bezug auf die mit Tools wie einem "Trump-O-Meter" optisch ansprechende Webseite politifact.com, und schreibt heute auf der Medienseite:

"Faktenchecks erreichen nur einen kleinen Teil der Gesellschaft. Untersuchungen in den USA deuteten darauf hin, dass solche Angebote vor allem von demokratischen Wählern angenommen würden, die sich sowieso schon überdurchschnittlich gut mit Politik auskennen würden. 'Wir sind wirklich schlecht darin, unsere Informationen an die Leute zu bringen, denen sie am meisten nützen würden', sagte Rebecca Ianucci, die sich an der Duke-Universität in North Carolina mit dem Thema befasst."

Was zumindest insofern seltsam scheint, als dass Google und Facebook weite Teile ihres Renommees daraus beziehen, dass sie ihren Nutzern immer das Relevanteste und jeweils Nützlichste anzeigen. Gibt es am Ende gar noch unterschiedliche Ansichten, was genau am meisten nützt?

Viel Optimismus verbreitet Beisel jedenfalls nicht:

"Die Tendenz, Falschbehauptungen als wahr zu akzeptieren, die der eigenen Sache dienen, lasse sich aber auch in die andere Richtung erkennen. So gebe es bereits Anzeichen dafür, dass Anhänger der Demokraten in den sozialen Netzwerken heute mehr Fake-News-Inhalte teilen würden als noch vor der Wahl ...",

gibt aber doch noch guten Rat für deutschsprachige Faktenchecker. Die

"sollten sich eher auf Sachfragen denn auf Personen konzentrieren. So ließen sich auch solche Leser eher erreichen, die den Urheber falscher Aussagen eigentlich gut finden",

lautet nur einer davon. Insgesamt sind's mehr Tipps, lesen Sie also auch den SZ-Artikel. Nicht nur Weiterverbreitern zu vertrauen, sondern originalere Quellen zu lesen, war schon vorm Faktencheker-Trend wichtig gewesen und wird es bleiben!

[+++] Was geht auf faktenfinder.tagesschau.de, das ja kein statisches Portal ist, sondern eines mit immer neuen Inhalten?

Im aktuell oben stehenden Artikel geht das Trio Silvia Stöber, Patrick Gensing und Andrej Reisin der Frage nach, die auch in allen wichtigen Talkshows betalkt wird: Von welcher Kriegspartei wurde in Syrien gerade Giftgas eingesetzt? War es die des Machthabers Assad, oder ist die Rückkehr zu medial vertrauten Gut-Böse-Schemata (vgl. z.B. TAZ-Titelseite/ PDF: "USA wollen Menschheit retten", also mit auch unklarem Ironiegrad) doch zu bequem?

Der Faktenfinder-Artikel dröselt die verschlungenen Wege auf, die Fakten und ihre Interpretationen in der aktuellen Medienlandschaft nehmen, indem er Behauptungen von Talkshowgast Michael Lüders "zunächst in der ZDF-Sendung 'Markus Lanz' vom 5. April und dann in der ARD-Sendung 'Anne Will' vom 9. April" mit externen Links nachgeht. Spuren führen über ein von Lüders verfasstes Buch erstens zu Behauptungen Seymour Hershs von 2013 und 2014. Hersh ist renommiert (und wurde kürzlich 80, weshalb Geburtstags-Artikel wie "Er  deckte das Massaker von My Lai auf und die Folter von Abu Ghraib" bei faz.net zirkulieren), seine Einschätzungen von 2013 wurden aber schon damals von ebenfalls renommierten Seiten bestritten. Zweitens führen Lüders' jüngste Behauptungen zu einem Spiegel-Artikel von 2015, der sich auf Enthüllungen Can Dündars zu einem damals bereits ein Jahr zurückliegendem Vorfall bezog. Dündar hat diese Interpretation jedoch gerade, 2017, in einem FAS-Interview zurückgewiesen.

Scheu vor Komplexität haben die "Faktenfinder" also nicht, und mit ihren Zwischenüberschriften

"Viele offene Fragen" und "Fazit: Dünne Quellenlage"

so verdammt recht wie mit ihrem Schlusssatz "Und so geht der Kampf der Interpretationen weiter".

Und mit der im langen Artikel, der dann noch zur beschreibenden Besprechung der ebenfalls vom NDR verantworteten Will-Talkshow ("Dementsprechend musste sich Lüders bei 'Anne Will' kritische Fragen zu seiner Arbeit gefallen lassen ...") wird, ganz unten eingeschobenen Zwischenüberschrift  

"Von der Leyen lag falsch"

agieren sie womöglich taktisch klug. Wer sehr überzeugt ist, dass die großen Medien staatlich gelenkt seien, könnte da jedenfalls kurz stutzen.

Vielleicht hätte es ein schlichter Faktencheck à la Plasberg auch getan, aber immerhin mag es den "Faktenfindern" vom NDR gelingen, Schaden, den mit Vereinfachern unterschiedlicher Ansichten besetzte Talkshows anrichten, zu kompensieren – zumindest bei Menschen, die auch gerne längere Texte lesen. Ob das nun die sind, denen die Infos in Ianuccis Sinne "am meisten nützen" würde, wäre eine weitere Frage.

[+++] Halten Sie sich fest, es geht noch weiter bergab auf der Stimmunsgskurve!

Vom "Loser-Image" der Medien spricht am Rande der grundseriöse, der Stimmungsmache unverdächtige Ex-Stiftung-Warentest-Mann Hermann-Josef Tenhagen (bei kress.de, weil er nicht genug junge Wirtschaftsjournalisten findet, die bei seinem Portal finanztip.de arbeiten wollen, bzw. weil kress.de für die verschwisterte Zeitschrift Wirtschaftsjournalist werben möchte). Und

"Journalisten sollten mit ihrem Bedeutungsverlust umgehen lernen",

berichtet die junge Journalistin (bzw. "Content Produktion und Digitales Medienmanagement"!-Studentin) Sothany Kim im Standard von einem "internationalen Journalismusfestival in Perugia". Immerhin soll es dem dortigen Panel zufolge auch 2030 noch Journalisten geben ...

Damit zum "Höllepreis 2017", dem Anti-Preis der Freie-Journalisten-Gewerkschaft Freischreiber [bei der ich im Prinzip Mitglied bin]. Gestern wurden die neuen Nominierungen bekannt gegeben. Mit fünf ist es eine mehr als im Vorjahr, und das Spektrum ist breit zwischen dem Zeitungsverleger-Verband BDZV, der Travel House Media GmbH, der DPA und der bereits erwähnten Süddeutschen Zeitung. Fünfter im Bunde ist aus aktuellem, zuletzt gestern hier erwähnten Anlass die Wochenzeitung Freitag. In der wie in jedem Fall ausführlichen Begründung heißt es dazu:

"Liebe freie Journalistinnen und Journalisten, wenn Sie vorhaben, in der nächsten Zeit einen Text für das Meinungsmagazin 'der Freitag' zu verfassen, so lesen Sie sich vorher bitte diese Anleitung durch. Erstens: Fassen Sie kein heißes Eisen an. Zweitens: Nennen Sie keine Namen. Drittens: Legen Sie ein Mehrfaches des Honorars als Rücklage für mögliche Rechtsstreitigkeiten mit Protagonisten zur Seite – 'der Freitag' verfügt entweder nicht über entsprechende Mittel oder möchte sie nicht zur Verfügung stellen. Viertens: Rechnen Sie nicht damit, dass die Redaktion den Text vorab auf rechtliche Unsicherheiten hin klärt ..."

Ein "Fünftens" folgt auch noch, doch bis zum zeitlosen Schluss-Halbsatz,

"dass Meinungen billiger zu haben sind als Recherchen",

sollte diese Begründung vollständig durchlesen, wer bis hierhin gelesen hat.


Altpapierkorb

+++ "Gottogott! Das Reformations-Update 'Luther Matrix' scheitert auf ganzer Linie" (Oliver Jungen, FAZ). +++ Der "ambitionier[t]e Versuch, das krimisüchtige Volk von innen heraus mit Wissen über Martin Luther zu infiltrieren ... geht total schief", würde Ralf Wiegand (Süddeutsche) sagen. So einig wie zum heute das um 23.00 Uhr das Reformations-Halbjahrtausend-Jubiläums-Fernsehjahr vorantreibenden ARD-"Doku-Thriller" "Die Luther-Matrix" sind sich Fernsehkritiker nicht immer. +++ Und selbst Tilmann P. Gangloff äußert hier nebenan auf evangelisch.de deutlich mehr Kritik als er sonst in seinen TV-Tipps, findet die Sendung, die der "SWR im Auftrag der ARD-Koordination Kirchliche Sendungen" produzierte, aber doch immerhin "auf gewisse Weise faszinierend". +++

+++ Jüngste ARD-Talkshow, in der Syrien- und Giftgas-Fragen betalkt wurden, war natürlich nicht die vom Sonn-, sondern die vom Montag. Bei faz.net gibt Frank Lübberding "Julian Reichelt als 'Chefredakteur aller Bild-Chefredakteure'" Saures: "Gestern Abend erlebten wir dafür die Folgen einer solchen Kriegspropaganda. Diese hält den leisesten Zweifel an der eigenen Sichtweise schon für Verrat ..." Frank wird übrigens in den kommenden Wochen mit zwei Gast-Altpapieren an dieser Stelle wieder vertreten sein. +++

+++ Gestern begann in Hamburg der Prozess wegen versuchter Brandstiftung bei der Hamburger Morgenpost. Ob die Tat im Zusammenhang mit dem islamistischen Massaker in der Charlie Hebdo-Redaktion kurz zuvor und mit abgedruckten Mohammed-Karikaturen steht, ist eine der Fragen. "Drei der vier Männer im Alter zwischen 20 und 22 Jahren beteuerten jedoch in schriftlichen Erklärungen, dass sie nicht strenggläubig seien und Gewalt im Namen des Islams ablehnten" (welt.de). +++ Das Hamburger Abendblatt berichtet hinter einer Bezahlschranke, die Mopo halt als Boulevardzeitung. +++

+++ Schön ratlos zeigt sich Hans-Jörg Rothers Tsp.-Kritik zur Arte-Dokumentation "Europas Muslime" mit Moderatorin Nazan Gökdemir und dem mit einer Fatwa belegten Islamkritiker Hamed Abdel-Samad. +++ "Vor einer Berliner Moschee, deren Pressesprecherin eben noch sagte, hier seien alle willkommen, kommt es zum Tumult, als Abdel-Samad hinzukommt. 'Bald ist hier auch Frankreich', schreit ein Mann aus einem Pulk ..." (zeigt sich auch Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite beeindruckt). +++

+++ Für die FAZ-Medienseite hat Christian Schubert "im Herzen von Paris, nicht weit vom Louvre" die Redaktion der investigativen französischen Satirezeitschrift Le Canard Enchaîné besucht, die durch ihre eigene Stiftung gut finanziert ist, noch immer nicht im geringsten im Internet erscheint und mit ihrer "unnachahmlichen Mischung aus Karikaturen und verbalen Attacken, die in Ironie und Wortspiele verpackt sind, seit langem Pflichtlektüre in Frankreich" sei. Aprops: Gibt's in Deutschland noch Pflichtlektüre? +++

+++ Was könnte gegen "Loser-Image" helfen? An Kaninchenzüchter, die auch kein Top-Image haben (zumal unter Journalisten), positiv heranzutreten! Unter der Überschrift "Geflüchtete beim Kaninchenzüchter" berichtet die TAZ übers Crowdfunding-Projekt "Newscomer" u.a. Jessica "Wortwalz" Schobers, das "Flüchtlinge zu Lokaljournalisten" ausbilden möchte und von dem Sie hier im Altpapierkorb schon gelesen haben könnten. +++

+++ "Der Fernsehmarkt in Österreich ist ein Kuriosum", schreibt "Medien-Kommissar" (und Österreichliebhaber) Hans-Peter Siebenhaar im Handelsblatt. Es geht um ProSiebenSat.1' verschärften Einstieg in diesen Markt. +++ Aus deutscher Sicht auch kurios: die in Österreich bereits bestehende Presseförderung, die nun "auf 17 Millionen Euro mehr als verdoppelt werden" soll. "Selbst die der FPÖ nahestehende online-Plattform unzensuriert.at, die oft rechtsextreme Inhalte verbreitet, könnte gefördert werden" (TAZ). +++

+++ Browser-Erweiterungen wie noiszy.com, die "die Datensammelei von Google und Konsorten ad absurdum führen" könnten, stellt Michael Moorstedt (SZ-Digital/-Feuilleton) vor. +++

+++ Johannes Süßmann hat sich für epd medien die Leipziger Ausstellung "Inszeniert. Deutsche Geschichte in Spielfilmen" angesehen und ist nicht so begeistert. "Welchen Beitrag soll etwa eine im Themenraum 'Widerstand' ausgestellte Uniform leisten, die Tom Cruise als Graf von Stauffenberg im Film 'Operation Walküre' (2008) über das misslungene Hitlerattentat vom 20. Juli 1944 trug?" +++

+++ "Ihm ist da in vielem zuzustimmen und in seiner klugen Sprachkritik schimmert etwas von einem Sprachbewusstsein durch, das es so im gesamten Fernsehen – und also nicht nur in den Sportredaktionen – nicht mehr zu geben scheint." Doch "selbstverständlich ist der Text des Buchs nicht von jener Eitelkeit frei, die Marcel Reif vor allem in den letzten Jahren stärker und stellenweise auch am Mikrofon auslebte ...": Dietrich Leder hat das vom Fußballreportage-Veteranen gemeinsam mit Holger Gertz von der SZ verfasste Memoirenbuch "Nachspielzeit" gründlich gelesen (medienkorrespondenz.de). +++

+++ "Die lineare Ausstrahlung und die Abrufe über Digitalvideorekorder (DVR) der jeweils ersten sieben Tage nach Ausstrahlung einer Folge ergaben für die Staffel eine durchschnittliche Sehbeteiligung von rund 15 Mio Zuschauern". Das sind mehr als die meisten Münster-"Tatorte" haben! (ebd. geht's um einen US-amerikanischen Serien-Überraschungserfolg). +++

+++ Und "auch die saarländischen Kabelkunden haben ein Recht darauf, ihre saarländischen Lieblingsfernsehsendungen in hochauflösender Qualität schauen zu dürfen. Eine Zweiklassengesellschaft, aufgeteilt in Satelliten- und Antennenfernseh-Zuschauer auf der einen und Kabel-Zuschauer auf der anderen Seite, darf es nicht geben": So (klassen!-)kämpferisch hört man Rundfunkanstaltenaufsichtsgremien selten formulieren, nun aber den Rundfunkrat des kleinen SR. Es geht um Streit mit Vodafone-Kabel Deutschland.  +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.

 

 

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