Datenjournalismus als Tonnenideologie

Datenjournalismus als Tonnenideologie
Wer wissen will, wie das digitalisierte Mediensystem funktioniert, wird an diesem Montag fündig. Die Zahl der Enthüllungen steht im umgekehrten Verhältnis zur Aufmerksamkeitsfähigkeit des Publikums. An dieser Logik orientieren sich alle in den Medien. Niemand weiß das besser als Jan Böhmermann.

Nachts sind alle Katzen grau. Und man sieht vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Solche Sätze aus dem Poesiealbum der Publizistik sind von zeitloser Gültigkeit, wenigstens könnte man mit ihnen die Funktionsweise von Medien beschreiben. Es ist eine alte Erkenntnis von PR-Strategen, unangenehme Botschaften zu einem Zeitpunkt zu veröffentlichen, wenn die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch andere Meldungen gebunden wird. Sie tauchen nur noch im Ticker auf und werden anschließend sofort wieder vergessen. Damit hat man das wichtigste Gebot in digitalisierter Öffentlichkeiten erfüllt, den Anspruch auf Transparenz. Es gilt nämlich als tödlicher Fehler, wichtige Informationen und Fakten zu verschweigen. Damit bekommt die Berichterstattung schließlich erst ihre Durchschlagskraft, wenn sie auf Widersprüche oder gar offenkundige Lügen hinweisen kann. Es zerstört die Glaubwürdigkeit der betroffenen Akteure und damit ihren Handlungsspielraum. So gilt es mittlerweile unter PR-Leuten und Journalisten als gesicherte Erkenntnis, dass die meisten Akteure nicht an ihren Skandalen scheitern, sondern an ihrem Krisenmanagement. Mit dem rechtzeitigen Eingestehen unangenehmer Tatbestände ist somit viel zu erreichen. Danach läßt sich mit Recht sagen, man erführe nichts Neues. Und in digitalisierten Öffentlichkeiten nichts Neues mehr berichten zu können, schützt davor, das höchste Gut in unserem Mediensystem zu ruininieren: Die eigene Glaubwürdigkeit.

+++ Vor diesem Hintergrund muss man die Meldung dieses Wochenendes begreifen. Es geht um die Panamapapers. Den beteiligten Medien, mit der Süddeutschen Zeitung an der Spitze, ist damit ein echter Scoop gelungen. Obwohl unzählige Kollegen aus allen Herren Ländern beteiligt gewesen sind, bewies man sogar, wie Geheimhaltung heute noch funktionieren kann. Schließlich wunderte sich nicht nur der Rezensent in der FAZ über das Thema „Steueroasen“ bei Anne Will. So kann es nicht erstaunen, wenn heute in der Berichterstattung eine Art journalistische Tonnenideologie im Vordergrund steht. Es dominieren nicht nur bei turi die Superlative.

„Der "Süddeutsche Zeitung" legt die größte investigative Recherche aller Zeiten vor. Zusammen mit NDR, WDR und dem International Consortium for Investigative Journalists veröffentlichen die Münchner in der bisher größten grenzübergreifenden Kooperation von Medienhäusern ihre investigative Recherche Panama Papers über Offshore-Konten der panamaischen Kanzlei Mossack Fonseca. In den geleakten Akten des Unternehmens finden sich die Namen von zwölf aktiven oder ehemaligen Staatsoberhäuptern – darunter der isländische und der pakistanische Premierminister. Auf der Liste stehen 128 weitere Politiker und Fifa-Funktionäre. Auch 15 deutsche Banken oder ihre Töchter sind wohl in die Geschäfte verwickelt. "SZ", NDR, WDR und ICIJ werfen den Betroffenen "Sanktionsbrüche, Steuerhinterziehung und Geldwäsche" vor. Der Leak umfasst 11,5 Mio E-Mails, Urkunden, Kontoauszüge und Passkopien in der Größe von 2,6 Terabyte und übertrifft damit rein mengenmäßig die NSA-Enthüllung von Edward Snowden. Der Datensatz ist der "Süddeutschen Zeitung" im Laufe des vergangenen Jahres von einer anonymen Quelle zugespielt worden. An der Recherche waren 400 Journalisten aus mehr als 100 Medienunternehmen in rund 80 Ländern beteiligt.“

Die Medienrezipienten werden von der schieren Masse fast erschlagen. Damit ergeht es ihnen seit diesem Wochenende, wie den Kollegen der Süddeutschen Zeitung als sie erstmals mit dieser Datenflut konfrontiert worden waren. In einem Interview mit dem Falter geben Bastian Obermayer und Frederik Obermaier über ihr damaliges Problem Auskunft.

„Haben Sie von Anfang an strukturierte Datensuche betrieben oder erst einmal wie bei einer Google-Suche Namen abgefragt?

Frederik Obermaier: Die professionelle Antwort wäre: Natürlich sind wir von vornherein systematisch vorgegangen. Aber die Realität ist, dass am Anfang schon so eine Art von Google-Suche war.

Was waren denn Ihre ersten Abfragen?

Frederik Obermaier: Bastian ist Fan von 1860 München, der hat natürlich zuerst einmal die Funktionäre vom FC Bayern gesucht. Wir sind dann aber relativ schnell dazu übergegangen, Listen zu erstellen – zum Beispiel von allen deutschen Abgeordneten nach dem Krieg. Wir haben alle großen deutschen Skandale und die damals involvierten Briefkastenfirmen und Personen gesammelt.

Sind Sie auf diese Weise fündig geworden?

Frederik Obermaier: Wir haben Dutzende Deutsche gefunden. Aber wenn man auf der einen Seite den isländischen Premier, den ukrainischen Präsidenten und Spuren zu den größten Skandalen Lateinamerikas findet, fehlt einem deutschen Mittelstandsbetrieb die Relevanz.“

Damit beschreiben sie sehr gut, wie die öffentliche Rezeption funktioniert. Nämlich so, wie auch die beiden SZ-Kollegen mit den Datensätzen zuerst umgegangen sind. Es geht heute um die Suche nach den großen Namen. Dabei kann das politische Interesse im Vordergrund stehen („Putin“ statt „Poroschenko“), die großen Stars der globalen Unterhaltungsindustrie („Messi“) oder die denkbare Anknüpfung an schon bekannte Skandale („Fifa“). Dabei zeigt sich zugleich, wie die Wirkungsweise dieser Aufmerksamkeitsökonomie immer noch auf den nationalen Rahmen beschränkt bleibt. Wer interessiert sich schon bei uns für Indien? Hier kennen selbst gut informierte Zeitgenossen noch nicht einmal die Namen, die dort Schlagzeilen machen.

Diese Form der medialen Aufarbeitung ist zwangsläufig. Sie ergibt sich aus der Funktionslogik unseres Mediensystems, das letztlich auf die Reflexe der Mediennutzer reagiert. Ein Stichwort „Messi“ interessiert halt mehr als der unbekannte deutsche Mittelständler. Aber welche politischen Folgen wird dieser investigative Journalismus haben? Die Erwartung ist so zu beschreiben: Der öffentliche Druck dieser Enthüllungen soll die Politik zu Kursänderungen zwingen. Hier wird nämlich erneut deutlich, wie eine globale Elite zum eigentlichen Profiteur einer Finanzmarktarchitektur namens Globalisierung geworden ist. Aber das wird wohl nur gelingen, wenn man die Funktionslogik des Mediensystems nicht mit der politischen Debatte verwechselt. Denn in den Grundstrukturen ist dieses System schon seit Jahrzehnten bekannt.

Es begann in den frühen 1970er Jahren mit der Aushöhlung und anschließenden Abschaffung von Kapitalverkehrskontrollen. Die Politik entzog damit bewusst dem Nationalstaat (und damit sich selbst) die Kontrolle über die Finanzmärkte. Sie schuf damit die Privilegien einer global agierenden ökonomischen Elite, die diese Einladung, sich der nationalen Kontrolle zu entziehen, dankend angenommen hat. Solche Versuche gab es zwar auch schon vorher, sie waren aber mit einem hohen Aufwand verbunden. Das setzte ihnen institutionelle Grenzen. Diese Logik ist jedem Mediennutzer etwa aus der Straßenverkehrsordnung bekannt. Nicht nur die eigene Einsicht, sondern erst die Verbindung mit einer möglichen Sanktionierung sorgt für sein regelkonformes Verhalten. Über die Strukturen (und die Begründungen zugunsten oder zu lasten dieser globalen Finanzmarktarchitektur) zu reden, ist etwas anderes als sich an der Aufmerksamkeitsökonomie des Mediensystems zu orientieren.

Diese Enthüllungen werden also wie ihre Vorgänger wirkungslos bleiben, wenn sie sich nur an der Medienlogik orientieren. In der PR könnte man das sogar dazu nutzen, um die Glaubwürdigkeit der heute in den Schlagzeilen geratenen Akteure aus Panama zu retten. Dafür gibt es ein gutes Beispiel aus den Wikileaks-Enthüllungen über die Depeschen des amerikanischen Außenministeriums. Dort las man etwa in der SZ im Jahr 2010 folgendes über Guido Westerwelle:

„Wie aus einem Artikel des Spiegel hervorgeht, der die Dokumente neben der New York Times, dem britischen Guardian, der spanischen El Pais sowie der französischen Le Monde publiziert, beurteilen die Amerikaner vor allem Westerwelle kritisch. Kurz vor der Bundestagswahl im September 2009 heißt es demnach in einer Einschätzung des US-Botschafters Philip Murphy in Berlin zu dem FDP- Chef: "Er wird, wenn er direkt herausgefordert wird, vor allem von politischen Schwergewichten, aggressiv und äußert sich abfällig über die Meinungen anderer Leute." Seine "Ministerialen wundern sich in privaten Gesprächen mit uns immer noch, woher er seine politische Richtung bekommt". Murphy bezweifelt auch Westerwelles Interesse an Außenpolitik sowie dessen Sympathie für Amerika. "He's no Genscher" (Er ist kein Genscher), schrieb der Botschafter nach Washington.“

Davon war am Samstag in den Nachrichten über die Trauerfeier für Westerwelle natürlich nicht die Rede. Aber die Berichterstattung über die Wikileaks-Depeschen hatten sich eben an der gleichen Logik orientiert, wie heute die über die Panamapapers. Hans-Dietrich Genscher war übrigens an diesem Wochenende ebenfalls ein Thema.

+++ Aber so ist das in der heutigen Medienwelt. Wikileaks hat auch etwas mitzuteilen, aber es verschwindet im Ticker. So könnte es auch der ARD mit ihrer Dopingberichterstattung ergehen.

+++ Ob Jan Böhmermann die Panamapapers geschrieben hat? Er könnte sich damit in die öffentliche Debatte einbringen. Bestimmt findet sich jemand, der seine Meinung über die globale Finanzmarktarchitektur wissen will. Das war auch der Grund, warum er sich an einer Satire über den türkischen Präsidenten Erdogan versuchte. Böhmermann ist der Idealtypus im heutigen Mediensystem. Er orientiert sich nicht an Sachverhalten, sondern an den Reaktionen auf die Berichterstattung über diese: Das allein ist für ihn von Interesse. Es ist die Logik des pubertierenden Jugendlichen, der seine Grenzen in der Welt der Erwachsenen austestet. So verfasst er ein als Gedicht getarntes Elaborat über den türkischen Präsidenten Erdogan. Die Reaktion des ZDF ist mit der von Eltern vergleichbar. Der Junior hat Mist gebaut, entsprechend verhält sich der Sender. Der in Böhmermanns Unterhaltungssendung veröffentlichte Beitrag wird zurückgezogen, weil es nicht den „Qualitätsansprüchen des ZDF“ entspricht. Darum geht es Böhmermann aber auch gar nicht. Er will lediglich diese Reaktion erzeugen, weil sie wieder in einer Endlosschleife die bekannte Debatte auslöst. Was darf Satire? Ist es ein Einknicken vor dem Amtsinhaber in Ankara?

So freut sich Böhmermann über die Reaktionen und die dadurch ausgelöste selbstreferentielle Mediendebatte. Dieses Elaborat kann man aber noch nicht einmal ein Pamphlet nennen, weil es sich dabei um eine altehrwürdige literarische Gattung handelt. Es ist ein Machwerk, das schlicht nicht veröffentlichungsfähig war. Dafür trägt der Autor die Verantwortung. Das ZDF hat lediglich die Konsequenzen aus der publizistischen Verantwortungslosigkeit des Urhebers gezogen. Daraus jetzt eine Debatte über die Rolle der Satire oder den Umgang der Türkei mit der Pressefreiheit zu machen, ist grotesk. Vielmehr muss man sich fragen, warum ein Jan Böhmermann überhaupt auf die Idee kommt, so einen miserablen Text zu veröffentlichen. Es hat mit einem Mediensystems zu tun, das offensichtlich mittlerweile so funktioniert wie pubertierende Jugendliche, wenn sie ihre Grenzen zur Welt der Erwachsenen austesten. Niemand kennt sich damit so gut aus wie Jan Böhmermann.


Altpapierkorb

+++ Mittlerweile gibt es 356.000 Tweets zu den Panamapapers. In Island hat der Premierminister ein Interview zu diesem Thema abgebrochen und die Fifa ermittelt gegen den Ethikexperten in den eigenen Reihen. Die betroffene Anwaltskanzlei in Panama ist über das Datenleck empört. Das ist nachvollziehbar, schließlich ist die Weitergabe solcher Informationen ein Verrat von Betriebsgeheimnissen. Aber das ist vor allem deren Sicht der Dinge. Sie muss schließlich auch berichtet werden.

+++ Jens Berger macht bei den Nachdenkseiten auf ein anderes Problem aufmerksam. An welche Kriterien orientieren sich Journalisten in ihrer Berichterstattung, wenn sie aus dieser Datenflut relevante Daten auswählen müssen? Berger übersetzte dafür einen Artikel des Briten Craig Murray, der seine These so formulierte: Da rechnen Sie mal lieber nicht mit einer schonungslosen Offenlegung des westlichen Kapitalismus. Die dreckigen Geheimnisse der westlichen Unternehmen werden auch weiterhin verschlossen bleiben: „Erwarten Sie lieber Schüsse in Richtung Russland, Iran und Syrien und einige kleinere „Alibischüsse“ auf kleinere westliche Länder wir Island. Wahrscheinlich opfert man noch einen oder zwei greise britische Adlige – vorzugsweise welche, die bereits dement sind. Die Massenmedien – in Großbritannien der Guardian und die BBC – haben exklusiven Zugang zu den Datensätzen, die weder Sie noch ich sehen dürfen. Sie schützen sich sogar selbst davor, sensible Daten über westliche Konzerne zu erblicken, indem sie ausschließlich Datensätze untersuchen, die durch spezifische Suchfilter ausgewählt werden, wie die Verletzung von UN-Sanktionen.“ Es ist der Vorwurf der manipulativen Verwendung, der hier erhoben wird. So musste man sich tatsächlich darüber wundern, warum ausgerechnet Putin im Mittelpunkt der Berichterstattung steht. Dieses System ist integraler Bestandteil des globalen Finanzkapitalismus. Er wurde vom Westen entwickelt und ist somit bestimmt kein spezifisch russisches Problem. Darauf hinzuweisen, ist sinnvoll. Aber Murray praktiziert hier Verdachtsberichterstattung. Schließlich hat er keinen Zugang zu diesen Daten. Was er aber vor allem verkennt: In den vergangenen zehn Jahren hat die Politik durchaus auf diesen Skandal reagiert, so beim Umgang mit dem früher heiligen Steuergeheimnis. Wer sich etwa darüber wundert, warum über keine deutschen Fälle berichtet wird. Er sollte sich einmal die Zahl der Selbstanzeigen in Steuerverfahren ansehen. Sie sind mit den diversen Steuer-CDs steil angestiegen. Es war schon vor den Panamapapers mit weiteren Datenlecks zu rechnen. Insofern ist es nicht erstaunlich, wenn deutsche Fälle nicht mehr in der früheren Anzahl zu finden sind. Die Angst vor Entdeckung sorgte für weniger Fälle – und somit mehr Steuerehrlichkeit.

+++ Tilo Jung berichtet aus der Bundespressekonferenz. Die Bundeskanzlerin hat mit Erdogan über Jan Böhmermann geredet. Das ist grotesk. Sie kann zwar darüber wie jeder andere eine Meinung haben, aber hat ansonsten bei diesem Thema keine politischen Kompetenzen. Dem türkischen Staatspräsidenten steht aber in Deutschland der Rechtsweg offen, um sich gegen die Schmähkritik von Böhmermann zu wehren.

+++ In der ARD findet ein Themenabend zum NSU statt. Was daran das Positive ist? Diese Themensetzung ist bestimmt nicht der Aufmerksamkeitsökonomie, sondern der journalistischen Prioritätensetzung geschuldet.

+++ Ansonsten warten wir an diesem Tag auf die Bilder aus Griechenland über die Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei. Sie müssen interpretiert werden. Das ist sicher.

+++ Außerdem denkt der Spiegel bekanntlich über sich selbst nach. Wahrscheinlich aber heute vor allem über die Frage, warum er nicht die Panamapapers hatte.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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