Ein Maßnahmenstaat namens Türkei

Ein Maßnahmenstaat namens Türkei
An diesem Montag steht die Türkei im Mittelpunkt des Interesses. In Brüssel soll sie als Schleusenwärter in der Flüchtlingskrise eingestellt werden. Das betrachtet die Regierung in Ankara offensichtlich auch als Möglichkeit, um den demokratischen Meinungsbildungsprozeß zu kanalisieren.

Die Medien werden bis kommenden Sonntag nur ein Thema kennen: Die Landtagswahlen und die zweifellos spannende Frage, ob die heutigen Beschlüsse des EU-Sondergipfels mit der Türkei in Brüssel der Kanzlerin noch helfen werden. Darin könnte man einen Beleg für das Funktionieren unserer Demokratie sehen. Am Ende trifft der Wähler die Entscheidung. Über die Voraussetzungen einer lebendigen Demokratie informiert uns allerdings auch gerade die Türkei. Eine elementare Voraussetzung ist eine pluralistische Medienlandschaft. Aber wieso kommt man eigentlich im Spiegel auf die Idee, „Politiker und Journalisten“ sollten „Meinungen bündeln" und "Kompromisse möglich machen“?

+++ Endlich ist es soweit. In dieser Medienkolumne haben wir etwas Positives aus der Türkei zu berichten. Und das sogar vor dem heute in Brüssel stattfindenden EU-Sondergipfel mit dem türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davuto?lu. Dieser hat der europäischen Öffentlichkeit über die Justiz in seinem Land beruhigendes zu berichten. Sie handele nämlich unabhängig, so lesen wir nicht nur bei Zeit online.

„Die gegen die Zeitung ergriffenen Maßnahmen seien "sicher keine politischen, sondern rechtliche Vorgänge", sagte Davuto?lu während eines Staatsbesuchs im Iran in einer vom türkischen Fernsehen ausgestrahlten Reaktion. Die Türkei sei ein Rechtsstaat. Es komme für ihn oder einen seiner Kollegen daher nicht in Frage, sich in den Prozess einzumischen. Zugleich warnte der Regierungschef indirekt vor einer Unterwanderung der Türkei etwa durch die Hikmet-Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, zu der Zaman gehört. "Wir sollten nicht unsere Augen verschließen (...) vor einer parallelen Struktur innerhalb des Staates, die die Presse und andere Werkzeuge benutzt", um ihre Ziele durchzusetzen, sagte Davuto?lu.“

Es geht natürlich um die Vorgänge bei der türkischen Zeitung Zaman, die sich in eine lange Reihe von Maßnahmen einreihen, um die „Unterwanderung der Türkei“ durch ein „Werkzeug namens Presse“ zu verhindern. Es ist leider keine historisch neuartige Form der Dreistigkeit, die das Werkzeug Erdogans im Amt des Ministerpräsidenten in Ankara an den Tag legt. Was gerade passiert, kann man so zusammenfassen.

„Der politische Sektor bildet ein rechtliches Vakuum … . (…) Es fehlt jedoch in diesem Sektor eine auf publizierten und daher generell verpflichtenden verbindlichen Normen basierende Regelung des Verhaltens seiner Behörden und und sonstigen Exekutivorgane. Im politischen Sektor … gibt es weder ein objektives noch ein subjektives Recht, keine Rechtsgarantien, keine allgemein gültigen Verfahrensvorschriften und Zuständigkeitsbestimmungen – kurzum, kein auch die Betroffenen verpflichtendes und berechigtigendes Verwaltungsrecht. In diesem politischen Sektor fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen. Daher der Ausdruck >>Maßnahmenstaat<<..“

Das Zitat stammt aber nicht aus dem aktuellen Schrifttum über die Türkei, sondern ist dem „Doppelstaat“ von Ernst Fraenkel entnommen. Er beschrieb darin kurz nach der Machtübernahme der Nazis den Funktionswandel des Rechtssystems in Deutschland. Solche Generalklauseln, wie die „Unterwanderung der Türkei“ zu verhindern, oder mit einem abstrakten Terrorvorwurf zu argumentieren, sind typisch für Staaten kurz vor der Einführung einer Diktatur. Sie suggerieren, im alten Modus eines Rechtsstaates zu operieren. Das Ziel ist aber deren Abschaffung. Ercan Karakoyun drückt das so aus:

„Die Richter, die die Freilassung bewirkten, gelten inzwischen als Vaterlandsverräter. Seit der Zwangsübernahme dürfen auch die 250 „Zaman“-Mitarbeiter nur noch sagen und schreiben, was Erdogan nützt und gefällt. Dabei stand die „Zaman“ seit ihrer Gründung vor 28 Jahren für Vielfalt. In ihr publizierten Intellektuelle aus allen politischen Lagern der Türkei: Armenier, Kurden, Aleviten, Säkulare, Linke, aber auch Konservative. Dieses Mosaik der Meinungen spiegelte die Zeitung bis heute. Damit ist jetzt Schluss. Von Rechtsstaatlichkeit kann in der Türkei keine Rede mehr sein. Die Gewaltenteilung existiert nicht mehr. Und damit ist fortan unsichtbar, dass längst nicht mehr alle Türken sich von Erdogan vertreten fühlen.“

Die Türkei war historisch ein schwacher Rechtsstaat, der schon immer den Restriktionen politischer Einflußnahme ausgesetzt gewesen ist. Der Kemalismus hatte sich zwar am Vorbild europäischer Institutionen orientiert, aber deren geistigen Voraussetzungen konnten nicht einfach übernommen werden. Deutschland war ein gutes Beispiel dafür, welchen Gefährdungen diese ausgesetzt sein können. Aber in diesem Interview mit Can Dündar, Chefredakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“, wird deutlich, welche Fortschritte die Türkei in den vergangenen Jahrzehnten gemacht hatte. Das türkische Verfassungsgericht hatte die Freilassung Dündars angeordnet. Auf die Frage von Karen Krüger, es wären viele überrascht gewesen, dass es doch noch echte Richter am Verfassungsgericht gebe, antwortete Dündar:

„Es war wirklich eine Überraschung und ein sehr gutes Zeichen. Es wird immer deutlicher, dass es sogar Regierungspolitiker gibt, die sehr besorgt über die Richtung sind, die Erdogan eingeschlagen hat. Sie fangen an, ihn offen zu hinterfragen. Das ist ein guter Anfang.“

Der Konflikt mit der Presse ist damit mehr als nur der Kampf um die Meinungsfreiheit. Er ist das Symbol für die rechtsstaatliche Verfassung des ganzen Landes. Die Journalisten tragen diesen Konflikt aus, und zwar für die gesamte Gesellschaft. Ob der Maßnahmenstaat die Oberhand gewinnt – oder sich der Rechtsstaat zu behaupten weiß. Diese Frage wird in der Türkei selbst entschieden. Frau Krüger machte noch eine interessante Bemerkung. Offensichtlich war das Telefoninterview von den türkischen Diensten abgehört worden. Sie bemerkte dazu:

„Für Sie als türkischer Journalist gehört das zum Alltag, als deutsche Journalistin ist man nicht gewohnt, abgehört zu werden.“

Da sollte man sich nicht so sicher sein. Der Unterschied zwischen einem Maßnahmenstaat und einem Rechtsstaat besteht nicht darin, dass Dienste in Rechtsstaaten auf das Abhören oder andere illegale Aktivitäten verzichten. Sie können sich aber nicht auf Generalklauseln berufen, um diese rechtswidrige Praxis zu legalisieren. Polizei und Geheimdienste müssen ihr Handeln vor dem Recht und damit der kritischen Öffentlichkeit legitmitieren. Das führt keineswegs immer zu einer strafrechtlichen Sanktionierung ihres Handelns. Es schränkt aber ihre Handlungsfähigkeit ein. Insofern sollte jeder darüber nachdenken, was die Enthüllungen Edward Snowdens für uns bedeuten. Sie sicherten den Rechtsstaat vor einem drohenden Maßnahmenstaat, der sich mit der Generalklausel namens Terrorabwehr legitimierte. Um anschließend den Weg der Türkei einzuschlagen: Nämlich dieses Handeln auch noch rechtlich zu legalisieren.

Aber das traut sich wohl noch nicht einmal Donald Trump.

+++ In der Türkei wird somit deutlich, was eine freie Presse ausmacht. Sie ermöglicht den politischen Pluralismus und damit die Kontrolle einer ansonsten übermächtigen Exekutive. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern muss immer wieder neu erkämpft werden. Das bedeutet aber zugleich, sich auf die Folgen der digitalen Revolution einzustellen. Im Spiegel beschreibt Dirk Kurbjuweit diesen Wandel.

„Politik eignet sich in modernen Demokratien in einem Raum doppelter Repräsentation. Die Politiker vertreten ihre Wähler in den Parlamenten und und Regierungen. Zwischen den Wahlterminen kann das Volk über öffentliche Debatten Einfluß nehmen und wird dabei bislang zu einem großen Teil von den Medien repräsentiert … . In Wahrheit diskutieren zwei Eliten miteinander, Politiker und Journalisten. Sie wirken mitunter wie Mitglieder derselben Kaste, was nicht gut wäre, da die Medien die Politiker kritisch begutachten sollen. Das Internet hat diese Zweisamkeit aufgebrochen. Jeder kann jetzt mitdiskutieren. Das ist an sich ein Gewinn, aber in der Flüchtlingskrise entgleitet der Diskurs. Journalisten sind Torwächter … . Der Diskurs war damit gemäßigter, konstruktiver. Es gelang, bei allem Streit, Politikern und Journalisten ganz gut, Meinungen zu bündeln und Kompromisse möglich zu machen. Deutschland hat funktioniert.“

Aber stimmt die Vorstellung, Journalisten und Politiker als diskutierende Eliten zu betrachten, überhaupt? Das ist die klassische Vorstellung des Leitartiklers, der mit seinen Kommentaren der Politik kluge Ratschläge geben will. Aber das betraf eben nicht „die Journalisten“, sondern nur eine kleine Schicht Bonner Hauptstadtkorrespondenten, von Chefredakteuren und Herausgebern. Aber die Medien trafen in der alten Bundesrepublik auf eine Politik, die sich ihrer Verankerung in der Wählerschaft sicher sein konnten. So wie die Union im katholischen Milieu fest verankert war, war es die SPD in der klassischen Facharbeiterschaft. Es ging letztlich immer nur um eine vergleichsweise kleine Zahl von Wechselwählern, die den politischen Wechsel möglich machten.

Erst mit dem Wegbrechen dieser Milieus kamen Medien in eine andere Rolle. Plötzlich betrachteten sie sich als entscheidend, um eine politische Agenda durchzusetzen. Zuerst in der Debatte über den Reformstau in Deutschland in den 1990er Jahren, anschließend in der über die Agenda 2010. Sie bildeteten somit politische Konflikte nicht mehr ab, wie etwa noch in den frühen 1970er Jahren im Konflikt über die Ostpolitik. Vielmehr verstanden sie sich als sogenannte „Agendasetter“, was allmählich die Berichterstattung dominierte. Der Höhepunkt war die fast einhellige Unterstützung der Medien für einen Regierungswechsel im Wahlkampf von 2005. Umso überraschter war man allerdings anschließend über das Wahlergebnis gewesen, das fast in einem Debakel für die gegenwärtige Kanzlerin endete.

Die Krise des Journalismus begann zu diesem Zeitpunkt. Als das „Agendasettimg“ die Berichterstattung zu dominieren drohte. Er traf damals auf eine geschwächte Politik, die zusehens abhängiger von den klassischen Medien geworden war. Viele wichtige Medienakteure waren sich dieser Aufwertung ihrer Rolle durchaus bewusst. Es war aber eine kurze Epoche zwischen dem Niedergang der klassischen Volksparteien und dem Beginn der digitalen Revolution. Letztlich betraf es nur die Zeit zwischen den frühen 1990er Jahren und dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.

Vorher wären nämlich noch nicht einmal Rudolf Augstein oder Axel Springer auf die Idee Kurbjuweits gekommen: „Politiker und Journalisten“ sollten „Meinungen bündeln und Kompromisse möglich machen.“ In diesem einen Satz dokumentiert sich der Irrtum, dem manche Journalisten in den vergangenen Jahren aufgesessen sind.


Altpapierkorb

+++ Was lernen wir noch aus der Türkei? Auch ein Medienkonzern hat die Chance, sich weiter zu entwickeln. Wenigstens wenn man diesen Tweet des Welt-Korrespondenten Deniz Yücel richtig interpretiert. Dafür erweist sich die Regierung in Ankara als lernunfähig. Zuerst hat sie eine Demonstration von Frauen verboten, um sie anschließend mit Gummigeschossen aufzulösen.

+++ Die Debatte um Peter Sloterdijk geht auch weiter. Er hat in der aktuellen Zeit seinen Kritikern geantwortet. Zudem sich auf einer Veranstaltung in München geäußert, wie in der SZ zu lesen ist. „In der Öffentlichkeit herrsche inzwischen eine Überhitzung, >>wie man sie seit den Tagen der RAF-Bekämpfung in den späten Siebzigern nicht mehr gekannt hatte<<. In der >>Reflex-Polemik im Gewächshaus der diskutierenden Klasse<< sieht Sloterdijk in allen politischen Lagern aktuell eine Primitivierung und Barbarisierung am Werk, bei der unter kultivierten Masken plötzlich archaische Reflexe durchblickten. Den eigenen Kritikern wirft er darum vor, sich nach den Aussagen im Cicero wie Pawlowsche Hunde auf ihn gestürzt zu haben.“ Interessant ist der Hinweis auf die Debatte zur Zeit des RAF-Terrors. In Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“ gibt es eine interessante Auseinandersetzung mit dem Göttinger Mescalero-Brief. Die damalige Debatte über diesen Brief war von der gleichen „Reflexhaftigkeit“ gekennzeichnet, die Sloterdijk auch in seinem Zeit-Artikel diagnostiziert.

+++ Was in Deutschland gut funktioniert hat? Zeit online. Das ist ja schon einmal was. Das schließt natürlich nicht aus, in Zukunft bei der Welt auf freie Autoren verzichten zu wollen. Dafür funktioniert bei uns RT-Deutsch nicht so gut, wie ebenfalls bei Turi nachzulesen ist. Das ist aber auch wenig erstaunlich. Schließlich bleibt sogar laut SZ Pegida auf die klassischen Medien angewiesen, um sich am politischen Willensbildungsprozeß zu beteiligen. Außerdem hat es noch nie soviel Aufmerksamkeit für Druckerzeugnisse gegeben, wie im digitalen Zeitalter. So gibt es bei Roland Tichy regelmäßig Kritiken des aktuellen Spiegel oder des Focus.

+++ Dafür funktionieren Boulevardmedien wie Boulevardmedien. Laut Bild am Sonntag wollte sich Mark Zuckerberg nicht vom Chef des Berliner Flughafens persönlich begrüßen lassen. Das allein ist nicht besonders bemerkenswert. Zuckerberg hat wahrscheinlich erwartet von der Kanzlerin abgeholt zu werden. Aus den diversen Reaktionen in sozialen Netzwerken kann man aber auf die Perspektive von Journalisten schließen. Sie kritisierten nicht dier Unhöflichkeit des Dorfvorstehers Zuckerberg, sondern machten sich über den armen Tropf lustig, der wie ein begossener Pudel am Flughafen gestanden haben muss. Auch Journalisten neigen halt dazu, sich den Launen der Mächtigen zu unterwerfen. Warum der BER-Chef auf diese seltsame Idee kam, ausgerechnet diesen Fluggast begrüßen zu wollen, steht auf einem anderen Blatt Papier. Um einmal diese etwas antiquierte Metapher zu benutzen.

+++ Im Deutschlandfunk versuchte man in „Markt und Medien“ dem Medienphänomen Donald Trump auf die Spur zu kommen. Außerdem beschäftigte man sich dort mit den Veränderungen in der italienischen Medienlandschaft. Aber dort ist auch etwas über die grassierende Seuche zu lesen, die Politik mit den fiktionalen Formaten im Fernsehen zu verwechseln. "Das Leben in Washington ist viel langweiliger als im Fernsehen. Wenn Sie mir an einem ganz normalen Tag folgen würden, würden Sie mich erleben, wie ich in einem Raum sitze und Menschen in grauen Anzügen zuhöre. Und diese Menschen sprechen auch noch über Themen, die für spannendes Fernsehen nicht wirklich geeignet sind."

+++ Daher ist für das Fernsehen sicherlich auch nicht geeignet, was über den Umgang mit dem Fernsehen zu lesen ist. Zusammenfassend gesagt: Grassierender Lobbyismus.

+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? Der Ausblick auf die kommenden Landtagswahlen, hier von Stefan Aust. Wir hatten das heute Morgen ja schon geahnt.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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