„Recht auf Behaglichkeit“

„Recht auf Behaglichkeit“
So könnte man den Versuch der neuen polnischen Regierung zusammenfassen, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf Linie zu bringen. Sie verteidigt ihr Recht auf Behaglichkeit in einer komplexen Welt. Mit dieser Mentalität steht sie aber nicht alleine. Es infiziert zusehends Politik und Medien.

In diesen schnellebigen Zeiten sind 25 Jahre eine unvorstellbar lange Zeit. Schießlich ist das Erinnerungsvermögen von Medienrezipienten in den Zeiten der Aufmerksamkeitsökonomie kaum länger als die Haltbarkeit eines Tweets über den sonntäglichen Tatort. Aber im historischen Gedächtnis von Nationen sind 25 Jahre fast nichts. Es prägt ihr Selbstverständnis und bestimmt damit zugleich die Wahrnehmung aktueller Konflikte. In Deutschland ist etwa der Umgang mit dem Nationalsozialismus zu einer solchen Prägung geworden, die aber in internationaler Perspektive nicht verallgemeinert werden kann. Schließlich hat sich lediglich Deutschland selbst mit dieser Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die Katastrophe namens Nationalsozialismus war eine spezifisch deutsche Erfahrung gewesen.

Daran muss man man bisweilen erinnern, weil sich in Deutschland eine zunehmende Provinzialisierung des Denkens breit macht, die von den historischen Prägungen anderer Nationen keine Ahnung mehr hat. So sind im nationalen Gedächtnis der Polen die vergangenen 25 Jahre eine verdammt kurze Zeit. Es ist der Zeitraum, wo das Land tatsächlich so etwas wie nationale Souveränität erleben durfte. Bis dahin war es außer in der kurzen Zwischenkriegszeit zwischen 1919 und 1939 von der Erfahrung namens Fremdbestimmung geprägt worden. Dafür waren vor allem zwei europäische Großmächte verantwortlich: Deutschland und Russland. Das hat sich erst im Jahr 1990 mit dem beginnenden Zusammenbruch der Sowjetunion geändert. Seitdem ist Polen wieder für seine Entscheidungen selbst verantwortlich. Es muss nicht mehr erst in Moskau oder Berlin fragen, welche Politik es machen darf. Regierungsamtliche Ratschläge aus Berlin oder Brüssel, wie sich die Polen selbst zu regieren haben, könnten daher in Warschau allergische Reaktionen auslösen.

+++ Souverän ist somit auch der, der den größten Unfug verantworten darf, um das berühmte Wort eines verstorbenen Staatsrechtlers mit Wohnsitz Plettenberg (Sauerland) zu paraphrasieren. Die neue Regierung in Warschau liefert neuerdings Anschauungsmaterial, was damit gemeint ist. Nach der Herstellung faktischer Arbeitsunfähigkeit des polnischen Verfassungsgerichtes sorgt sich Warschau um die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Details findet man etwa in der taz. Es gab auch schon die ersten Rücktritte von Fernsehmachern in Polen, um dem drohenden Rauswurf durch die Regierung zuvorzukommen. In einem Interview mit der Bild hat der polnische Außenminister Witold Waszczykowski die Kritik der EU-Kommission am Umbau des polnischen Staates zurückgewiesen, so ist bei Zeit online zu lesen. „Das besonders umstrittene Mediengesetz solle den Staat "von einigen Krankheiten heilen". Unter der Vorgängerregierung sei ein bestimmtes Politik-Konzept verfolgt worden, so Waszczykowski, um anschließend mitzuteilen, was er darunter versteht.

"Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen – zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen polnischen Werten nichts mehr zu tun."

So kann man die Welt sehen. Der polnische Außenminister darf überhaupt die Welt so sehen, wie er es für richtig hält. Wenn Dummheit allerdings ein traditioneller polnischer Wert wäre, müsste Waszczykowski die Nationalhymne unseres Nachbarn neu formulieren. Dann wäre Polen tatsächlich verloren. Aber was hat dieser grobe Unfug mit den organisatorischen Veränderungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu tun? Dieser muss lediglich eines garantieren: Professionelle Standards in der Berichterstattung. Den Polen den Zugang zur Welt sicherstellen, damit sie sich ihre Meinung darüber bilden können. Es geht im Journalismus nicht um die Identitätsprobleme bemitleidenswerter Clowns, in welchen Ämtern diese auch gerade ihr Unwesen treiben. Der Außenminister unterliegt einem Kategorienfehler, wenn er über „traditionelle polnische Werte“ räsonniert. Der einzige Wert von Interesse ist in diesem Kontext die Meinungs- und Pressefreiheit.

+++ Aber niemand soll sich Illusionen hingeben. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk war schon immer und überall in Europa von den Okkupanten aus der Politik bedroht worden. Nicht nur in Frankreich und Italien galt er traditionell als Beute der gerade an der Macht befindlichen Parteien. Seine Unabhängigkeit zu schützen, ist somit keineswegs ein polnisches Problem. Deren Regierung ist nur der jüngste Fall, den es zu beklagen gilt. Die Neigung, die eigene Sichtweise mit professionellen journalistischen Standards zu verwechseln, ist kein Privileg polnischer Außenminister. Sie ist vielmehr ein institutioneller Konfllikt zwischen Politik und Journalismus in allen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten in Europa. Im ZDF darf man etwa Nikolaus Brender einladen, um über dieses Thema zu referieren.

Insofern gehört es zu den professionellen journalistischen Standards von Journalisten, der Kritik der deutschen Politik an Polen zu misstrauen. Diese wirft gerne im Glashaus mit Steinen. So hat die deutsche Politik in den vergangenen Monaten keine Gelegenheit ausgelassen, Polen ohne jede europarechtliche Legitimation die Kürzung von EU-Fördergeldern anzudrohen, um es in der Flüchtlingspolitik auf Linie zu zwingen. Das war nichts anderes als politische Erpressung, häufig mit publizistischer Unterstützung durch deutsche Journalisten. Das geschah übrigens auch mit Hinweis auf „Werte“, nur wurden diese „europäischen Werte“ halt anders interpretiert als neuerdings in Warschau die „traditionellen polnischen Werte“. Unter die Räder kommt der „Pluralismus“, den jeder in Europa zu schützen behauptet. Allerdings hat man überall die gleichen Schwierigkeiten, darunter auch jene Sichtweisen zu verstehen, die gerade nicht der eigenen Borniertheit entsprechen. Identitätsapostel findet man nicht nur in Warschau.

+++ Borniertheit ist kein polnisches Problem. Jochen Buchsteiner hat in der FAS am Sonntag beschrieben, wie dieser Ungeist das geistige und intellektuelle Klima in Europa vergiftet. Überall nimmt die Bereitschaft zu, im Namen der eigenen Meinungsfreiheit die aller anderen zu beschränken. Es gibt nur einen Unterschied. Während man in Warschau die traditionellen Werte verteidigen will, ist man nicht nur in Großbritannien im Namen ihrer modernen Variante unterwegs. Buchsteiner beschreibt das anschaulich.

„Begründet wird der Studentenprotest mit den immer gleichen Worten. Egal ob über Muslime oder Transsexuelle, Schwarze oder Frauen gesprochen wird – immer fühlen sich die Angesprochenen „offended“, also verletzt oder beleidigt. Sie argumentieren wie Lucy Delaney von der Oxford University Student’s Union, die an vorderster Front gegen den Auftritt Germaine Greers protestiert hatte: „Die Meinungen dieser Redner sind nicht kontrovers – sie sind gewalttätig.“ Gewalt, hieß es einmal, rechtfertige Gegengewalt. Die Studenten fordern einen „safe space“, einen Schutz- oder Sicherheitsraum, aber so, wie er definiert wird, läuft er dem Grundelixier der britischen Demokratie zuwider: der freien Rede. Der „Independent“ stellte kürzlich ein Glossar der neuen politischen Korrektheit zusammen und erklärte den Begriff so: „Safe spaces sollen frei von Diskriminierung, Belästigung und Hassreden gegen unterprivilegierte Gruppen wie Frauen, Schwule, Lesben, Bisexuelle, Transsexuelle und ethnische Minderheiten sein. ... Menschen können aus diesem Schutzraum entfernt werden, wenn ihre anstößigen Sichtweisen denselben bedrohen.“ In Cambridge pochten Studenten auf ihr <<Recht auf Behaglichkeit<<.“

Sie werden sich hassen, diese englischen Studenten und die polnischen Traditionalisten. Aber sie teilen ihre Sichtweise, den Meinungsstreit als einen Kriegsschauplatz zu betrachten, der mit der Unterwerfung des Feindes zu enden hat. Diese Mentalität von bemitleidenswerten Clowns aller Lager mit ihren Identitätsproblemen hat in den vergangenen Jahren an Terrain gewonnen. Sie infiziert zunehmend die Medien und die Politik. Dabei droht der einzige Wert auf der Strecke zu bleiben, der für Journalisten von Interesse ist. Es geht um die professionellen Standards einer fairen Berichterstattung, die sich nicht den Erwartungen eines Lagers unterwirft. Darum wird es im kommenden Jahr gehen. Den Versuch der Politik nicht nur in Polen abzuwehren, die Medien lediglich als Kriegsschauplatz für Glaubenskriege zu betrachten. Wer das machen muss? Die Journalisten selbst. Alle anderen Akteure sind notorisch unzuverlässig.


Altpapierkorb

+++ Ob der Tatort ein Teil der deutschen Identität geworden ist? Bisweilen kann man diesen Eindruck haben, wenn man den teutonischen Ernst registriert, mit dem über dieses fiktionale Format namens Kriminalfilm diskutiert wird. Tatsächlich schießen sich Beamte des Hamburger Landeskriminalamtes nicht den Weg aus einer Lagerhalle mit einer Bazooka frei, so nehmen wir einmal an. Auch eine Schlagersängerin namens Helene Fischer wird in der Wirklichkeit nicht dazu neigen, Worte über den menschlichen Sexualakt zu benutzen, die mit „f“ beginnen und aus vier Buchstaben bestehen. Wobei wir das natürlich auch nicht so genau wissen, sondern lediglich aus dem öffentlich vermittelten Bild der selten atemlosen Sängerin vermuten. Daraus ließe sich wiederum die Frage ableiten, was die Popularität von Frau Fischer über den Zustand des deutschen Kultur- und Geisteslebens aussagt. Jenseits dessen hat aber die ARD den Geist des Kapitalismus begriffen, wie dieser Tatort belegte. Siehe dazu spaßeshalber auch einen Rückblick auf das medienpolitische Schaffen in Großbritannien während der Ära von Margaret Thatcher. Die Presse wurde vorher nicht über Details informiert, um den Aufmerksamkeitspegel des Publikums ausreichend hoch zu halten. Zugleich wird der Zuschauer im Februar in das Kino gehen müssen, um die Fortsetzung dieser unendlichen Geschichte vom Kampf des Guten gegen das Böse im Hamurger Milieu zu erleben. Unter pekunären Aspekten eine hervorragende Idee. Man fragt sich nur, ob diese mit dem öffentlich-rechtlichen Programmauftrag identisch sind. Schließlich haben die Gebührenzahler ihre Gebühren nicht bezahlt, um sich trotzdem eine Kinokarte kaufen zu müssen, wenn sie Til Schweiger in seiner Rolle als Tatort-Kommissar weiterhin erleben wollen. Ansonsten war der künstlerische Eindruck dieses Kriminalfalls außergewöhnlich zu nennen. Das Entsetzen im Gesicht der Tagesschau-Sprecherin Judith Rakers bei der Geiselnahme im Studio von ARD-Aktuell war ein Höhepunkt der Schauspielkunst gewesen. Man bemerkte sofort die Fiktionalität, was jede Verwechslungsgefahr mit der Wirklichkeit ausschloß.

+++ Aber Til Schweiger hat uns dafür mitgeteilt, warum er diesen Tatort für bahnbrechend hält. Nein, sogar für den „bahnbrechendsten seiner Art!“. Das hätte noch nicht einmal Chuck Norris hinbekommen, um das einmal so zu formulieren. Außer den Einsatz einer Bazooka natürlich. Der gehört in diesem Genre bekanntlich zum guten Ton.

+++ Ob unser Erinnerungsvermögen noch funktioniert, wissen wir nicht, wenigstens wenn wir den aktuellen Spiegel lesen. Dafür hat sich aber Dietrich Leder in der Medienkorrespondenz mit der Begeisterung für amerikanische Serienproduktionen unter Deutschlands Fernsehkritikern beschäftigt. Er nutzte das für einen Rückblick, der vor allem eines deutlich macht. Warum eine historische Perspektive sinnvoll ist, etwa um Chuck Norris nicht mit Til Schweiger zu verwechseln, selbst wenn Letzterer zum Chuck Norris unter den Tatort-Kommissaren geworden sein sollte. Aber Leder zeigt, wie das kulturelle Gedächtnis in der Praxis funktioniert, nämlich durch Vergessen: „Um dies an einem Beispiel zu erläutern: Claudius Seidl, Feuilletonchef der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ (FAS), hat am 17. Mai 2015 in einem Artikel unter der Überschrift „Das böse Wort Kultur“ mit guten Argumenten und satten Pointen gegen die allzu mechanische Verteidigung deutscher Kultur im Rahmen der Diskussion um das transatlantische Handels- und Investmentabkommen TTIP polemisiert. In seinem Überschwang watschte er gleich auch die öffentlich-rechtlichen Anstalten ab, die „ihre Quote ausschließlich dort holen, wo sie am leichtesten zu bekommen ist: bei denen, die zu alt zum Ausgehen, zu sehschwach fürs Lesen dicker Bücher sind“. Er fährt mit einer noch allgemeineren Polemik fort: „Während das kulturell aktivere Publikum längst vergessen hat, wozu, außer um ‘House of Cards’ zu sehen, dieser rechteckige Bildschirm im Zimmer steht.“ Seidl brachte also mit rhetorischem Aplomb eine dieser besonderen US-Serien gegen das öffentlich-rechtliche Fernsehen wie das Fernsehen insgesamt in Stellung. Das hat eine gewisse Überzeugungskraft, denn wer wäre von „House of Cards“ mit Kevin Spacey als Frank J. Underwood nicht begeistert? Dumm nur, dass eben diese US-Produktion eine zwar regional modifizierte, aber in der Erzählung wie Erzählweise treue Kopie des britischen Originals ist, dessen erste Staffel die BBC 1990 nach einem Roman von Michael Dobbs und mit Ian Richardson in der Hauptrolle produzieren ließ und welche die ARD 1992 in einer guten Synchronfassung übernahm. Woraus man schließen kann, dass „kulturell aktivere“ Bundesbürger, zu denen wir Claudius Seidl ohne Zweifel zählen dürfen, entweder schon 1992 das Fernsehen so verachtet haben wie heute oder – was wahrscheinlicher ist – dass sie einen großen Teil ihrer Fernseh- und damit Serien-Erfahrung vergessen oder verdrängt haben.“ Wenn das Til Schweiger wüsste. Oder Chuck Norris.

+++ Was jetzt nicht mehr fehlt? Die Einschaltquoten für den Tatort mit Til Schweiger.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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