Orte kindlicher Glückseligkeit

Orte kindlicher Glückseligkeit
Heute reden wir über die Frage, was 13jährige in den vergangenen 70 Jahren so beschäftigt hat. Von Wolf Schneider über Thomas Gottschalk bis Dagi Bee reicht unser Panoptikum der Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung. Dazu lesen wir Herbert Marcuse als Medienkritiker.

Die erstaunlichste Autobiographie der Literaturgeschichte stammt vom Turner Florian Hambüchen. Er veröffentlichte sie schon im zarten Alter von 23 Jahren. Ansonsten sind Memoiren bis heute das Genre vor allem älterer Herren geblieben, die uns Nachgeborenen an ihren Lebenserfahrungen teilhaben lassen. So geschehen am vergangenen Wochenende. Nun kann die Generation von Hambüchen nur Sex beichten. Ansonsten ist in ihrem Leben nicht viel passiert. Da hat Wolf Schneider in seinem Werk mehr zu bieten, wie wir schon am Freitag erwähnten. Er berichtet (oder plaudert?) bei Spiegel online über seine frühere Beziehung zum verstorbenen „Führer und Reichskanzler“, wie man ihn damals nannte:

„"Treue" ist übertrieben. Hitler bewundert habe ich von 13 bis 15, das war ja so üblich. Der Anteil der 15-Jährigen, die Hitler verehrten, dürfte damals nahe 90 Prozent gelegen haben.“

Angesichts der Niederlage vom 8.Mai 1945, von Befreiung mag Schneider bis heute nicht reden, dachte er sogar daran, sich „mit der Dienstpistole bei Mondlicht zu erschießen.“ Man mag sich gar nicht vorstellen, wie sich der deutsche Journalismus ohne seinen großen Lehrmeister entwickelt hätte. Wahrscheinlich hätte er nie gelernt, Bücher so zu lesen wie Stefan Niggemeier in der FAS.

"Wolf Schneider berichtet, wie das Blatt trauerte: „Wenn irgendein Prominenter Mallorca den Rücken kehrt, ist das nicht gerade eine gute Nachricht für die Insel. Wenn aber Wolf Schneider geht, ist es eine mittlere Katastrophe.“ Man kann sich kaum ausdenken, wie viel Überwindung es ihn gekostet haben muss, auch das noch zu zitieren. Obwohl es fast peinlich ist."

+++ Neben Wolf Schneider hat auch Thomas Gottschalk seine Lebenserinnerungen vorgelegt. Sie erscheinen heute. Der Entertainer gehört zu jener Generation, die Schneider in dem Interview so charakterisiert:

"1968 ist das Dümmste, was seit 1945 in Deutschland geschehen ist – zu dieser Behauptung stehe ich bis heute. Diese totale Infragestellung aller Autorität, das Auf-den-Thron-Setzen von Marx, Marcuse und Wilhelm Reich, der selbst noch den richtigen Orgasmus als Weg zur politischen Befreiung predigte. Ein geballter Unsinn."

Schneider meinte damit allerdings die "marxistische Keulenriege", die damals so ihr Unwesen trieb, häufig sogar ohne jemals eine Zeile von Marx gelesen zu haben. Ein Privileg, das sie aber mit manchen ihrer Kritiker teilten. Diesen Vorwurf kann man Gottschalk bekanntlich nicht machen: Er ist bisher nie als Kritiker von Marcuse oder Reich aufgefallen. In seiner Berufslaufbahn hat er auch niemals versucht, das Unterhaltungsgeschäft etwa mit einem Klassenstandpunkt zu vereinbaren, dem immerhin Schneider das korrekte Deutsch einzutrichtern versuchte. Gottschalk steht vielmehr für die Profanität jenes Nachkriegskapitalismus, den der erwähnte Herbert Marcuse in "Der eindimensionale Mensch" so charakterisierte:

"Hier zeigt die sogenannte Angleichung der Klassenunterschiede ihre ideologische Funktion. Wenn der Arbeiter und sein Chef sich am selben Fernsehprogramm vergnügen und dieselben Erholungsorte besuchen, ... dann deutet diese Angleichung nicht auf das Verschwinden der Klassen hin, sondern sondern auf das Ausmaß, indem die unterworfene Bevölkerung an den Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat, die der Erhaltung des Bestehenden dienen."

Keine Ahnung, ob Gottschalk das damit meinte, wenn er in dem FAS-Interview sein Leiden an der Fernsehkritik offenbarte. Sie wusste seine Haarpracht nicht zu schätzen. 

"Ihr Beruf und Ihre Gabe: „Auf Glatzen Locken drehen“, schreiben Sie. Karl Kraus hat das Bild benutzt, um Feuilletonisten zu charakterisieren und zugleich zu verspotten. Sehen Sie sich als geheimen Feuilletonisten? Im Gegenteil, ich hatte immer das Problem mit den Feuilletonisten, dass sie mir die Glatze vorwarfen, statt mich für die Locken zu loben. … . Ich habe meinen Job immer als ein Feuerwerk verstanden, das die Menschen erfreut und dann sofort verglüht. Dass sich nach dem letzten Böller einer hinsetzt und mit gerunzelter Stirn die bunte Knallerei noch mal hinterfragt, hat mich immer genervt, weil ich wusste, dass bei der Sinnsuche nicht viel herauskommen konnte."

Wie die "unterworfene Bevölkerung" an diesen obskuren "Bedürfnissen und Befriedigungen" wieder teilhaben kann, ist das große Thema der Samstagabend-Unterhaltung. Immer weniger "Arbeiter und deren Chefs" sind bereit, in solchen Formaten wie das verblichene "Wetten dass" jenen Sinn zu erkennen, den außer Philosophen wie Herbert Marcuse allerdings bisher niemand finden konnte. Noch nicht einmal Schneider, der uns wie kein anderer lehrte, auf jeder Glatze die berühmten Locken zu drehen.

+++ Gottschalk benennt in dem FAS-Interview zudem jene prägenden Kindheitserlebnisse, die im Gegensatz zu Schneider schon ohne Hitler auskommen musste. "Das Schwimmbad meiner Heimatstadt", so der TV-Moderator, sei in seiner Erinnerung "ein Ort kindlicher Glückseligkeit". In früheren Zeiten besuchten Jugendliche diese Schwimmbäder sogar bei Mondlicht, wenn auch ohne Badehose und (hoffentlich) Dienstpistole. Aber was prägt eigentlich die heutige junge Generation, die nicht mehr von Großvater Gottschalk und Ur-Großvater Schneider in die Geheimnisse des Lebens eingeweiht wird? Sie schaut YouTube. Der erwähnte Niggemeier hat diese seltsame Welt der ergrauten Leserschaft der FAS zu erklären versucht. Mutmaßliche Kernzielgruppe der meisten Youtuber seien "dreizehnjährige Mädchen. In Wahrheit sind manche der Fans natürlich auch schon 14 oder 15 oder sogar Jungs."

Diese Mädchen beschäftigen sich übrigens recht häufig mit jenem modernen Obskurantismus, den etwa Bianca Heinicke, 22, verkörpert. Ihre Schmink- und Schönheitstipps werden regelmäßig von mehr als einer Million 13jähriger Mädchen gesehen. Ihr Künstlername ist Dagi Bee und Treffen mit der Beauty-Queen "führten schon mehrmals zu Massenpaniken mit Verletzten. Dank eines Systems mit kostenlosen, auf mehrere tausend Exemplare begrenzten Tickets soll nun ein gefahrloser persönlicher Kontakt möglich sein." Kosmetik als Verblendungszusammenhang, den man sogar ohne genauere Kenntnis der marxistischen Gesellschaftsanalyse auf Anhieb versteht, ist immer noch ein Desiderat in der zeitgenössischen Medienforschung. Dafür verstehen ihn sogar Männer, wenn sie auf ihre Frauen warten.

In diesem Panoptikum von Schneider bis Dagi Bee werden 70 Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte erkennbar. In den beiden kommenden Wochen wird wieder mit einem medialen Großaufgebot an die Kapitulation unserer Eltern, Groß- und Ur-Großeltern am 8. Mai 1945 erinnert werden. Das können wir uns jetzt sparen. 1943 war die libidinöse Energie von Mädchen und Jungen an Hitler gebunden. Die Generation des 1950 geborenen Gottschalk zehrte 1963 wahrscheinlich schon von Kindheitserinnerungen an das Schwimmbad als "Ort der Glücksseligkeit", selbst wenn ihr das bis zu Gottschalks heute erscheinenden Memoiren verborgen geblieben sein sollte. Heute absorbieren Dagi Bee und Kollegen die genannten Energien der Teenager, die in der Beziehung bei heutigen Spitzenpolitikern zum Glück nicht fündig werden. Alles in allem ist darin ein historischer Fortschritt zu erkennen. Oder will wirklich jemand wieder eine Situation erleben, wo sich 20jährige darüber Gedanken machen, ob sie sich wegen einer politischen Katastrophe mit der Dienstpistole erschiessen sollen? Dann lieber die medialen Belanglosigkeiten einer im weltweiten Vergleich privilegierten Wohlstandsjugend ertragen, selbst wenn sie einem auf die Nerven fallen. Auf diesen Glatzen kann aber noch nicht einmal Wolf Schneider Locken drehen. Er scheiterte allerdings schon an den technischen Voraussetzungen: Schneider kann keinen Computer bedienen.

+++ Insofern hat Schneider einen Vorteil: Er wäre vor dem BND und der NSA in Sicherheit, wenn denn andere Institutionen keine digitalen Spuren über ihn hinterließen. Angesichts neuer Hinweise auf die geheimdienstliche Agententätigkeit des BND zugunsten einer auswärtigen Macht ist aber wohl nichts mehr auszuschließen. Wie der Regierungssprecher im Auftrag der Bundesregierung damit umgeht, hat Tilo Jung gut zusammengefasst. Steffen Seibert drückt sich verständlich aus und bildet aus Worten vollständige Sätze. Auf der politischen Glatze der Kanzlerin solche Locken zu drehen, hat sich seit Edward Snowden als eine hohe Kunst erwiesen. Der gelernte Journalist Seibert machte seine Ausbildung übrigens nicht bei Wolf Schneider, sondern beim ZDF.


Altpapierkorb

+++ Wie Vox am Samstag an den 8. Mai 1945 erinnerte, beschreibt Ursula Scheer in der FAZ. Seltsamerweise fehlte etwas, was in diesem Sendemarathon eigentlich genug zur Verfügung stand: Zeit. "All das sendet Vox an einem Stück weg, einen halben Tag lang, und zwar am heutigen Samstag von 12 Uhr mittags an bis um Mitternacht. Zweite-Weltkriegs-Binge-Watching, sozusagen. Es stellt sich nur die Frage: Wozu? Um Zuschauer ganz eintauchen zu lassen? Um den Panorama-Effekt voll zum Tragen zu bringen? Um den im Kern so oder so ähnlich schon vielfach erzählten Geschichten zu neuer Wucht und Dringlichkeit zu verhelfen, auch noch siebzig Jahre danach? Doch für all das hätte sich diese nur der Ankündigung nach episch auftretende Dokumentarfilm-Fülle etwas nehmen müssen, an dem es ihr auf paradoxe Weise mangelt: Zeit."

+++ Über die Probleme bei der Vergangenheitsbewältigung erfahren wir auch etwas von Dieter Hallervorden. Er bekam in Wien einen Fernsehpreis namens Romy. In seiner kurzen Dankesrede formulierte er einen denkwürdigen Satz: „Und morgen führe ich die Romy heim ins Reich.“ Das sorgte im Publikum für einige Irritationen. Aber in Wirklichkeit hat Hallervorden nichts anderes gemacht als die historische Erinnerung aufzufrischen, die mit dieser Formulierung verbunden ist. Offenkundig ist diese noch nicht so bewältigt, um über diesen Satz angesichts seiner Ironie befreiend zu lachen. Oder glaubt wirklich jemand, Hallervorden könnte den Anschluss Österreichs an die Bundesrepublik Deutschland fordern?

+++ Auch wenn die Ukraine aus den Schlagzeilen ist. Dort geht der Kampf um die Deutungshoheit weiter, wie wir bei "Töne, Texte, Zeichen" im WDR hören können. Zum Absturz von MH 17 außerdem ein Feature auf WDR 5 und heute in der ARD ab 22:45 Uhr eine Dokumentation. Der Rechercheverbund WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung weiß alle Kanäle zu nutzen. Um das Thema Ukraine ging es auch in dem Interview von Marco Herack mit der ARD-Korrespondentin Golineh Atai.

+++ Was die digitale Kommunikation für Folgen hat, erläuterte gestern Harald Welzer auf WDR 2. Ansonsten sucht Saskia Esken im Tagesspiegel nach Chancen für die digitalen Bildung. "Digitale Bildung meint also nicht etwa die Digitalisierung von Lernprozessen, sondern deren qualitative Veränderung durch den sinnvollen und gezielten Einsatz digitaler Medien. Digitale Lernangebote können den das Lernen begleitenden Menschen niemals ersetzen. Die Rolle der Pädagogen, der Medien- und der Fachdidaktiker wird es auch in Zukunft sein, optimale Bedingungen für erfolgreiche Lernprozesse zu schaffen und diese durch soziale Beziehung positiv aufzuladen. Digitale Medien und innovative Ansätze wie der „Flipped Classroom“, der die Inputphase des Lernens nach Hause und stattdessen Vertiefung, Transfer und individuelle Begleitung ins Klassenzimmer verlagert, unterstützen sie dabei." Was die Digitalisierung von Lernprozessen konkret bedeuten kann, beschreibt Yassin Musharbash auf Zeit online: Flüchtlinge buchen über Facebook.

+++ Die Kernkompetenz zum Umgang mit diesen Medien ist die Fähigkeit zum Einordnen von Sachverhalten. Dazu hat Sascha Lobo im Spiegel den Essay "Wir Live-Gläubigen" geschrieben. Es geht um Meerkat und Periscope als Live-Streaming-Apps. Man sollte beim Umgang mit digitalen Medien den Faktor Zeit mehr berücksichtigen: "Eine Gefahr für die Öffentlichkeit liegt woanders. Denn die Einordnung von Informationen ist nach wie vor die wichtigste Eigenschaft der profesionellen Medienlandschaft. Recherche, Vergleich, Abwägung, Beurteilung, Einordnung sind die Wege zur Antwort auf die Frage "Warum?". Aber Einordnung braucht Zeit, und Echtzeit kann alles, außer sich Zeit lassen. Und so verstärkt das Smartphone-Streaming einen Trend, der schon jetzt verstört, die mediale Ersetzung von Hintergrundwissen durch rohe Live-Information."

+++ Ansonsten gibt es heute von einer Großrazzia bei Ippens zu berichten und über ein Verfahren gegen einen RTL-Manager. Außerdem im Tagesspiegel über die "Prenzlauer Berg Nachrichten" in der Krise.

+++ Was nicht mehr fehlt? Der Versuch der Sun, die Pressefreiheit zu sichern. Außerdem das Interview der Welt am Sonntag mit Wolf Schneider.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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