Muss eine Zeitung einen Gastkommentator aus dem Politikbetrieb vor sich selbst schützen? Außerdem: „Unverständnis“ bei öffentlich-rechtlichen Redakteuren über die Katzbuckelei ihrer Granden vor dem Verlegerverband.
Die niederrheinische Stadt Korschenbroich fand in den Medien bisher vornehmlich Erwähnung im Zusammenhang mit einem gewissen Hans-Hubert Vogts. Hier nämlich lebt der gute Mann, wenn er nicht irgendwo auf der Welt Fußballmannschaften trainiert. Vogts haftete immer etwas Provinzielles und Biederes an, doch verglichen mit Ansgar Heveling, jenem „jungen, unerfahrenen und überaus wohlgenährten CDU-Abgeordneten“ (Carta) bzw. „Träger der Ehrenmedaille der Bundeswehr“ (ebd.), der gestern dafür sorgte, dass die Stadt irgendwie ins Gespräch kam, ist der früher als Terrier bezeichnete Coach ein sehr cooler Typ. Man redet wieder über Korschenbroich, weil der dort lebende Heveling für das Handelsblatt den „mit Abstand lustigsten Text über Netzpolitik in letzter Zeit“ (netzpolitik.org) verfasst hat, der aber, weil nicht jedermann darüber lachen konnte, auch einen Fäkalienwirbel auslöste (womit probeweise mal eine deutsche Übersetzung für „Shitstorm“ eingeführt sei). Hevelings Text, reich an auf durchaus beeindruckende Art missglückten Metaphern, ist eine Art Kriegserklärung an die „Netzgemeinde“:
„Das Web 2.0 wird bald Geschichte sein. Es stellt sich nur die Frage, wie viel digitales Blut bis dahin vergossen wird. Denn es ist Aufmerksamkeit geboten. Auch wenn das Web 2.0 als imaginäres Lebensgefühl einer verlorenen Generation schon bald Geschichte sein mag, so hat es allemal das Zeug zum Destruktiven. Wenn wir nicht wollen, dass sich nach dem Abzug der digitalen Horden und des Schlachtennebels nur noch die ruinenhaften Stümpfe unserer Gesellschaft in die Sonne recken und wir auf die verbrannte Erde unserer Kultur schauen müssen, dann heißt es, jetzt wachsam zu sein. Also, Bürger, auf zur Wacht!“
Geschrieben hat Heveling den Text offenbar, um das Urheberrecht zu verteidigen, das von „digitalen Maoisten“ angegriffen wird. Man hätte nun zumindest hoffen dürfen, dass kein Urheberrechtsverteidiger auf die Idee kommt, dem CDU-Mann beizuspringen, aber Springers Spitzendenker Christoph Keese hat es dann doch getan. Eine Parole Hevelings im Kampf gegen die „Maoisten“ bzw. gegen oder für was auch immer lautet:
„Bürger, geht auf die Barrikaden und zitiert Goethe, die Bibel oder auch Marx.“
Ein Christdemokrat will also mit Marx gegen die Maoisten kämpfen. Früher, in postmodernen Zeiten, hätte man Hevelings Abhandlung vielleicht unter „Anything goes“ einsortiert. Was hat der „lustige Remix aus Konterrevolutionsrhetorik und Schützenfestvogelschuss“ (taz) bzw. „torkelnde Rundgang durchs Hohlspiegelkabinett“ (Spiegel Online) im einzelnen nach sich gezogen? Hevelings Website war zwischenzeitlich gehackt, außerdem entstand schnell das Mem #hevelingfacts. Einen wochenschauesken Film zum Handeslsblatt-Text gibt es auch schon (von Marius Sixtus). Darüber hinaus hat atomazing.net in Hevelings Artikel „ein paar Worte ausgetauscht“, womit das Ganze nun einen anderen Sinn ergibt. Auch Thomas Knüwer (Indiskretion Ehrensache) hat den Text ein bisschen umgeschrieben. Die Berliner Zeitung betont, dass man die Causa nicht nur unernst sehen sollte:
„Auch wenn die Netzgemeinde über die verbalen Fehlgriffe von Heveling gut lachen hat - bedenklich bleibt, dass der Büttenredner der CDU/CSU-Fraktion in der Enquete-Kommission ‚Internet & Digitale Gesellschaft‘ sitzt.“
Der bereits erwähnte Ex-Handelsblatt-Redakteur Knüwer bringt in einem weiteren Artikel noch einen anderen Aspekt in Spiel. Heveling sei „eine arme, vom Handelsblatt missbrauchte Sau“:
„Der Abdruck des unfassbar dummen Textes von Heveling ist nichts anderes als der Versuch des Handelsblattes, die Klick-Zahlen nach oben zu treiben.“
Man hätte Heveling „vor sich selbst beschützen“ müssen, meint Knüwer. „So etwas gehört auch zur journalistischen Integrität.“ Da dies nicht geschehen sei, agiere das Handelsblatt „keinen Deut besser als Bild oder Express”. „Alles in allem“ habe die Zeitung einen „weiteren Schritt in Richtung Boulevard“ gemacht. Dass es zu den Aufgaben von Zeitungen gehört, Politiker vor sich selbst zu schützen, ist eine ziemlich putzige These. Heveling selbst bezeichnet, womit wir wieder bei der Komik wären, seinen Artikel gegenüber der SZ als „prononcierten Diskursbeitrag".
[listbox:title=Artikel des Tages[Die Causa Heveling ist nicht nur witzig (Berliner Zeitung)##Öffentlich-rechtliche Redakteure verstehen ihre Bosse nicht mehr (taz)##News Corp. befindet sich im Krieg mit sich selbst (Guardian)]]
Wegen mangelnder Kompetenz in Sachen Internet hat auch ein anderer Politiker gerade ein Problem: Die FR hat entdeckt, dass der hessische Innenminister und Frankfurter CDU-Oberbürgermeisterkandidat Boris Rhein (für Menschen außerhalb Hessens: hier eine möglicherweise nicht repräsentative Einführung) bei Facebook „kurzzeitig mit einem Rechtsextremisten befreundet“ war. Dabei war Rhein doch „erst am 14. Dezember dem Sozialnetzwerk beigetreten“, Dass der Politiker „in die Facebook-Falle“ getappt sei, dient der FR als Aufhänger für eine Betrachtung des sozialen Netzwerks Im OB-Wahlkampf.
[+++] Angesichts der Dominanz der Causa Heveling wird einem auch bewusst, welche Themen heute in den Hintergrund geraten sind. Der gestrige Artikel der taz, der sich auf eine geplante „Absichtserklärung“ bezog, aus dem hervorgeht, dass sich ARD und ZDF dem BDZV zu unterwerfen gedenken und online auf eine „eigenständige redaktionelle Berichterstattung nur in Textform“ zu verzichten bereit sind, dass die Öffentlich-Rechtlichen sich de facto also von der Zukunft im Netz verabschieden und sich damit ihr eigenes Grab schaufeln wollen - diesen Artikel (siehe Altpapier vom Montag) greifen die größeren Blätter heute nicht auf. Die taz selbst aber dreht ihn weiter:
„Für viele öffentlich-rechtliche Redakteure ist die Politik von ARD und ZDF unverständlich: Schließlich hatte der Richter beim von acht großen Verlagen gegen die ‚Tagesschau‘-App angestrengten Prozess schon zum Auftakt im Oktober durchblicken lassen, dass Angebote wie tagesschau.de nebst App rechtlich in Ordnung gingen. (...) ARD-Juristen mögen sich aktuell auch dazu nicht äußern. Einige von ihnen, heißt es intern, sorgten sich, weil der Senderverbund hier klare Rechtspositionen preisgebe und Angebote aufgeben oder einschränken würde, die zu seinem Auftrag gehörten.“
Wenn man bedenkt, dass sich zumindest beim ZDF, inspiriert von österreichischen Verhältnissen, bereits aus anderen Gründen zaghaft Widerstand regt (siehe ebenfalls Altpapier): Ist es eigentlich realistisch, dass das Unverständnis der Redakteure über das suizidale Vorhaben ihrer Granden in massiven Protest mündet?
Altpapierkorb
+++ Michael Hanfeld (FAZ) hat eine bizarre Pressemitteilung des ZDF gelesen. Die beginnt so: „Die Mehrheit der Deutschen will eine Lizenz zum Töten auch für die deutschen Geheimdienste. Zu diesem Ergebnis kommt eine repräsentative Exklusivumfrage der Forschungsgruppe Wahlen.“ Was die Forschungsgruppe Wahlen so alles erforscht! Hanfeld fasst zusammen: „54 Prozent der Befragten bejahen die Frage. Bei den Jüngeren bis zum Alter von 24 Jahren, schreibt das ZDF, ‚akzeptieren‘ sogar siebzig Prozent ‚Killerkommandos‘. (...) Warum aber stellt das ZDF solche Fragen? Um die heute laufende Dokumentation ‚Der Spion, den ich liebte‘ zu bewerben.“ Dass besagter Film etwas taugt, kann man angesichts derartiger PR wohl ausschließen.
+++ SZ-Feuilletonchef Andrian Kreye spannt auf der Meinungsseite einen Bogen von den neuen restriktiven Social-Media-Regeln, die der FC Bayern für seine Spieler aufgestellt hat, zur Debatte über die Nutzungsbedingungen von Google und zur Facebook-Timeline. Das Fazit des Textes begreift vielleicht sogar der Heveling: „Die Normalbürger im Netz (...) müssen selbst lernen, mit den neuen Medien umzugehen. Dafür reicht meistens eine einzige Regel: Man sollte sich im Netz so vernünftig verhalten wie im richtigen Leben hoffentlich auch. Sogar, wenn man Star beim FC Bayern ist.“
+++ Stefan Niggemeier erläutert, warum Thomas Gottschalk „Unterhaltungsjournalist des Jahres“ geworden ist (wwwagner.tv).
+++ Der Ärger über das „Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus“ (siehe Altpapier) reißt nicht ab. Ulrike Langer greift „weitere unsinnige Aussagen“ auf (medialdigital.de).
+++ Noch lange nicht vorbei ist der Skandal um die Praktiken von Rupert Murdochs Zeitungsgruppe News International, wie die Verhaftung von Redakteuren des Krawallblatts The Sun beweist. Die SZ (Seite 15) verweist auf eine Mitteilung des Konzerns News Corp., „wonach der Polizeizugriff auf Hinweise der Ethik-Kommission von NewsCorp. zurückgehe.“ „News Corp is playing contradictory roles as police/prosecutor on one side and defender on the other“, schreibt der Guardian. Das Fazit der SZ: „Der Skandal erreicht eine neue Dimension.“
+++ Aufmacher der SZ-Medienseite ist ein Text über die in den USA gerade gestartete Rennbahnmilieu-Serie „Luck“. Zwar sind Dustin Hoffman, Nick Nolte und der Regisseur Michael Mann beteiligt, „doch ganz so einfach ist Fernsehen auch in den USA nicht. Das zeigte sich am Sonntagabend, als die Serie in in Amerika erstmals ausgestrahlt wurde. Die Pferde schossen aus der Startbox, die Geschichte erreichte nie Höchstgeschwindigkeit.“ Im gerade online gestellten Feuilleton-Aufmacher des Freitag schreibt Simon Rothöhler indes, die Serie, die ab Ende des Jahres im Pay-TV-Programm TNT Serie zu sehen sein wird, werde „allgemein als Höhepunkt der Saison 2011/12 gehandelt“ und sei auch ein Indiz dafür, dass „die anhaltende Serienkonjunktur noch einige Zeit auf hohem Niveau weitergehen dürfte“.
+++ Der Schauspieler Michael Degen wird heute 80 Jahre alt. Eva-Elisabeth Fischer schreibt im SZ-Feuilleton (S. 12), Degen, der in den 80er-Jahren beispielsweise in der Serie „Diese Drombuschs“ zu sehen war, habe, „als dies manch seriöser Schauspieler noch als karriereschädigend verweigerte, die Niederungen der Fernsehunterhaltung nicht gescheut. Denn zu den Ernsthaften zählte er - nach zwei Jahren in Israel bekam er ein Stipendium für die Schauspielschule des Deutschen Theaters in Ostberlin und kehrte 1951 nach Deutschland zurück. Und siehe da: In späteren Jahren tat das Fernsehen seinem Ruf als Theaterschauspieler keinen Abbruch. Rückblickend waren ‚Diese Drombuschs' ja wirklich nicht ehrenrührig (...)“ Die Gratulation von Michael Wuliger (juedische-allgemeine.de) hat einen ähnlichen Tenor. Obwohl, wie Wuliger bemerkt, der FAZ-Kritiker Gerhard Stadelmaier Degen „als legitimen Erben Gustav Gründgens’ " bezeichnet hatte, habe sich der dermaßen Gepriesene „zwischendurch (...) nicht gescheut, in ‚OP ruft Dr. Bruckner‘ auf RTL den Professor Bergmann zu geben, den silberhaarigen Charmeur Manfred Berger auf dem „Traumschiff‘ und George Winston bei Rosamunde Pilcher. ‚Ich hatte vier Kinder zu ernähren, da habe ich auch mal Schrott gedreht.‘“
+++ Womöglich erfreulich für den einen oder anderen TV-Kritiker: „Being a couch potato won’t kill you.“ So fasst die Washington Post die Ergebnisse einer Studie zusammen. Anders gesagt: Sofakartoffeln leben doch nicht so ungesund, wie mancher dachte.
+++ Dass die DFL sich über „das rapide Wachstum der Erlöse aus der Auslandsvermarktung der Bundesliga“ freut, berichtet der Tagesspiegel. „Aus diesem Segment der Fernsehgelder fließen dem deutschen Profifußball in der kommenden Rechteperiode von der Saison 2012/13 bis zur Spielzeit 2014/15 insgesamt 214,7 Millionen Euro zu. Das sind 71,6 Millionen Euro pro Saison – eine Steigerung von rund fünfzig Prozent gegenüber der am 30. Juni auslaufenden Rechteperiode von 2009 bis 2012.“ Autor des Tagesspiegel-Textes ist übrigens der Mann, der bei der FAZ die Volontäre betreut. Aber ein bisschen Zeilenhonorar von Holtzbrinck ist natürlich auch nicht zu verachten.
+++ Das Magazin Chrismon, das zur Verwandtschaft des Altpapiers gehört, protokolliert die Berufsbiographie Nicola von Oppels, die zehn Jahre lang ein „glitzerndes Leben“ als Dokumentarfilmregisseurin führte, dann Hartz IV bezog und sich nun, im Alter von 47 Jahren, zur Krankenpflegerin ausbilden lässt (Seite 58).
+++ Von einer Art chinesischen Mischung aus Helene Hegemann und Karl-Theodor zu Gutttenberg berichtet das FAZ-Feuilleton: „Dem Schanghaier Schriftsteller und Rennfahrer Han Han, einem der berühmtesten Blogger des Landes, wird nun vorgeworfen, seinen ersten Roman, den er mit achtzehn Jahren veröffentlichte, und auch alle seine späteren Texte habe in Wirklichkeit sein Vater, der pensionierte Redakteur Han Renjun, verfasst.“ Aber: „Der rasende Blogger“ wehre sich, heißt es.