Ein junger Mann und ein Tiger in einem Rettungsboot allein auf hoher See – das ist nicht gerade ein Plot, der nach einer Verfilmung ruft. Was hat Sie dazu verleitet, Yann Martels Roman "Schiffbruch mit Tiger" auf die Leinwand bringen?
Ang Lee: Als ich vor zehn Jahren das Buch zum ersten Mal las, habe ich darin keinen Film gesehen. Erst als die "20th Fox" mir das Projekt angeboten hat, änderte sich allmählich mein Blick auf die Geschichte. Für mich liegt immer eine Herausforderung im Unmöglichen. Der Roman untersucht das Wesen der Illusion, evaluiert abstrakte Dinge, die man nicht nachweisen kann und denen man mit einem gewissen Glauben begegnen muss. Und das ist ja eigentlich genau mein Metier: Als Geschichtenerzähler erschaffe ich Illusionen und in "Life of Pi" wird das Wesen der Illusion mit Hilfe einer filmischen Illusion untersucht.
Warum haben Sie die Geschichte im aufwendigen 3D realisiert?
Lee: Ohne Tom Hanks in der Hauptrolle kann eine Geschichte, die von einem Mann allein auf hoher See erzählt, schnell langweilig werden. Mir ging es darum, das Wasser wie eine eigene Figur zu präsentieren und mir war klar, dass das in 3D eine ganz neue visuelle Erfahrung wäre. Ich hatte ein paar Trickfilme gesehen, die die Technik auf sehr interessante Weise eingesetzt haben. Aber in Spielfilmen wurde 3D bisher nur für billige Action- oder Horroreffekte benutzt. 3D ist eine neue cineastische Sprache, die ich gern noch weiter entdecken möchte. Aber es ist immer noch eine sehr teure Technologie, die sich kein Independent-Film leisten kann.
"Starpower war bei diesem Filmprojekt kein Thema"
Sie haben die Hauptrolle mit einem vollkommen, unbekannten indischen Nachwuchsschauspieler besetzt. Stand es je zur Debatte, dass ein Hollywood-Star die Rolle des Pi spielt?
Lee: Ich habe mit meinem Freund Tobey Maguire Probeaufnahmen gemacht und dabei sehr schnell gemerkt, dass ein Star wie er von der Geschichte ablenkt. Starpower war bei diesem Filmprojekt kein Thema. Tabu, die die Mutter spielt, ist zwar in Indien ein Star, aber das zählt in Hollywood nicht.
Warum haben Sie diesen Film nicht in Hollywood, sondern in ihrer alten Heimat Taiwan gedreht?
Lee: Das war eine sehr bewusste Entscheidung. Ich wollte ein bisschen aus der Hollywood-Mühle herauskommen. Es war ein gutes Gefühl, wieder in meine Heimatstadt zu gehen und damit auch ein Stück Hollywood nach Taiwan zu bringen.
Passt vielleicht auch der Geist dieser indischen Geschichte besser nach Asien?
Lee: Indien ist ein Teil von Asien und in manchen der philosophischen Ansichten beeinflussen sich Buddhismus und Hinduismus gegenseitig.
"Das, was wir Gott nennen, ist unsere emotionale Verbindung zum Unbekannten"
Wie stark ist die Geschichte in religiösen Glaubenswelten verankert?
Lee: Das Buch bietet die Möglichkeit in einer sehr abstrakten Weise über Gott nachzudenken. Das, was wir Gott nennen, ist eigentlich unsere emotionale Verbindung zum Unbekannten. Wie man mit diesem abstrakten Unbekannten, das man nicht anfassen oder wissenschaftlich beweisen kann, umgeht - darin liegt die geheime Kraft des Lebens, wenn nicht sogar die Essenz unserer Existenz. Dieses Unbekannte und das, was man Glauben nennt, wollte ich auf dieser Reise berühren, in deren Verlauf Pi mit dem Tiger, seinen Ängsten und göttlichen Mächten konfrontiert wird. Ich habe keine Antwort auf die Frage, was Gott und was Glauben ist, aber ich wollte eine Erfahrung herstellen, in der man der Frage emotional möglichst nahe kommt.
Sind Sie selbst ein religiöser Mensch?
Lee: Meine Mutter ist Christin und hat mich in diesem Glauben erzogen. Ich bin jeden Sonntag mit in die Kirche gegangen und habe vier Mal am Tag gebetet, bis ich vierzehn war. Dann habe ich, weil die Kinder mich in der Schule ausgelacht haben, aufgehört zu beten - und nichts ist passiert. Dabei ist es dann geblieben. Als Chinese, der in Taiwan aufgewachsen ist, bin ich auch stark von dem Buddhismus und Taoismus beeinflusst worden. Aber ich bin kein religiöser Mensch, eher ein Agnostiker oder irgendwas dazwischen.
"Wasser bedeutet für mich immer Leben, aber es kann auch zerstörerisch sein"
Sie haben anfangs gesagt, dass Sie das Wasser in diesem Film als eigene Figur darstellen wollten. Welche Bedeutung, welche Aufgabe hat das Wasser in "Life of Pi"?
Lee: Ich sehe das Wasser als Spiegel der Gefühle. Wasser reflektiert, ist aber auch transparent und flexibel. Wasser bedeutet für mich immer Leben, aber es kann auch zerstörerisch sein. Wasser lässt sich auf verschiedene Weise nutzen, um die Emotionen der Figuren zu visualisieren, und in 3D kann man es noch näher an das Publikum herankommen lassen, so dass man als Zuschauer das Gefühl hat selbst in den Fluten zu sein.
Von dem Kostümfilm "Sinn und Sinnlichkeit", dem Martial-Arts-Epos "Tiger & Dragon", über den Cowboy-Film "Brokeback Mountain" bis zum Fantasy-Spektakel "Hulk" haben Sie mit Ihren Filmen völlig unterschiedliche Genres bedient. Wo liegen die Gemeinsamkeiten in Ihrem sehr abwechslungsreichen Werk?
Lee: Meine Filme untersuchen immer die Verfassung der Menschen und ihre Beziehungen zueinander. Oft geht es um das Gefühl der Sicherheit oder um den Mangel an Sicherheit. Meine Figuren versuchen immer an etwas zu glauben, geraten in Veränderungsprozesse und versuchen mit ihnen Schritt zu halten. Aber normalerweise mache ich mir keine Gedanken darüber, was meine Filme verbindet. Das stelle ich erst im Nachhinein fest. Ich versuche mit meinen Filmen immer wieder neues Terrain zu erkunden und dabei so weit zu gehen, wie ich kann. Meistens gehen meine Filme jedoch nicht so weit, wie ich es eigentlich wollte, sondern schlagen irgendwo auf dem Weg zum Ziel ihr Lager auf.