Insbesondere die Versuche, die zivilen und privaten Seenotretter dafür verantwortlich zu machen, dass deutlich mehr Menschen über das Mittelmeer flüchteten und die europäischen Küsten erreichten, sei geradezu zynisch, sagte Oltmer dem Evangelischen Pressedienst (epd): "Da werden Ursache und Wirkung vertauscht. Es wird mit Menschenleben gespielt. Wenn Menschen in Seenot nicht gerettet werden, ist das unterlassene Hilfeleistung."
Rettungsorganisationen im Mittelmeer war in den vergangenen Tagen von mehreren Seiten vorgehalten worden, sie erleichterten den Schleppern in Libyen die Arbeit. Die Staatsanwaltschaft in Catania äußerte sogar den Verdacht, einige arbeiteten mit den Schleusern zusammen. Laut europäischer Grenzschutzagentur Frontex operieren die Rettungsschiffe deutlich näher an der libyschen Küste als noch vor einem Jahr. Das nutzten die Schlepper aus und schickten völlig überfüllte Boote ohne Proviant und mit nur wenig Treibstoff auf die Reise.
Oltmer erinnerte daran, dass 2015 das italienische Seenotrettungsprogramm "Mare Nostrum" ohne adäquaten Ersatz eingestellt worden sei. Danach war die Zahl der Toten drastisch angestiegen. "Wir haben also bereits einmal erlebt, dass der Abzug von Rettern eben nicht bewirkt, dass sich weniger Menschen auf den Weg machen", erläuterte der Historiker am Institut für Migrationsforschung der Universität Osnabrück. "Er führt dazu, dass mehr Menschen ertrinken."
Europa versuche derzeit mit allen Mitteln, sich gegenüber Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten möglichst komplett abzuschotten und die Menschen in ihren Ländern zu halten. Auch die Entwicklungszusammenarbeit stehe unter diesem einseitig von den Europäern gesetzten Vorzeichen, sagte Oltmer. Dabei werde ignoriert, dass davon auch die Menschen betroffen seien, die vor Krieg und Gewalt flüchteten und somit ein Anrecht auf Schutz hätten. Konflikte würden weiter angeheizt, wenn Menschen gezwungen würden, in Krisenregionen auszuharren.
Oltmer plädierte dafür, den UN-Flüchtlingshochkommissar mit einem regulären Etat auszustatten. Zudem müsse es Resettlement-Programme für besonders schutzbedürftige Menschen geben, damit sie aus Krisengebieten ausgeflogen werden könnten. Politik dürfe nicht immer wieder nur nach Mitteln und Wegen suchen, Flüchtlings- und Zuwanderungszahlen kurzfristig zu drücken, um die eigene Bevölkerung zu beruhigen. "Das Problem ist komplex, und wir müssen vermitteln, dass es dafür keine einfachen und schnellen Lösungen gibt."