Die Pfeifen stehen dicht an dicht. Neben-, hinter- und übereinander verschachtelt, nehmen sie die ganze Rückwand der Kasseler Martinskirche in Anspruch. Das sind stolze 19 Meter Breite. Dennoch wirkt dieser Wald aus Pfeifen – rechnet man alle, die großen und kleinen, die sichtbaren und unsichtbaren zusammen, dann hat die Orgel gut 5000 davon – nicht massiv oder hermetisch. Ganz im Gegenteil: Das Sonnenlicht, das durch die Fenster in die Kirche fällt, reflektiert sich auf dem hellen, unberührt glänzenden Metall der Pfeifen und bringt die Formen zum Tanzen. Ein Schleier aus Rosshaar, vor den Pfeifenfüßen angebracht, der sich später im Wind der Orgel bewegen soll, könnte diese optischen Reize noch verstärken.
Die äußere Gestalt der neuen Orgel von St. Martin hat sich der norwegische Künstler Yngve Holen ausgedacht. Normalerweise spricht man hier vom Orgelprospekt. Das Gehäuse, in dem die Pfeifen normalerweise Platz finden, wird nicht selten von Vorgängerinstrumenten übernommen. Die künstlerische Formung des Äußeren einer Orgel erfährt jedenfalls in der Regel weit weniger Aufmerksamkeit als ihr Klang.
Die Orgelmusik erhält eine zusätzliche räumliche Dimension
Normalerweise – das signalisiert schon, dass beim Kasseler Orgelneubau eben vieles anders ist als bei anderen Projekten selbst dieser Größe üblich. "Nicht nur musikalisch soll das Instrument herausragen, auch die Gestaltung muss zeitgemäß sein", so formuliert Kantor Eckhard Manz die Ansprüche in St. Martin. Und so wurde eben nicht nur ein Orgelbauer ausgewählt, sondern auch ein bildender Künstler und ein Architekt, die die Klänge im Raum verorten. Das Pfeifenwerk der neuen Orgel in St. Martin nimmt wie gesagt die gesamte Breite der rückwärtigen Empore ein. Von einem Gehäuse im herkömmlichen Sinn kann eigentlich nicht die Rede sein. Einige der größten Pfeifen werden aus Platzgründen in der Turmhalle platziert. Zur fest installierten Hauptorgel kommt noch ein fahrbares Modul im Kirchenschiff, das seine Töne direkt neben den Ohren der Hörer produziert und sowohl eigenständig als auch vom Hauptspieltisch der Orgel aus spielbar ist. Die Musik erhält dadurch eine zusätzliche räumliche Dimension.
Als Ort, an dem speziell die zeitgenössische Musik gepflegt wird, hat die Martinskirche mindestens deutschlandweite Bedeutung. Das Festival "Neue Musik in der Kirche" gibt es seit über vierzig Jahren. In Kursen, Seminaren, Wettbewerben und Konzerten wird der Austausch zwischen Komponisten, Interpreten und Theologen gepflegt. Die Kirchenmusikdirektoren Klaus Martin Ziegler und Hans Darmstadt haben diese Arbeit geprägt. Das von Ziegler 1965 gegründete Vocalensemble hat viele eigens geschriebene Werke uraufgeführt und auf Konzertreisen gesungen. Doch auch außerhalb des Festivals, in Gottesdiensten und Predigtreihen, im Gemeindealltag, hat die Neue Musik einen festen Platz.
Die neue Orgel soll dieser musikalischen Prägung an St. Martin Rechnung tragen und zu einem Projekt werden, das nicht allein den aktuellen State of the Art repräsentiert, sondern neuen Klängen Gehör verschafft und dem Orgelbau frische Impulse geben. Der hat sich in den letzten Jahrzehnten vornehmlich mit dem Nachbauen historischer Modelle beschäftigt und war musikalisch wenig innovativ. Die Planung für das Instrument begann bereits vor zehn Jahren. Die Vorgängerorgel von 1964 war in die Jahre gekommen und sollte schließlich ersetzt werden. Nachdem die Finanzierung zwischen Landeskirche und Kirchengemeinde abgestimmt war, trat eine Kommission aus Fachleuten zusammen, um sich über das neue Instrument grundsätzliche Gedanken zu machen. Neben dem Kirchenmusiker Eckhard Manz gehörten der Münchner Orgelprofessor Bernhard Haas dem Kreis an – sowie zwei Orgelbaumeister. "Wir wollten von Anfang an wissen, was technisch auch machbar ist", erläutert Manz.
Wie sollte die neue Orgel aussehen und vor allem klingen? "Dazu haben wir mit vielen Komponisten gesprochen", berichtet Manz. Was die Kreativen von einem Instrument des 21. Jahrhunderts erwarten, ist höchste Klangqualität. Außerdem soll die Tongebung durch den Spieler mehr als bisher beeinflussbar sein. Der Wunsch, den allzu statischen Orgelton irgendwie zu beleben, besteht seit langem. Die Möglichkeit, auch elektronische Klangerzeugung einzubeziehen, habe die Komponisten dagegen kaum interessiert.
Der Ton ist lebendig und individuell gestaltbar
15 Orgelbaufirmen wurden schließlich eingeladen, gemäß der von der Kommission erarbeiteten Vorgaben Entwürfe einzureichen. "Wir wollten einen Betrieb der international tätig ist", sagt Eckhard Manz zur Auswahl der Betriebe. "Die Firma sollte sowohl einen individuellen Stil pflegen als auch zum Bau eines Instruments dieser Größe in der Lage sein." In einem Wettbewerb über drei Runden fiel die Wahl letztlich auf die Vorarlberger Firma Rieger, die zu den ältesten und etabliertesten Orgelbauern im deutschen Sprachraum zählt und zuletzt auch durch internationale Aufträge, wie die Instrumente in den Philharmonien von Paris und Lodz oder dem Grand Theatre von Nanjing (China) von sich reden gemacht hat. "Die Mischung aus Neugier und Professionalität in der technischen Realisierung hat uns bei Rieger letztlich überzeugt", berichtet Manz.
Die 77 Register umfassende Disposition der neuen Orgel ermöglicht auch die Wiedergabe der traditionellen Literatur aus Barock und Romantik. "Das war wichtig, dass es eben kein Spezialinstrument ausschließlich für die Neue Musik wird", betont der Kantor. Gebaut ist das Instrument in mechanischer Traktur - eine Reminiszenz an die Tradition des Orgelbaus: die mechanische Verbindung von der Taste zur Pfeife ist das Prinzip, dass sich von den Anfängen bis in die Gegenwart als die idealste Verbindung bewährt hat. Verschiedene Schlagzeugregister und eine breite Palette von einzeln wählbaren Obertönen erweitern das Klangspektrum auf Neues hin. Um den Ton lebendig und individuell zu gestalten, kann der Winddruck sowohl abgesenkt als auch erhöht werden. Dies geschieht mittels Gewichten, die rasch über die ledernen Magazinbälge, in denen die Luft für den Orgelton vorgehalten wird, geschoben beziehungsweise von ihnen entfernt werden. Diese Technik wurde auch auf anderen Instrumenten schon realisiert. Neu ist allerdings die Möglichkeit, den Winddruck für jedes der vier Manuale und das Pedal der Orgel unabhängig voneinander zu variieren.
Vorbild aus dem historischen Cembalobau
Die auf diese Weise erzeugbaren Klangschattierungen bedeuten einen enormen Zuwachs an Farbigkeit und Ausdruckskraft. Die wohl spektakulärste Neuerung der Kasseler Orgel aber sind vier Register, die nicht in Halb- sondern in Vierteltönen gestimmt sind. Anspielbar sind sie über die spezielle Klaviatur des vierten Manuals, die die Oktave nicht wie üblich in zwölf, sondern in 24 Tonschritte unterteilt. Die Gestalt dieser Klaviatur orientiert sich an einem Vorbild aus dem historischen Cembalobau.
Die Herstellung der Orgelteile in der Werkstatt hat etwa neun Monate gedauert, seit etwa drei Monaten sind die Mitarbeiter mit dem Aufbau des Instrumentes in der Kirche beschäftigt und seit Ende Januar läuft die Intonation, das klangliche Feintuning der Orgel. Auch für die Mitarbeiter der Firma Rieger ist diese Orgel eine besondere Herausforderung. "Der Aufbau ist extrem komplex", sagt Orgelbauer Daniel Orth. Durch die Größe der Anlage muss die mechanische Spieltraktur sehr lange Wege überbrücken. Ob die Neuerungen im Bereich der Mikrotonalität oder des Winddrucks die Ausnahme bleiben oder vielleicht einmal auch bei kleineren Instrumenten Einzug halten, lässt sich nicht voraussagen. "Wir betreten hier eine neue Klangwelt", sagt Daniel Orth. "Es wäre schön, wenn sie eine neue Entwicklung anstoßen würde."
Am Pfingstsonntag, den 4. Juni 2017, wird die Orgel in einem Gottesdienst mit Landesbischof Martin Hein offiziell in Dienst gestellt. Daran schließt sich ein Festival mit über 150 Veranstaltungen. Neue, eigens für das Instrument komponierte Werke erklingen in Gottesdiensten und Konzerten, berühmte Virtuosen geben sich ein Stelldichein. Während der zeitgleich laufenden documenta 14 werde das Instrument täglich mehrmals zu hören sein. Bei Führungen für Schulklassen und Erwachsene kann man sich alles aus der Nähe betrachten. "Ich wünsche mir, dass jeder Gottesdienst- und Konzertbesucher von der Vielfalt dieser Orgel berührt wird", sagt Eckhard Manz.