Das Zweite Vatikanische Konzil hat hier von Seiten der katholischen Kirche Entscheidendes beigetragen. Die Erklärung Nostra Aetate, die vor fünfzig Jahren veröffentlicht wurde, enthält den Satz: "Mit Hochachtung betrachtet die Kirche auch die Muslime." Für die evangelische Seite sind auf internationaler Ebene die Dialogprogramme des Ökumenischen Rates der Kirchen zu nennen, ebenfalls aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Kritiker einer positiven christlichen Annäherung an andere Religionsgemeinschaften und insbesondere an den Islam sehen bis heute die Gefahr einer Vermischung oder Verwischung der Unterschiede, etwa wenn christliche Gemeinden muslimischen zum Fastenmonat Ramadan ihre Segenswünsche übermitteln. Doch im christlichen Festgruß an Muslime geht es nicht darum, die religiöse Überzeugung des anderen zu übernehmen. Der Gruß bringt vielmehr zum Ausdruck, dass ich mich auch in einer Beziehung zu denen weiß, die nicht die eigenen Feste und Traditionen teilen und dennoch im öffentlichen Raum der Nachbarschaft, des Stadtteils oder des Landes mit mir leben.
In solchen Grußbotschaften findet sich als Anrede oft die Formulierung: "Liebe muslimische Geschwister". Ein aufgeregter Schreiber hat sich einmal an das Kirchenamt der EKD gewandt mit dem Hinweis, die Bezeichnung "Geschwister" dürfe nur im innerchristlichen Kontext verwendet werden, also Brüder und Schwestern im Herrn Jesus Christus. Muslime dagegen gehörten nicht dazu. Mein Einwand, dass wir auch nach christlicher Überzeugung in einer Menschheitsfamilie leben, die sich biblisch von Adam und Eva herleite, überzeugte ihn nicht. Als ich dann noch hinzufügte, dass Adam auch in der islamischen Vorstellung als "Vater der Menschheit" gesehen werde, antwortete der Schreiber erbost: Der islamische Adam sei doch ein ganz anderer Adam und mit dem biblischen überhaupt nicht vergleichbar.
Gibt es also zwei Adams?
Gibt es also zwei Adams? Einen muslimischen und einen christlichen? Und tragen diese beiden am Ende nur zufällig denselben Namen? Wenn man sich dieser Tage in unserem Land umhört, dann wird man gewiss viele Stimmen finden, bei denen von einer Verbrüderung zwischen Christen und Muslimen nun wirklich nicht die Rede sein kann. Allerdings würde man die Grundintention der biblischen Erzählung von der Erschaffung Adams ad absurdum führen, wollte man ihr die Erschaffung eines anderen Menschenpaares zur Seite stellen. Eine solche Parallelschöpfung wäre vielleicht nach dem Geschmack derjenigen, die ohnehin der Ansicht sind, Muslime und Christen lebten in gänzlich verschiedenen Welten. Biblisch ist diese Vorstellung aber ganz sicherlich nicht. Allerdings erzählt die Bibel auch davon, dass es gleich am Anfang Streit gab. Gleich nach der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies steht die Geschichte von Kain und Abel, die Geschichte vom Brudermord. Der Grund: Kain war erzürnt, dass Gott das Opfer seines Bruders Abel gnädiger ansah als sein eigenes.
Warum haben Kain und Abel eigentlich nicht gemeinsam ihr Opfer dargebracht? Diese Frage beantwortet der Text nicht, auch nicht die Frage, wie die jeweilige Opferhandlung ausgesehen hat. Waren die Brüder am Ende glaubensverschieden? Was wir erfahren ist, dass sie verschiedenen Berufen nachgingen, der eine war Ackerbauer, der andere Schäfer. Entsprechend fielen ihre Opfer aus: von den Früchten des Feldes (Kain) beziehungsweise von den Erstlingen der Herde (Abel). Aber ein gemeinsamer 'Gottesdienst‘ war offenbar nicht vorgesehen. Hätte Gott das besser gefallen? Wären dann vielleicht beide Opfer gnädig angesehen worden?
Mit Jona im selben Boot betet "ein jeder zu seinem Gott"
Wir wissen es nicht, aber in den christlich-islamischen Beziehungen spielt diese Frage heute eine Rolle. Können wir gemeinsam beten? Können Christen und Muslime zusammen vor Gott treten? Es gibt eine Reihe von Anlässen, bei denen sich diese Frage stellt. Was ist, wenn ein Mensch stirbt und zur Trauergemeinde nicht nur Christen, sondern auch Muslime gehören? Oder wenn bei Einschulungsfeiern, im Kindergarten oder am Arbeitsplatz religiöse Rituale gepflegt werden, bei denen Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit zusammenkommen? Auch Naturkatastrophen, Unfälle oder Kriegshandlungen können das Bedürfnis nach einem Miteinander, etwa in einem gemeinsamen Gebet, hervorrufen. Ein biblisches Vorbild solcher Gebete liefert übrigens die Jonaerzählung. In der Sturmesnot rufen alle Seefahrer, die miteinander und mit Jona im selben Boot sitzen, zu Gott oder genauer, "ein jeder zu seinem Gott", wie es dort heißt (Jona 1,5).
Im Unterschied zur Jonaerzählung ist im 1. Buch Mose allerdings nicht von verschiedenen Göttern die Rede. Es ist derselbe Gott, dem Kain und Abel mit ihren unterschiedlichen Opfern huldigen. Die Frage, ob auch Christen und Muslime – wenn auch in verschiedener Weise – letztlich an denselben Gott glauben, wird dagegen immer wieder kontrovers beantwortet:
Die einen betonen, dass es nur einen Gott gebe, der für Christen wie Muslime der Schöpfer aller Menschen ist. Dieser Gott verpflichte die Menschen auf das Tun des Guten und befreie sie durch seine erfahrbare Gegenwart zu einem Leben in Frieden. Andere betonen, dass die Zentren beider Glaubensvorstellungen verschieden seien. Hier der Koran – dort Jesus Christus, hier das Verständnis einer Einheit und Einzigkeit Gottes, die mit dem dreifaltigen Gott dort – als christlicher Form des Monotheismus – nicht in Einklang zu bringen sei. Eine dritte Position schließlich sucht zwischen diesen beiden Positionen zu vermitteln. Sie lautet: Ob der Gott, an den Christen glauben, und der, den Muslime anbeten, derselbe ist, das müsse Gott letztlich selbst entscheiden.
Hat Gott selbst Abel auf dem Gewissen?
Wie immer man sich hier entscheiden mag, ein Attribut Gottes spielt im Islam wie Christentum eine zentrale Rolle: die Barmherzigkeit. Nahezu jede Sure des Korans beginnt mit der Anrufung des gnädigen und barmherzigen Gottes. Und auch die Geschichte von Kain und Abel legt im weiteren Verlauf davon Zeugnis ab. Gott ist barmherzig, indem er den zum Brudermörder Gewordenen nicht einfach sich selbst überlässt und ihn für vogelfrei erklärt, sondern noch in seiner Flucht und Vertreibung vor der Willkür anderer schützt. Das Kainsmal wird zum Schutzmal, zum praktizierten Täterschutz. Und es symbolisiert: Auch schuldig gewordenes Leben ist Leben, das nicht einfach ausgelöscht werden darf.
Doch es bleibt die Frage, warum es überhaupt so weit kommen musste, dass sich Kain mit seinem Opfer zurückgesetzt fühlte. Und ich höre schon die Religionskritiker und Religionslosen argumentieren, dass hier ja gerade die Wurzel des Übels liege. Ohne das religiöse Opfer von Kain und Abel wäre es gar nicht zum Streit gekommen. Der Kult war schuld. Religionslosigkeit also als lachende Dritte im Streit der Kulte und Religionen? Ist der Brudermord nicht ein schlagender Beweis für die These, dass die Menschen ohne Religion und Gott letztlich besser dran wären? Hat also Gott selbst Abel auf dem Gewissen?
Der Bibeltext ist da differenzierter. Er stellt zwar die unterschiedliche Behandlung der Opfer durch Gott fest, aber schon im nächsten Schritt nimmt Gott die Beziehung zu Kain wieder auf, redet ihm ins Gewissen und versucht, ihn von seinem Vorhaben abzubringen: "Warum ergrimmst du? Und warum senkst du deinen Blick? Ist‘s nicht also? Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie" (1. Mose 4, 6.7).
Wetteifern ums Gute
Auch im Verhältnis von Christentum und Islam ist immer wieder darüber gestritten worden, wessen Glaubenspraxis und -haltung letztlich die Gott wohlgefälligere sei. Eine Frage, über die man theologisch streiten kann, die aber nicht dazu führen darf, sich wechselseitig die Köpfe einzuschlagen. Denn das hat Gott nicht gewollt. Im Koran heißt es an einer Stelle über Christen, Juden und Muslime: "Hätte Gott gewollt, er hätte euch zu einer einzigen Gemeinschaft gemacht – doch wollte er euch mit dem prüfen, was er euch gab. Wetteifert darum um das Gute! Euer aller Rückkehr ist zu Gott, er wird euch dann kundtun, worin ihr immer wieder uneins wart" (Sure 5, 48).
Hätte Kain diesen Rat beherzigt, er hätte sich mit Abel messen können im Guten und im Wetteifern um das Gute. Die Geschichte ist aber anders verlaufen. Der erste Brudermord ist nicht der letzte geblieben und hat ein großes Echo gefunden. Auch der Koran geht darauf ein. In Sure 5 gibt es einen Dialog zwischen den Brüdern, in denen der später Getötete zu seinem Bruder sagt: "Wenn du nun nach mir deine Hand ausstreckst, um mich zu töten, so will ich meine Hand doch nicht nach dir ausstrecken, um dich zu töten. Siehe, ich fürchte Gott, den Herrn der Weltbewohner" (Sure 5, 28). Und wenige Verse weiter heißt es: "Wenn jemand einen Menschen tötet, … so ist’s, als töte er die Menschen allesamt. Wenn aber jemand einem Menschen das Leben bewahrt, so ist’s, als würde er das Leben aller Menschen bewahren" (Sure 5, 32).
Stärker verwoben, als die Schlagzeilen glauben machen
Die Wertschätzung des menschlichen Lebens und des Willen Gottes spricht aus diesen Zeilen des Koran, deren letzter Teil sich übrigens nahezu wortgleich im jüdischen Talmud findet und zwar genau zu dieser Textstelle (1. Mose 4). Man mag das für Zufall halten, es könnte sich aber auch die Ahnung einstellen, dass hier Judentum, Christentum und Islam viel stärker ineinander verwoben sind, als dies die Schlagzeilen unserer Tage glauben machen. Ja, es könnte den Gedanken nähren, dass Juden, Christen und Muslime sich in je verschiedener Weise auf einen gemeinsamen Ursprung beziehen – wie Geschwister eben.
Und es gibt Gott sei Dank reale Beispiele einer solchen gelebten Geschwisterlichkeit in der Welt. Zur Zeit des "arabischen Frühlings" waren es Christen auf dem Tahrirplatz in Kairo, die ihre muslimischen Landsleute während der Gebete vor dem Zugriff der Schergen des Regimes schützten, indem sie sich um sie herum stellten. Als in Kenia zu Beginn dieses Jahres ein Bus mit Christen und Muslimen von Terrormilizen überfallen wurde, waren es muslimische Fahrgäste, die sich weigerten, ihre Religionszugehörigkeit preiszugeben, weil sie damit das Leben ihrer christlichen Landsleute gefährdet hätten. Weil in Nigeria die Gewalt zwischen Christen und Muslimen weiter zu eskalieren drohte, machten sich ein Imam und ein Pastor gemeinsam auf den Weg durchs Land, um die Gewaltspirale zu durchbrechen. Sie wurden inzwischen für ihr Engagement geehrt und ausgezeichnet.
Entscheidend für eine friedliche Zukunft im Miteinander der Religionen ist, wie wir als Christen oder Muslime, als religiöse oder religionslose Menschen die Frage Kains beantworten: "Soll ich meines Bruders Hüter, meiner Schwester Hüterin sein, auch dann, wenn er oder sie einen anderen Glauben hat als ich?" Wenn wir nicht einen weiteren Adam erschaffen und damit die Risse in der Menschheitsfamilie und in der einen Welt vertiefen wollen, kann es darauf nur eine Antwort geben.