"Kippen! Kippen!", ruft Ahmed. Der 24-jährige Syrer ist vor etwas mehr als vier Wochen in Berlin angekommen. Mit einer Gruppe von anderen Flüchtlingen aus dem Irak und einem deutschen Helfer trägt er einen Kicker-Tisch, den sie irgendwo aufgetrieben haben, in den Gemeindesaal der St.-Simeon-Kirche in Berlin-Kreuzberg. Die jungen Männer sind aufgedreht, einigen von ihnen steht die Erfahrung von Krieg und Flucht noch ins Gesicht geschrieben. Hier und jetzt können sie sich nützlich machen, der Kicker-Tisch wird zur kleinen Trophäe in einer völlig fremden Umgebung, in der sie sich erst langsam zurechtfinden.
Zum dritten Mal findet an diesem Dienstagabend das "Internationale Café" in Deutschlands erster sogenannter "Flüchtlingskirche" statt. Kaum ist der Kicker-Tisch in einer Ecke des Gemeindesaals aufgestellt, geht das erste Spiel los. Ein paar Meter weiter sitzt ein junger Mann an einem Klavier und sucht sich einen Weg auf der Tastatur, an Tischgruppe sitzen Menschen und trinken Tee oder knabbern an Keksen, die an einer langen Tafel von Helfern und Geflüchteten gebacken werden.
"Es geht um Partizipation. Wir müssen hier nicht alles für die machen. Die sollen ruhig selbst anpacken!", meint Pfarrerin Beate Dirschauer energisch und schaut mit munteren Augen in die Runde. Dirschauer ist eine von drei Pfarrern und Pfarrerinnen, die die evangelische Landeskirche zur pastoralen Begleitung der Flüchtlingskirche abgestellt hat. Zum Eröffnungsgottesdienst im Oktober wurden über 430 Besucher gezählt, so viele Menschen hat die St.-Simeon-Kirche in dem ansonsten muslimisch dominierten Teil von Kreuzberg schon lange nicht mehr gesehen.
Beratung, Begleitung und Begegnung
Die "Flüchtlingskirche" bietet keine Schlafplätze oder materielle Versorgung – abgesehen von Kaffee, Tee und Kuchen. Im Mittelpunkt stehen Beratung, Begleitung und Begegnung von "Geflüchteten und Beheimateten abseits der anonymen Räume der offiziellen Aufnahmeprozedur", wie Dirschauer sagt. Neben der juristischen Beratung von Asylsuchenden durch den Verein "Asyl in der Kirche" bietet die Flüchtlingskirche auch Helfern aus der Zivilgesellschaft die Gelegenheit zur interkulturellen Weiterbildung, zu Beratung und Erfahrungsaustausch. Am 10. Dezember, dem internationalen Tag der Menschenrechte, findet außerdem das erste politische Abendgebet statt, bei dem Theologen, Ärzte und Juristen über die Lage der Menschrechte und die unhaltbare Situation bei der Erstregistrierung der Flüchtlinge diskutieren werden.
"Wir sind interreligiös und interkulturell", betont Pfarrerin Dirschauer entschlossen. "Wir wollen weg vom diakonischen Gefälle. Wir nehmen die Flüchtlinge ernst. Natürlich sind die hilfsbedürftig, aber sicher sind sie schon weiter gelaufen als wir und haben mehr gesehen in ihrem Leben!" So wie Ahmed, der 23jährige Syrer aus einem Dorf an der türkischen Grenze. Eigentlich hat Ahmed mal englische Literatur studiert, stand im vierten Studienjahr kurz vor dem Abschluss.
Eines Nachts, als Truppen des Assad-Regimes ihn als Kämpfer in der Armee verpflichten wollten, entschloss er sich zur lebensgefährlichen Flucht über die türkische Grenze. Mit strahlenden Augen berichtet er von seiner Ankunft in Berlin vor vier Wochen und schwärmt gar von der "Kirche des Lächelns", von den hilfsbereiten Menschen, die ihn hier mit offenen Armen empfangen haben. In seiner Heimat war der Moschee-Besuch für den gläubigen Muslim zu gefährlich geworden, denn auch beim Freitagsgebet ist man nicht sicher vor Anschlägen von Rebellen und radikalisierten Terrorgruppen. An diesem Freitag will Ahmed seit langem zum ersten Mal wieder zum Freitagsgebet in eine Berliner Moschee gehen.
"Wir müssen lernen, wie das Leben in Deutschland funktioniert"
"In Syrien hatte ich Freunde, die Christen waren, das spielte überhaupt keine Rolle. Wir respektierten uns einfach als Menschen. Jetzt sind wir Flüchtlinge und müssen lernen, wie das Leben in Deutschland funktioniert", meint Ahmed. Die Gemeinschaft in der "Flüchtlingskirche" biete ihm dafür die Gelegenheit. Im Flüchtlingsheim ein paar Straßen weiter hat er seine erste Freundschaft in Deutschland geschlossen, mit Zeyad, einem gelernten Elektrotechniker aus Bagdad. Auch Zeyad ist alleine aus seiner Heimat geflohen. Jetzt sitzt der 24jährige erschöpft und schüchtern an einem Tisch in der "Flüchtlingskirche" und lernt seine ersten deutschen Vokabeln: "Milch", "Beamter", "Pass", "Ich heiße..." "links, rechts", diese Worte sind ihm am wichtigsten. Gemeinsam mit dem ehrenamtlichen Helfer Gerald wiederholt er jedes einzelne der neuen Wörter.
"Man könnte meinen, Tanzkurse sind unwichtig, aber genau das brauchen die Flüchtlinge"
Gerald kommt aus einem anderen Berliner Bezirk und ist eigentlich Schauspieler und Regieassistent beim Hörfunk. "Meine Freundin arbeitet schon seit längerem mit Flüchtlingen, sie gibt Tanzkurse", erzählt er. "Man könnte meinen, das ist unwichtig, aber genau das brauchen die Flüchtlinge." Auch er habe nach und nach das Bedürfnis entwickelt, sich zu engagieren. "Wir haben zwar eine Flüchtlingsunterkunft in unserer Straße, aber der Kontakt ist eher spärlich. Man kann da ja nicht einfach reinmarschieren, diese Menschen brauchen ja auch ihren privaten Rückzugsraum." Von der "Flüchtlingskirche" in Kreuzberg hat der 47jährige über Freunde erfahren. Als gläubigen Christen will sich Gerald nicht bezeichnen. "Aber es fällt schon auf, dass die Kirche zu ihren Aufgaben steht und eintritt für ihre Einstellung", sagt er und wendet sich wieder den Vokabellisten und dem jungen Iraker Zeyad zu.
Währenddessen blickt Pfarrerin Beate Dirschauer zufrieden durch den Gemeindesaal. Zum dritten Internationalen Café der Flüchtlingskirche sind wieder viele Neugierige erschienen, die in kleinen Gruppen an Tischen zusammensitzen. Jeder hat seinen Namen auf einem Klebestreifen an die Brust geheftet. "Die Fluchtbewegung ist auch eine Chance", sagt Dirschauer. "Das fördert den internationalen Dialog und zeigt die Verbindung zwischen Glauben und Politik. Und vielleicht prägt es auch den Blick auf unsere Kirche. Sowohl den der Geflüchteten mit anderem Glauben als auch den der Deutschen, die bisher nichts mit der Kirche zu tun hatten."