Glocken läuten nicht zum Gottesdienst. Doch die Kirche der "Freien evangelischen Gemeinde" in Wetzlar füllt sich schnell am Sonntagmorgen um 9.27 Uhr. Der weiße Bau im Wohngebiet am Rand der mittelhessischen Stadt zieht Eltern, viele Kinder, Jugendliche, auch Paare und einzelne Ältere an. Sie gehen ihren Weg, vorbei am Informationsstand, in den Kirchenraum im Erdgeschoss. Hinterm Eingang, rechts an der Wand, befinden sich die für alle gut sichtbaren kleinen offenen Postfächer für jede Familie beziehungsweise jedes Gemeindemitglied. Dort werden Nachrichten untereinander ausgetauscht, von Glückwünschen bis zu Veranstaltungsinformationen. "Guten Morgen" erklingt es überall im Raum. Wer durch die Stuhlreihen rückt, grüßt seinen Nächsten.
Das Schlagzeug gibt den Takt um 9.30 Uhr vor, die Gitarre setzt mit ein und der Gottesdienst beginnt. Die Besucher sitzen im mit blauem Teppichboden ausgelegten Kirchenraum und auf der Westempore. Im sogenannten "Aquarium", einem kleinen Zimmer für die Jüngsten, das eine Fensterscheibe vom Gottesdienstgeschehen trennt, steht in der Ecke ein blauer Elefant zum Schaukeln. Spielzeug liegt überall. Und Lautsprecher übertragen die Worte und auch Musik der Verkündigung durch die Glasscheibe in den Raum.
"Herzlich willkommen!", sagt Gemeindemitglied Philip Utsch. Das Mikrofon in der linken Hand haltend steht er für alle gut sichtbar vor der Gemeinde, zweistufig erhöht, auf hellem Holzboden. Neun Deckenscheinwerfer, einst von einem Bergsteiger angebracht, und viele kleine Lampen schaffen warmes Licht. Die Band steht hinter ihm. Über ihnen prangt eine große Beamer-Leinwand, die den meisten Platz einnimmt. Die Seitenschiffe werden durch Stahlstützen markiert. Das zentrale Mittelschiff hat hohe Decken, weiß sind die Wände gestrichen. Das Kirchenfenster formt ein Kreuz. Glasscheiben schimmern durchsichtig, in blau, lila und grün. Seitlich hängt ein dreiteiliges Gemälde: sanfte Farben malen ein Kreuz. In der FeG Wetzlar ersetzt ein weißer Flügel die Orgel. Das Taufbecken kann man nicht sehen, da es für Ganzkörpertaufen verdeckt im Bühnenpodium im Boden eingelassen ist. Damit alle aber eine Taufe mitverfolgen können, wird die jeweilige Zeremonie per Kamera auf die Leinwand übertragen.
Was wird passieren? Das verrät Philip Utsch. Der Mann gibt der Gemeinde einen schnellen Überblick, wie der Gottesdienst ablaufen wird. Weil demnächst die Schule beginnt, werden alle diesjährigen Schulanfänger gesegnet. Die Predigt wird über Gottes Führung am Beispiel der Josefgeschichte sein. 13 Mädchen und Jungen, mit ihrem Schulranzen in der Hand, treten vor. "Was erwartet Euch wohl in der Schule?", fragt eine Frau die Kinder. "Schreiben", antwortet jemand, "Lesen, Rechnen", antworten andere. "Und was werdet ihr nie vergessen?", fragt die Frau weiter. "Jesus!", ruft kraftvoll ein Mädchen und lächelt. Ein Lachen geht durch den Raum. "Ja, natürlich, darauf werde ich gleich noch kommen. Jetzt war der Schulranzen gemeint. Ihr wisst: Jesus wird immer bei Euch in der Schule sein!" Alle applaudieren. Kinder sind in der Kirche willkommen. Viele begleiten ihre Eltern, sitzen auf Mamas oder Papas Schoß.
Wo Lieder den Glauben stärken
Drei Lobpreislieder werden gesungen, von der Band musikalisch unterstützt. Damit jeder mitsingen kann, werden die deutschen Liedtexte mit englischem Untertitel für alle gut sichtbar an die Leinwand projiziert. Gesangbücher gibt es keine mehr. Zum Singen stehen viele auf, die meisten auch zum Beten, wenige bleiben sitzen. Dafür sieht man allerorten strahlende Augen. Manche Menschen sind einander zugewandt, andere lächeln in den Raum. Wieder andere strecken ihren linken Arm, gern auch beide Arme mit offenen Handflächen dem Himmel entgegen oder tanzen. Die Gemeinde singt viel. Die Musik klingt popartig. Die Texte thematisieren die Beziehung des Einzelnen zu Gott. Klassisch-traditionelle Kirchenlieder hört man aber selten. Damit alles ordentlich klingt, dafür sorgen vier Männer an mehreren Mischpulten.
Und wieder spielt die Band. Eine Art Werbeblock läuft auf der Leinwand über den Beamer: "Sommerfest", "Start Biblischer Unterricht", "WORSHIP HIM", "Kleidertauschbörse". Eine Anzeige verweist auf den FeG-Männertag: "Mein Leben, Meine Sehnsucht, meine Schlacht" und mit einer besonderen Betonung wird auf das Seminar "Im Glauben wachsen" aufmerksam gemacht. Nun wird die Kollekte gesammelt. Eine Frau erzählt auf der Bühne, wie gut es ihr ergeht, seitdem sie Mitglied dieser Gemeinde ist. Dann tritt Jugendpastor Timo Scherer von der ersten Reihe nach vorne. Er spricht für alle ein Gebet, das mittels Headset laut in den weiten Raum dringt, und segnet die künftigen Schulkinder. In der FeG Wetzlar heißt der Pfarrer nicht Pfarrer, sondern Pastor, "Hirte". Timo Scherer hat dunkelblonde Haare, einen Dreitagebart und trägt keinen schwarzen Talar: rot ist sein Hemd, schnell sind seine Worte.
9.58 Uhr: Die Kinder verlassen den Gottesdienst, um, verteilt auf fünf Gruppen, am Kindergottesdienst im Untergeschoss der Kirche teilzunehmen. Die bis zu Dreijährigen sind "die Minis", die Drei- und Vierjährigen besuchen die "Bären", die "Elefanten" werden von den Fünf- bis Siebenjährigen aufgesucht, in der "Löwengruppe" sind die Zweit- bis Viertklässler aufgehoben und die Fünft- bis Siebtklässler fühlen sich in der "Jugend" zu Hause.Jugendpastor Scherer steht auf keiner Kanzel. Die gibt es nicht. Vorne steht er, locker und bewegt. Seine Predigt wird 30 Minuten dauern. Er fasst die Joseferzählung zusammen, damit jeder verstehen kann, worum es gleich geht. Er weist auf das Bibelstudium und die Wichtigkeit des Glaubensgrundkurses hin. "Dort lässt sich Gott entdecken. Gott ist da. Er führt uns." Scherer erzählt: "Ich habe ein Sehnsucht danach bekommen, dass Gott wieder mehr führt."
Auf Augenhöhe unter Gläubigen
Pastor Scherer duzt seine Zuhörer in der Predigt, indem er beispielsweise sagt: "Ein Leben unter Gottes Führung klingt für mich sehr attraktiv. Ich weiß nicht, wie es für Dich klingt?" Anhand dreier Impulse will er die Geschichte von Josef auslegen: "Erstens: Gottes Führung ist kein Ponyhof, zweitens: Gottes Führung ist kein Puppentheater und drittens: Gottes Führung ist da."
Scherer steht vor der Gemeinde, vor ihm steht ein Notenständer, die Predigt ist auf A5-Blättern geschrieben. Wenn Gott wollte, predigt Scherer, wäre er in der Lage dafür zu sorgen, dass Menschen einfach nur Gutes tun und ihnen nur solches widerfährt. "Das ist aber nicht das Ziel Gottes. Das würde dem Menschen sehr viel Würde nehmen. Die Würde der Selbstbestimmung." Gott wolle eigenverantwortliche Kinder, die kluge und weise Entscheidungen treffen, und keine Marionetten an seinen Fäden, auch wenn es einmal die falsche Entscheidung ist. In 1Mo 50,20 heißt es: "Menschen gedachten es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut mit mir zu machen."
Manche Christen sähen als Ideal, dass Nachfolge bedeute, Gott diktiere uns jeden einzelnen Schritt. "So sieht die Führung Gottes nicht aus. Gott spielt kein Puppentheater mit uns. Gott achtet uns als Menschen, die nach seinem Bild geschaffen sind. Und er traut uns Verantwortung zu über unser eigenes Leben. […] Er will, dass wir in unserer Verantwortung wachsen. Dass wir die Konsequenzen unseres Handelns selbst bedenken. Dass wir zu Männern und Frauen Gottes werden, die verändert worden sind durch seinen Geist. […] Dass wir durch das Lesen der Bibel wissen, was gut ist, dass wir danach leben. Das wir aus der richtigen Überzeugung, richtige Entscheidungen treffen. Wenn wir Gott bitten, dass er sagen soll, was zu tun sei, wir ihn aber nicht hören, dann soll man eine eigenverantwortliche, kluge Entscheidung treffen." Pastor Scherer schlussfolgert: "Auch wenn wir es nicht immer spüren. Gott ist immer da!"
Dann feiert die Gemeinde, wie jeden ersten Sonntag im Monat, gemeinsam das Abendmahl. Jeder, der an Jesus Christus glaubt, so wie die Gemeinde an ihn glaubt, ist eingeladen teilzunehmen. Die Band spielt. Viele Besucher singen: "Ich geb' mich ganz hin und sag: Ich bin dankbar. Ich geb' mich ganz hin, denn Du bist wunderbar." Rund zehn bis 15 Kirchenbesucher bilden je einen Kreis um vier Stehtische mit violetter Decke und flackernder Kerze. Die zwei mittleren Tische haben einen großen Gemeinschaftskelch, auf den beiden äußeren Stehtischen stehen kleine Becher, einer für jeden. Der Korb mit Brot macht seine Runde. "Amen." Dann wird der Kelch mit Traubensaft weitergereicht, beziehungsweise es werden die kleinen Becher übergeben. Am Schluss bilden alle einen Kreis, der sich enger zusammenschließt bis sie ihre Köpfe zusammen stecken. Sie reichen sich die Hände, bevor sie entspannt lächelnd Platz für die Kommenden machen. Die Fürbitte und der Segen folgen, kein: "Vaterunser". Das wird manchmal, aber eben nicht immer gesprochen.
Die Gemeinde wächst weiter
90 Minuten dauert der Gottesdienst. Im Anschluss können die Mitglieder im Gebetsraum für sich und andere beten lassen. Wer zum ersten Mal zu Besuch ist, erhält eine Informationsbroschüre über die Gemeinde als Geschenk. Schnell füllt sich der Aufenthaltsraum im Untergeschoss auf einen Plausch und eine Tasse Kaffee. Keiner bleibt lange allein, stets wird man angesprochen, ist miteinander im Gespräch. Ein Tischfußball steht bereit. Während die ersten Gottesdienstbesucher gehen, kommen neue Gemeindemitglieder an. 270 Mitglieder hat die FeG in Wetzlar. Für das Kirchengebäude ist sie längst zu groß. Viele bringen ihre Freunde mit. Daher kommen sonntags rund 380 Gottesdienstbesucher. Deswegen gibt einen zweiten Gottesdienst um 11.30 Uhr. Parallel zu ihm finden wieder fünf Kindergottesdienste statt. Die FeG Wetzlar platzt aus allen Nähten und plant derzeit einen Neubau in direkter Nachbarschaft, um weiter zu wachsen.###mehr|terms|125072+837+7627###