"Handelspolitik ist die Flüchtlingspolitik der Zukunft, davon bin ich fest überzeugt!" Diesen Satz ruft der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm geradezu in den auf über dreißig Grad aufgeheizten Saal. Nicht nur die Luft ist erhitzt, auch die Gemüter. Geht es doch um ein höchst umstrittenes Thema: "Big Brother, Big Business, Big Family? TTIP und die transatlantische Wertegemeinschaft" heißt die Veranstaltung auf dem Kirchentag 2015. Und der Ratsvorsitzende streitet auf der Bühne mit Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD).
Bedford-Strohm bekräftigt seinen Standpunkt noch einmal: "Die biblische Option für die Armen leitet das, was wir als Kirchen zur Handelspolitik zu sagen haben" – und bekommt dafür viel Applaus. Handelspolitik müsse im Zweifel Entwicklungspolitik statt Interessenspolitik eines Landes sein. Und dann fordert er erneut, was er erstmals auf der EKD-Synode in Würzburg vor einigen Wochen als Konzept vorstellte: Eine "Eine-Welt-Verträglichkeitsprüfung" für jegliche politische Entscheidung, nach der Maßgabe: "Schadet oder nützt das, was wir beschließen, den schwächsten Menschen auf der Welt?" TTIP (das transatlantische Handelsabkommen zwischen den USA und der EU) zählt nach Meinung des Ratsvorsitzenden nach dem, was man bisher darüber weiß und was bisher verhandelt wurde, nicht dazu. Kritisch sieht er die mögliche Aufweichung der europäischen Verbraucherschutzstandards. Kritisch sieht er den immer wieder konstatierten Einfluss von Wirtschaftslobbyisten auf Verhandlungen, die eigentlich demokratisch kontrolliert sein müssten (schon Luther habe eine kritische Perspektive auf die Verbindung von wirtschaftlicher und politischer Macht formuliert). Und kritisch sieht er eben auch die mögliche Verdrängung der Entwicklungsländer von den Märkten.
"Der Kapitalismus muss international gezähmt werden"
Sigmar Gabriel hingegen hat kein Verständnis für die "Stoppt TTIP"-Schilder im Saal. Man könne doch nichts ablehnen, von dem noch gar nicht klar sei, was drin stehen werde – schließlich sei noch nicht zu Ende verhandelt. Der Bundeswirtschaftsminister möchte lieber "proaktiv" sein und Maßstäbe setzten, bevor dies andere tun – zum Beispiel bei den parallelen Verhandlungen der USA mit China. Und dies durchaus auch, um Liberalisierung zu begrenzen. "Der Kapitalismus muss international gezähmt werden", sagt er, "aber wir müssen verhandeln, wenn nicht andere die Regeln machen sollen." Mit ihm werde es jedenfalls die gefürchteten privaten Schiedsgerichte, vor denen Firmen möglicherweise gegen Behinderungen durch zu hohe Sozial- oder Ökostandards klagen könnten, nicht geben. Schließlich könne kein Freihandelsabkommen der Welt Gesetze ändern. Und überhaupt, diese Schiedsgerichte seien schließlich eine deutsche Erfindung, die in 140 bilaterale Handelsabkommen in den letzten 30 Jahren eingeschrieben worden seien. Dabei sei allerdings immer Deutschland der stärkere Partner gewesen. Wo denn da wohl die Proteste geblieben seien?
Dabei verkennt Gabriel freilich ausgerechnet auf dem Kirchentag, dass es schon seit mindestens 30 Jahren Kritik an deutscher Wirtschafts- und Entwicklungspolitik gibt, gerade aus kirchlichen Gruppen heraus, gerade auch ausgehend von vergangenen Kirchentagen. Und kirchlichen Akteuren scheint es nun auch maßgeblich zu verdanken zu sein, dass die Perspektive auf die Armen in die Debatte um die verschiedenen Handelsabkommen (TTIP, CETA, TISA, …) mit einfließt. Gabriel dazu wörtlich: "Ich stimme zu, dass die Frage, wie es den Armen dabei geht, bisher bei den Verhandlungen zu kurz kommt." Und, bezugnehmend auf das Kirchentagsmotto: "Ich gebe freimütig zu, die Kritik an TTIP hat uns klüger gemacht." Aber er hat auch eine – zumindest pragmatische – Lösung parat: In die TTIP-Verhandlungen soll nun die Idee eines modernen ordentlichen Handelsgerichtshofs statt der privaten Schiedsgerichte eingebracht werden, mit der Aussicht auf Überführung dieses Modells in andere multilaterale Verhandlungen.
Multilateral verhandeln
Heinrich Bedford-Strohms Vision hingegen geht weiter: Er möchte, dass generell wieder multilateral verhandelt wird, zum Beispiel unter dem Dach der Welthandelsorganisation WTO, und unter Einbeziehung der Schwellen- und Entwicklungsländer auf Augenhöhe. Diese Vorstellung teilt er mit Cornelia Füllkrug-Weitzel, der Vorstandsvorsitzenden des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung, unter dessen Dach auch die Entwicklungshilfeorganisation "Brot für die Welt" firmiert.
Sie fordert unmissverständlich, das "Weltwirtschaftsvölkerrecht" auszubauen, statt bilaterale Abkommen zu schließen, die soziale, ökologische und Menschenrechts-Standards überhaupt nicht zum Verhandlungsgegenstand haben. Deswegen könne man durch TTIP in dieser Hinsicht auch nicht wirklich etwas erreichen, da es hier eben hauptsächlich um Dienstleistungen, Investitionen und öffentliche Beschaffung gehe. Dass das so sei, enttäusche sie, sagte sie noch einmal deutlich. Schließlich habe sich die EU in ihren Politik-Richtlinien in den Vertrag von Lissabon geschrieben, dass die Auswirkungen auf die Armen in der Welt stets mit zu prüfen seien. Das Problem bei TTIP sei vielmehr, dass es erklärtes Ziel sei, das fertig verhandelte Vertragswerk auch als Grundlage für weitere Verhandlungen mit den Ländern des Südens zu nehmen. So sei es ungleich schwieriger für diese, einmal gesetzte Standards noch bilateral nachzuverhandeln.
Daraus resultiert also erneut die Erkenntnis, was Brot für die Welt und Diakonie Deutschland am Ende ihres jüngsten Positionspapiers formuliert haben: "Eine aufmerksame kritische Begleitung des weiteren Verhandlungsgangs durch Parlamente, Öffentlichkeit, Zivilgesellschaft und Kirchen ist daher unerlässlich."