Konkret ging es um zwei Fälle in Nordrhein-Westfalen. Der Richterspruch dürfte aber auch Auswirkungen auf die weiteren sieben Bundesländer haben, in denen das Tragen des Kopftuchs an Schulen aus Gründen der weltanschaulichen Neutralität bislang untersagt ist. Während Muslime das Urteil begrüßten, warnten Juristen und Gewerkschaften, die Entscheidung könne weniger statt mehr Rechtssicherheit schaffen, weil nun im Einzelfall entschieden werden muss.
Die Karlsruher Richter entschieden, künftig solle keine abstrakte Gefahr für Neutralität und Schulfrieden mehr genügen, um ein Kopftuchverbot zu begründen. Vielmehr müsse eine "hinreichend konkrete Gefahr der Beeinträchtigung des Schulfriedens oder der staatlichen Neutralität" von den jeweiligen Kopftüchern ausgehen. Ein örtlich und zeitliches begrenztes Kopftuchverbot halten die Verfassungsrichter hingegen für denkbar, wenn in bestimmten Schulen oder Schulbezirken "substanzielle Konfliktlagen über das richtige religiöse Verhalten" herrschen.
Insgesamt acht Bundesländer hatten nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2003 gesetzlich geregelt, dass Lehrer keine Kleidungsstücke als Ausdruck ihres Glaubens tragen dürfen. Die ergänzende Regelung im nordrhein-westfälischen Schulgesetz, die christliche Symbole vom Verbot explizit ausnimmt, wurde von den Karlsruher Richtern mit der aktuellen Entscheidung komplett gekippt. Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrages rechtfertige es nicht, Amtsträger einer bestimmten Religionszugehörigkeit zu bevorzugen.
Die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) kündigte nach dem Urteil an, unverzüglich zu prüfen, welche Konsequenzen zu ziehen sind. Die muslimischen Verbände freuten sich in der Mehrheit über das Urteil. Der Zentralrat der Muslime bezeichnete den Karlsruher Beschluss als "richtigen Schritt", weil er die Lebenswirklichkeit muslimischer Frauen in Deutschland würdige. Der Verband der Islamischen Kulturzentren sprach von einer "richtungsweisenden Entscheidung für die Gleichbehandlung des Islam in Deutschland".
Der Präsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Hans Ulrich Anke, sagte, die Entscheidung unterstreiche, dass die Religionsfreiheit ein hohes Gut sei und nicht an den Schultoren ende. Die katholische Deutsche Bischofskonferenz sprach von einem "starken Signal" für die Glaubens- und Bekenntnisfreiheit.
Einzelfallprüfungen an den Schulen nötig
Begrüßt wurde das Urteil von Bundestagsabgeordneten der SPD, den Grünen und der Linkspartei. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), sagte aber gleichzeitig, die gesellschaftliche Diskussion werde damit nicht zu Ende sein. Der Richterspruch befeuere die Debatte darüber, "wie wir in einer pluralen Gesellschaft miteinander leben wollen", sagte die Staatsministerin.
Aus der Union war dagegen Skepsis zu vernehmen. Der kirchenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion, Franz Josef Jung (CDU) sagte, eine generelle Freigabe für das Tragen eines Kopftuches an öffentlichen Schulen könne seines Erachtens aus dem Beschluss nicht abgeleitet werden. Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach sagte der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Samstagsausgabe), das Tragen eines Kopftuchs von einer Lehrerin sei "nicht nur Ausdruck der persönlichen religiösen Überzeugung, sondern ein bewusstes Zeichen der Abgrenzung zur kulturellen Tradition Deutschlands".
Bosbach befürchtet durch das Verbot pauschaler Regelungen in Landesgesetzen zudem, dass das Problem in den Schulalltag und hin zu den Schulleitern verlagert werde. Es stelle sich die Frage, wie rechtssicher festgestellt werden kann, ob der Schulfrieden gestört ist. Auch der Vorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Udo Beckmann, fürchtet Belastungen für das Personal an Schulen, weil nun jeder Einzelfall geprüft werden müsse.
Der Staatsrechtler Hans Michael Heinig sagte dem Evangelischen Pressedienst (epd), es sei nicht ausgemacht, dass Einzellösungen vor Ort mehr Rechtsfrieden bringen als eine gesetzliche Regelung für das gesamte Bundesland. EKD-Kirchenamtspräsident Anke sagte, es müsse sich angesichts der kontroversen Debatte erst zeigen, ob die Verlagerung der Entscheidungskompetenz auf die einzelne Schule rechtlich angemessener und in der Praxis handhabbar sei.