Hildegard von Bingen und die boomende Naturheilkunst

Hildegard von Bingen und die boomende Naturheilkunst
Gewürze, Dinkel, Honigwein: Historische Klostermedizin erlebt gegenwärtig eine Renaissance. Immer mehr Deutsche vertrauen auf die Naturheilkunst der heiligen Äbtissin Hildegard von Bingen. Fachleute sind aber skeptisch.
14.07.2011
Von Sabine Damaschke

Für Josef Herrweg war Hildegard von Bingen spätestens seit seinem Theologiestudium keine Unbekannte. Trotzdem blieb der katholische Priester erstaunt stehen, als er vor 30 Jahren im Allgäu die erste "Hildegard-Apotheke" entdeckte - mit heilkundlichen Schriften der gelehrten Nonne, Elixieren aus Wein und Honig, Gewürzen und Dinkelbrot. "Ihre Medizin kannte ich noch nicht, aber sie hat mich sofort fasziniert", erzählt der heute 79-jährige Geistliche aus Overath im Bergischen Land.

Josef Herrweg ist fest davon überzeugt, dass er seine robuste Gesundheit der bekannten Äbtissin verdankt, die vor über 800 Jahren lebte. Als er damals in den "Bund der Freunde Hildegards" eintrat, der in diesem Sommer sein 35-jähriges Bestehen feiert, galt er noch als Exot. Heute boomt die Hildegard-Medizin. In Bioläden gibt es Dinkelprodukte nach Hildegard, Gewürze und Honigweinmischungen, die ihren Namen tragen. Für viele Wissenschaftler ist das Humbug. Aber Heilpraktiker bieten Elemente der christlichen Naturmedizin an, die den Patienten durchaus vertraut erscheint.

Selbst der Aderlass wird wieder praktiziert

Kein Wunder, denn Hildegard von Bingens Gesundheitsphilosophie ähnelt mit ihrem ganzheitlichen Therapieansatz den großen Universalheillehren der Chinesen, der Ayurveda-Heilkunde der Inder sowie der Makrobiotik der Japaner. "Es ist aber eine christliche Naturheilkunde und darauf legen besonders ältere Patienten Wert", beobachtet die Bonner Heilpraktikerin Jutta Prinz. Viele kommen wegen chronischer Erkrankungen - oder um sich davor zu schützen.

Ein Bandscheibenvorfall, Probleme mit der Schilddrüse und großen Stress im Beruf - all das brachte zum Beispiel Angela Buchholz dazu, die Hildegard-Medizin auszuprobieren. Erst war sie skeptisch, aber dann ließ sie sich auch auf die wissenschaftlich umstrittenste Säule dieser christlichen Heilkunde ein, den Aderlass. "Danach fühlte ich mich richtig glücklich und entspannt", sagt die 51-jährige Bankangestellte. Schulmedizinisch erklärbar sei das nicht, gibt Heilpraktikerin Jutta Prinz zu. "Aber die Patienten bestätigen, dass der Aderlass ihr Immunsystem stärkt, gegen Entzündungen wirkt und Aggressionen abbaut."

Einmal im Monat, genau sechs Tage nach Vollmond, nimmt Jutta Prinz ihren Patienten 50 bis maximal 200 Milliliter Blut ab - je nachdem, wann das dunkle Blut einen helleren Farbton bekommt. Denn dann, so meinte die Äbtissin damals, sei die schädliche "Schwarzgalle" aus dem Körper gelaufen. Dass es tatsächlich gesund ist, regelmäßig Blut zu spenden und den Körper damit zu entgiften, bestätigt auch Johannes Mayer, Leiter der Forschergruppe Klostermedizin der Universität Würzburg. Dies stärke aber nicht unbedingt das Immunsystem.

Dinkel macht tatsächlich glücklich

"Bei den Hildegard-Rezepten muss man genau hinsehen", rät der Wissenschaftler. "Die Wirkung einiger Methoden und pflanzlicher Heilmittel ist tatsächlich bewiesen, andere können dem Menschen sogar schaden." Etwa, wenn die Äbtissin empfiehlt, giftige Maiglöckchen gegen Hauterkrankungen auf nüchternen Magen zu essen. Für das orientalische Gewürz Galgant dagegen konnte die krampflösende Wirkung gegen Angina Pectoris nachgewiesen werden. Und Dinkel - der Klassiker der Hildegardmedizin - sorgt nicht nur für eine gute Verdauung, sondern auch für ein fröhliches und entspanntes Gemüt, weil es Tryptophan enthält - eine Aminosäure, die das Glückshormon Serotonin aktiviert.

Eine Ernährung, die positiv auf Körper und Seele wirkt, gehörte unmittelbar zum Weltverständnis Hildegard von Bingens. In ihrem Weltbild harmonieren Mensch, Gott und Kosmos miteinander. Die Äbtissin, die zeit ihres Lebens selbst unter schweren Krankheiten litt, dachte ganzheitlich - und das in einer Zeit, die von einer großen Leibfeindlichkeit, von Kreuzzügen und Machtkämpfen zwischen Papst und Kaiser geprägt war. Schon zu Lebzeiten wurde sie geachtet und verehrt.

Angriff gegen die Kirchenoberen

Hildegard wurde 1098 auf dem elterlichen Gut bei Alzey als zehntes und letztes Kind der adeligen Hildebert und Mechthild von Bermersheim geboren. Ihre religiöse Unterweisung erhielt sie durch die Mystikerin Jutta von Sponheim auf dem Disibodenberg im Naheland. Zwischen 1147 und 1150 gründete sie ein Benediktinerinnenkloster auf dem Rupertsberg bei Bingen, 1165 das Filialkloster Eibingen auf der anderen Rheinseite. Die hochbegabte Äbtissin trat für eine umfassende Kirchenreform ein und geißelte viele Kirchenobere ihrer Zeit. Öffentlich warf sie ihnen Sittenverderbnis, Amtsschleicherei, Lauheit und Trägheit vor.

Besonders naturkundliche und medizinische Schriften trugen ihr den Ruf der ersten deutschen Ärztin ein. Aber auch als Theologin gehörte sie zu den großen Autorinnen der Vorscholastik. Vom Papst als Prophetin anerkannt, beriet sie die Großen ihrer Zeit, darunter sogar Kaiser Friedrich Barbarossa. Bis ins hohe Alter stand sie ihrer Ordensgemeinschaft vor, komponierte 77 Choräle und verfasste rund 2.000 Rezepte.

Am 17. September 1179 starb Hildegard im Kloster Rupertsberg bei Bingen. Jahrhundertelang war die fromme, hochgebildete Frau des Mittelalters vor allem aufgrund ihrer Theologie und Musik bekannt. Das änderte sich Anfang des vergangenen Jahrhunderts, als der österreichische Arzt Gottfried Hertzka Hildegards Rezepte neu entdeckte und testete. Basierend auf seinen Erfahrungen entwickelte sich die heutige "Hildegard-Medizin" - mit allen Vermarktungsstrategien, die dazu gehören. Und über die sich Heilpraktikerin Jutta Prinz bisweilen richtig ärgert. "Es geht zu weit, für Kräutertees mit Hildegards Namen zu werben", sagt sie. "Die Hildegardmedizin kennt gar keinen Tee". Ihre Kräuter kochte Hildegard von Bingen mit Wein ab.

epd