So wenig Häme wie in diesem Jahr gab es für den Deutschen Fernsehpreis noch nie, könnte man meinen. Der Deutsche Fernsehpreis ist der, den vier Sendergruppen – ARD und ZDF, Bertelsmanns RTL-Group und die börsennotierte ProSiebenSat.1 SE – gemeinsam vergeben. Der bekannteste Moment seiner noch nicht sehr langen, aber wechselvollen Geschichte seit 1999 ist die Ablehnung seiner Annahme durch Marcel Reich-Ranicki anno 2008.
Zehn Jahre später bekam nun der damalige Moderator Thomas Gottschalk den gleichen Lebenswerk-Ehrenpreis selber und nahm ihn an. Eine Ablehnung hätte auch gar keinen Sinn ergeben. Der Fernsehpreis 2018 war überhaupt nicht im Fernsehen zu sehen und wird es auch nicht mehr. "Viele klagen, dass der Fernsehpreis nicht mehr im Fernsehen zu sehen ist", zitiert Hans Hoff in der "Süddeutschen" Gottschalk: "Jetzt, wo ich hier war, find ich es gar nicht mehr so schlimm". Der alte Haudegen Hoff geizt mit Häme natürlich nicht. Sie zündet bloß weniger, weil eben nichts im Fernsehen zu sehen war.
Ist das nicht ein schwaches Bild, wenn die ARD jedes Jahr die Gala zum "Bambi"-Preis überträgt, den immer Helene Fischer, andere fernsehbekannte deutsche und anreisewillige internationale Prominente bekommen? Und das ZDF die "Goldene Kamera", die ihre internationale Prominenz der Ryan-Gosling-Liga seit 2017 ja nachweislich zubucht oder zuzubuchen versucht? (Wobei Helene Fischer sie auch mal wieder verdient hätte, sie bekam bloß 2012 und 2016 eine). Selbst beim Bayerischen Fernsehpreis geht das Bayerische Staatsministerium für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie davon aus, dass RTL die Preisverleihung 2018 in seinem Programm ausstrahlen wird. Der Grimme-Preis, der renommierteste der ziemlich vielen deutschen Fernsehpreise, wird bei 3sat in gewaltiger Länge live im Internet gestreamt und anschließend zeitversetzt im linearen Fernsehen gezeigt.
Und das Fernsehen boomt. Zumindest jubelt der Privatsenderverband VPRT von einem 2017 gemessenen "neuen Rekordniveau". Demzufolge verbrächten die Deutschen "9 Stunden pro Tag mit audiovisuellen Medien", also dem Ansehen oder -hören von elektronischen Medien.
Die Preisträger-Liste (medienkorrespondenz.de) spiegelt natürlich, dass dieser Preis vier Veranstalter hat, von denen keiner nicht unter den Gewinnern auftauchen möchte. Sie enthält aber auch vieles, über das sich angeregt unterhalten ließe. Dass zum Beispiel "Endlich Klartext! Der große RTL2-Politikercheck" (siehe diese Medienkolumne) als "Beste Information" ausgezeichnet wurde, ist das ein Schlag ins Gesicht für ARD und ZDF, die sich schließlich sehr viel umfassender um Information bemühen als RTL2? Den Preis für die "Beste persönliche Leistung / Moderation Information" bekam immerhin Marietta Slomka, die im ZDF-"heute-journal" so kritische Politiker-Interviews führt wie hierzulande im Fernsehen niemand sonst (siehe diese Medienkolumne). Und dass Vox' "Kitchen Impossible" mit Tim Mälzer prämiert wurde, spiegelt, dass die Privatsender bei Unterhaltungssendungen öfter etwas wagen und auch mal eigene Ideen entwickeln. Das tun ARD und ZDF in dem Genre kaum, auch wenn sie die Privatsender-Stars einkaufen ...
Fernsehspielfilme wie Sand am Meer
Als "Bester Fernsehfilm" ausgezeichnet wurde mit "Eine unerhörte Frau" eine ältere Kino-Koproduktion, die 2016 vielleicht 15.000 Kinozuschauer erreichte (wie diese Statistik/ PDF der Filmförderungsanstalt nahelegt). Was ein Licht auf das Schicksal der ziemlich vielen deutschen Kinofilme wirft, die als Fernseh-Koproduktionen entstehen, in der heftigen Konkurrenz, die jede Woche im Kino neu anläuft, schnell untergehen und wenn sie später ins Fernsehen kommen, oft nicht mal mehr Besprechungen bekommen, da sie als alt gelten und schon besprochen wurden. Neue deutsche Fernsehspielfilme gibt schließlich wie Sand am Meer – so viele, dass die Sender Probleme haben, sie alle im Programm unterzubringen.
Szenenwechsel: Im Januar stellte die ARD in Hamburg ihre Fernsehfilm-Projekte vor (Eigentlich wäre ich dort hingefahren, aber das verhinderte der Sturm Friederike ...). Überblicke bieten dwdl.de und die Medienkorrespondenz. Zum Angebot gehört auch wieder allerhand Spannendes. Vielleicht am spannendsten ist ein Degeto-Freitagsfilm, der im letzten Herbst gedreht wurde und im nächsten gesendet werden soll. Schon sein Arbeitstitel "Grüß Gott, Persien" könnte provokant wirken, denn er spielt im Mullah-Staat Iran. Und die Protagonistin (laut Pressetext eine "schöne Deutschlehrerin mit einem Faible für Goethe", die dann auch noch eine "Zeit-Ehe" mit einem deutschen Besucher eingeht) trägt ihr Kopftuch auf dem Szenenfoto so locker, wie es ARD-Korrespondentin Natalie Amiri Anfang Januar beim Berichten über Proteste in Teheran tat. Das erregte hierzulande viel Aufsehen.
Anfang März läuft der Zweiteiler "Gladbeck" über die als "Geiseldrama" bekannte Kette von Verbrechen und Polizeipannen, in deren Zusammenhang auch zeitweise oder immer noch sehr bekannte Journalisten wie Udo Röbel und Frank Plasberg Rollen spielten. Gegenwärtig spannend ist eine persönlichkeitsrechtliche Klage, die einer der Geiselgangster womöglich anstrebt. Noch davor läuft eine Dystopie aus "naher Zukunft", derzufolge "Rechtsextreme in vielen Ländern die Macht übernommen" haben und aus Deutschland "ein totalitäres System" geworden ist. Hinterher wird Sandra Maischberger drüber diskutieren – wie später im Jahr auch nach "Unterwerfung", der Fernseh-Adaption der Hamburger Bühnen-Adaption des Houellebecq-Romans. Laut Presseinfo wird im Anschluss über "Islamismus und Rechtsextremismus" diskutiert. Dass das eine allein in Zusammenhang mit dem anderen diskutiert wird, gehört eben zum sorgfältig austarierten Konstrukt des deutschen Gegenwartsfernsehens.
1,36 bis 1,6 Millionen Euro pro Stück
Um ein sorgfältig austariertes Für-jeden-etwas-Portfolio mit Spannendem, Gefälligem und noch mehr gefälliger Krimi-Spannung handelt es sich auch beim Gesamtpaket der insgesamt 144 neuen Fernsehfilme, die die ARD in diesem Jahr erstausstrahlen will. 35 Mittwochs-Filmen am einzigen genre-offenen Sendeplatz im deutschen Fernsehen stehen 43 Sonntags-Krimis und 24 Donnerstags-Krimis gegenüber. Donnerstags-Krimis sind die mit deutschsprachigen Schauspielern in "Tatort"-artige Mordfälle an Schauplätzen im europäischen Ausland. Neu dabei neben etwa den Bretagne-Krimis mit dem Schweizer Pasquale Aleardi als Kommissar Dupin und dem "Kroatien-Krimi" mit Neda Rahmanian als Kommissarin Branka Mari? sind der "Prag-Krimi" und der "Amsterdam"-Krimi. Kino-Koproduktionen kommen zu den 144 dazu – und nicht auf 20.15 Uhr-Sendeplätze (außer, es handelt sich um noch einen Krimi). Insgesamt steigt der ARD-Filme-Ausstoß gegenüber 2017 nochmals leicht.
Am gefälligen Freitags-Termin können Zuschauer sich auf die neue Reihe "Daheim in den Bergen" freuen. Der Hinweis, dass in der Rolle des Oberhaupts eines von zwei zerstrittenen "Bergbauer-Clans" Walter Sittler zu sehen ist, der im ZDF seit inzwischen 24 Fällen einen Schwedenkrimi-Kommissar gibt, wäre leicht unsachlich. Schließlich sind Fernsehfilme, auch wenn viel Arbeit vieler Gewerke drinsteckt, von der "Königsdisziplin", wie sie einst genannt wurden, längst zur Dutzendware geworden. Die meisten Schauspieler erhalten keine Star-Gagen, die ihnen erlauben, sich lange rar zu machen. Etwas sachlicher wäre, drauf hinzuweisen, dass Katharina Wackernagel, Krimifans als ZDF-Samstagskrimi-Kommissarin Petersen vom Standort Stralsund bekannt, in einem Emazipations-Zweiteiler der ARD "Aenne Burda - Die Wirtschaftswunderfrau" spielt, der an einem Themenabend Ende 2018 zu sehen sein wird. Aenne Burda war ja auch die Mutter des "Bunte"-Verlegers – und "Bambi"-Verleihers – Hubert Burda.
Die Dutzendware wird mal etwas aufwändiger, mal normal aufwändig produziert – für durchschnittliche Minutenpreise von 15.500 bis 18.200 Euro brutto. Das ergibt über die Normlänge von gut 88 Minuten 1,36 Millionen bis 1,6 Millionen Euro pro Stück. Was also allein für die ARD in neunstelligen Bereich führt. Womit das Engagement des ZDF (dessen Output nicht ganz so groß wie der der ARD sein dürfte, aber mit Montags- und Samstagskrimis und "romantisch" orientierten Mittwoch- und Sonntags-Filmen auch in den dreistelligen Stück-Bereich pro Jahr kommen dürfte) noch gar nicht gewürdigt wäre. Und die fiktionalen Serien oft auch aus dem Krimigenre mit ihren vielen kürzeren Folgen noch überhaupt nicht.
Ist das in dem Ausmaß, was die deutsche Gesellschaft tatsächlich möchte oder braucht – als "Kitt", wie ARD-Programmdirektor Volker Herres gerne sagt (mal im Bezug auf Sport, mal auf viel eingeschaltetes Fernsehen, siehe etwa hier und hier)? Oder werden die Menschen in wenigen Jahrzehnte fassungslos darüber staunen, was sich die deutsche Gesellschaft der 2010er Jahre in ihrem Fernsehen leistete?
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Auch, weil lange lineare Texte ihren Zenit schon deutlich länger überschritten haben könnten als das Fernsehen, geht es nach diesem Cliffhanger in der nächsten Medienkolumne kommende Woche weiter – mit "Babylon Berlin" und einem Blick ins Privatfernsehen ...