Die Diskussion um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nimmt solch ein Tempo auf, als sollte sich eine im September geäußerte Prophezeiung von der medienpolitisch "größten Schlacht ..., die es bislang gegeben hat", bewahrheiten. Von Seiten der Presseverlage, den institutionell schärfsten Gegnern von ARD und ZDF, gab es etwa eine kämpferische Rede des Zeitungsverlegerverbands-Präsidenten Mathias Döpfner und kurz darauf die "Spiegel"-Titelgeschichte "Die unheimliche Macht" (deren Bildmotiv allerdings weniger unheimlich wirkte als die neuen AfD-Bundestagsmitglieder anderthalb Wochen zuvor; unheimliche Mächte beschwört der "Spiegel" ganz gerne ...).
Es gab jeweils Repliken, von ARD-Seiten etwa eine kurze auf Döpfners Rede und auf die "Spiegel"-Artikel eine umso längere, die den Eindruck erweckte, die ARD sei empfindlich getroffen. Und auch auf die Attacke des Sachsen-Anhalter Staatskanzleichefs Rainer Robra, die gerade provokant auf die ARD-"Tagesschau" zielte ("Mitteldeutsche Zeitung"), wurde in der Vielstimmigkeit geantwortet, die die föderalen Öffentlich-Rechtlichen kennzeichnet. Ob der Vielstimmigkeit eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven entspricht, ist eine andere Frage. Die "21 Fernsehsender und 66 Radiowellen" der Öffentlich-Rechtlichen sind ein Standard-Textbaustein in den Attacken.
Dass dabei alles mit allem zusammenhängt, wie die "Süddeutsche" ihren Vorbericht zum Ministerpräsidenten-Treffen ausklingen lässt, ist nicht nur eine Phrase, sondern verflixte Wirklichkeit. Ein frisches Beispiele für solche Zusammenhänge ist die gerade als (Beta-)App für Smartphones freigeschaltete "Audiothek", in der sich Nutzer "aus mehr als 60 Hörfunkwellen" "ein Wortprogramm nach eigenen Interessen zusammenstellen" können (ARD). "Neuen Ärger mit Zeitungsverlegern wie bei der App Tagesschau24 müssen ARD und Deutschlandradio wegen der Audiothek vermutlich nicht befürchten, denn auf presseähnliche Berichte wird verzichtet", freute sich der Berliner "Tagesspiegel", der im Verlage-Sender-Streit moderate Positionen vertritt. Allerdings "könnte sich die private Radio-Konkurrenz an der neuen App stoßen. Eine derart umfangreiche Sammlung kostenloser Audio-Inhalte hat es zuvor nicht gegeben".
Was alles am Medien-Zeitbudget zehrt
Tatsächlich haben wie alle in der Medienlandschaft auch die private Radios Grund zur Klage. Dabei geht's um die "Umstellung des Radioempfangs von UKW auf das digitale DAB+, wofür die ARD-Wellen seit Jahren einen zweistelligen Millionen-Obolus aus dem Zwangsbeitrag bekommen," – die "FAZ", aus der dieses Zitat stammt, neigt im Verlage-Sender-Streit zu polemischen Kampfbegriffen – "die für viele private Stationen aber während des nötigen Parallel-Sendebetriebs auf UKW und DAB+ so teuer sein könnte, dass sie aufgeben müssen."
Gewiss lassen sich viele Privatradios als Dudelfunk mit dümmlichen Gewinnspielen und solchen "besten Hits" abqualifizieren, an die ihre Hörer eben gewöhnt sind, weil sie schon seit Jahrzehnten im Radio rotieren. Allerdings begegnen ihnen im Dualen Radio-System viele öffentlich-rechtliche Radiowellen auf derselben Dudelfunk-Augenhöhe, sogar mit noch dümmlicheren (oder werblicheren) Gewinnspielen. Der Vorwurf, von der Allgemeinheit finanzierte öffentlich-rechtliche Angebote seien von werbefinanzierten privaten gar nicht mehr zu unterscheiden, trifft in vielen Radiobereichen am ehesten zu. Wofür es auch Gründe gibt: Womöglich würden die Hörer wegschalten, wenn das Gewohnte fehlte, und dann auch nicht mehr die stündlichen Nachrichten der Öffentlich-Rechtlichen hören, die ja immerhin seriösen Standards gehorchen. Oder zumindest die Äußerungen der Ministerpräsidenten ihrer Bundesländer regelmäßig wiederholen – also derjenigen, die über die Zukunft der Öffentlich-Rechtlichen zu entscheiden haben.
Falls die Privatradios, die den Umstieg aufs Digitalradio (das übrigens eine deutsche Erfindung war, bei dessen Einführung Deutschland aber soweit hinterher hinkt, dass unklar ist, ob hierzulande noch was draus wird ...) stemmen sollen, sich auch noch beklagen würden, dass die "Audiothek" ihnen Hörer wegnimmt, hätten sie durchaus recht. Vermutlich werden sie es deshalb nicht tun, oder eher: bloß reflexartig, weil sie viel größere Gefahren kennen: Streamingdienste wie Spotify oder – weil immer nur die Marktführer zu erwähnen, ja deren Stellung stärkt – das für Freunde klassischer Musik empfehlenswerte Berliner Start-up Idagio, knapsen viel mehr vom Zeitbudget potenzieller Radio-Hörer ab. Bei Video, also Fernsehen, verhält es sich ebenso: Dass "die Nutzung von Streamingdiensten wie Netflix, Amazon Prime Video oder Maxdome rasant" ansteigt, haben nun auch ARD und ZDF ermittelt (dwdl.de).
Die Halde all dessen, was an Video- und Audio-Inhalten (wie an Texten) laufend neu produziert wird, bleibt besser denn je gespeichert und, oft aus unterschiedlichen Quellen, verfügbar. Bloß aus öffentlich-rechtlichen Mediatheken wird es oft noch nach unterschiedlichen "Verweildauern" gelöscht. Selbstverständlich zehrt die Menge der verfügbaren Inhalte am Medien-Zeitbudget der potenziellen Zielgruppen. Das ist aus Nutzersicht ein Luxusproblem, aus Sicht der Macher und Anbieter ein größeres. Zumal, wenn sie nicht über regelmäßige Rundfunkbeitrags-Einnahmen verfügen. (Und dass in der globalisierten Gegenwart auch viele deutsche Nutzer zum noch viel größeren und oft besseren englischsprachigen Angebot tendieren, wie ein Kommentator dazu anmerkte, verschärft es weiter.) Benannt wird dieses wachsende Problem selten. Klar ist bloß, wer davon profitiert: auf Vernetzung oder allein auf Algorithmen, also auf Datenmassen basierenden Empfehlungs-Mechanismen und ihre Anbieter, also Youtube und Facebook, Suchmaschinen und Streamingdienste, die größeren umso mehr.
Was schön und sinnvoll wäre
Der Umbruch von linearen Angeboten, den "21 Fernsehsendern und 66 Radiowellen", zu nonlinearen, vollzieht sich zwar langsam, aber längst unaufhaltsam. Insofern ist es höchste Zeit, wenn nun auch die ARD-Radiowellen den Schritt vollziehen.
Schön und sinnvoll wäre, wenn die öffentlich-rechtlichen Medien und die privaten aus den Verlagen und aus der Radiowelt auch darüber diskutieren und streiten würden und die Kooperationen (die sie taktisch fordern und zum Teil auch betreiben, wenn sie sie nicht einander vorwerfen ...) dahin ausdehnen würden. Nur zum Beispiel: auf lernende Empfehlungsmechanismen, die die Archive und Repertoires der Mitbewerber erschließen. Warum empfiehlt das öffentlich-rechtliche tagesschau.de seinen Nutzern nicht grundsätzlich Artikel aus Internetangeboten deutscher Zeitungen?
Zugleich könnte die Zahl der linearen Sender, deren Zuschauer perpektivisch weniger Zeit für lineares Fernsehen haben, einerseits gesenkt, andererseits schärfer profiliert werden. Dass es zwar 21 öffentlich-rechtliche Fernsehsender gibt, die zwischen ihre Quiz- oder Kochshows und "Tatort"- oder "Terra X"-Wiederholungen auch relevante Dokus sowie Nachrichten ausstrahlen, aber keinen einzigen eigentlichen deutschen Nachrichtensender, hängt nicht damit zusammen, dass ARD und ZDF das nicht leisten könnten. Sondern damit, dass die Sender-Anzahl auf dem Kompromiss-Stand vom Ende 20. Jahrhunderts verkrustet ist, als die Ministerpräsidenten ARD und ZDF letztmals neue digitale Fernsehkanäle zugestanden, allerdings einen reinen Nachrichtensender untersagt haben, um die (mehr oder weniger: sogenannten) privaten Nachrichtensender n-tv und N 24 nicht zu beschädigen. Ließe sich darüber nicht neu reden?
So was wäre schön und sinnvoll, realistisch ist es natürlich nicht. Realistisch ist, dass die deutschen Öffenlichen-Rechtlichen und ihre deutschen Gegenspieler vor allem aus der Verlagswirtschaft einander noch solange bekämpfen werden, bis ein großer Teil des Verlagsmedien-Angebots verschwunden sein wird, weil er sich nicht mehr finanzieren ließ, und die Akzeptanz für die Öffenlichen-Rechtlichen nicht mehr in allen Bundesländern mehrheitsfähig ist. Das könnte sogar relativ gleichzeitig eintreten – und wäre verdammt schade.