“Ich bin doch zu schade für eine_n allein…”

“Ich bin doch zu schade für eine_n allein…”
Foto: Katharina Payk
Polyamorie ist eine Praxis, zwei oder mehrere sexuelle und/oder emotionale Liebesbeziehungen gleichzeitig zu leben. Bekennend polyamor lebende Menschen sind mit vielen Vorurteilen, die u.a. mit Unwissen zu tun haben, konfrontiert.

Bist du noch monogam oder lebst du schon?, könnte die Devise vieler Menschen lauten, die sich aus dem Zwang zur exklusiven Zweierbeziehung befreit haben oder befreien wollen. In offenen und vor allem queeren Kreisen ist Poly en vogue. Poly kann etwa für Polyamorie stehen oder für polysexuell. Mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig zu haben und/oder mit mehreren Menschen in erotischen Beziehungen zu sein, entspricht manchen Menschen mehr als eine monogame Zweierbeziehung, in der meist alles auf einen Partner / eine Partnerin zentriert ist.

Polyamorie ist nicht die sogenannte “freie Liebe”, die die 60er-/70er-Generation prägte. Es geht bei Polyamorie weder um Gruppensex, noch ums wahllose “Herumvögeln”, nicht um Untreue oder Seitensprünge. Die Ausdifferenzierung und Individualisierung von emotionalen und Begehrensskripten, die wir heute erleben, erlaubt und erfordert, dass wir endlich auch über Polyamorie reden. Differenziert. Öffentlich. Medial. Kirchlich.

Meine Freundin Nadia ist lesbisch und lebt seit zwei Jahren polyamor. Sie erklärt gerne und bereitwillig, was es mit Poly auf sich hat und warum sie sich für ein Mehrfachbeziehungskonzept entschieden hat. “Ich kam aus einer langen monogamen Beziehung, und mir war klar: So will ich das nicht mehr. Früher habe ich immer versucht, alles in meiner einen Partnerin zu finden. Sie musste quasi alles verkörpern, was ich von einer Person, die ich liebe und begehre, erwarte. Ich habe sie ständig unter Druck gesetzt, glaube ich. Jetzt sind meine Beziehungen entspannter. Ich kann den Menschen, mein Gegenüber in der Beziehung, viel besser wahrnehmen und nehmen und fühle mich nicht ständig wie ein Mensch, der sein Leben nur halb lebt.“

In der Vielfalt und Fülle der Beziehungsgeflechte ist bei Polykonstrukten ein hohes Maß an Verantwortung und Achtsamkeit gefragt. Für eine_n selbst, für den_die andere_n. Nur wenn alle Beteiligten informiert sind, ist Konsens möglich. Auch nicht-sexuelle (Liebes-)Beziehungen oder BDSM-Beziehungen[1] können Teil von Polyamorie sein, viele Polykreise sind diesbezüglich offener als dies im monogamen Mainstream zu finden ist.

In monogamen Beziehungen sehnen sich viele Menschen oft nach etwas Neuem, etwas anderem oder einfach mehr. Manche darunter neigen zu spontanen Seitensprüngen, andere haben lustvolle längere Liebschaften. In einer monogam definierten Beziehung wird der_die Partner_in meist nicht über solche Ausflüge informiert. Er_sie kann in diesem Fall nicht selbstbestimmt über seine Teilnahme in diesem Beziehungsgeflecht entscheiden. Ohne Informiertheit ist kein gegenseitiges Einverständnis möglich, und ebenso auch keine Auseinandersetzung, kein Verhandeln über Bedürfnisse, Wünsche, Fantasien einer oder mehrerer Beteiligten.

Polyamorie bietet die Möglichkeit, genau das zu tun. In welcher Form und Intensität auch immer miteinander geliebt und/oder Sexualität gelebt wird: Das Ausverhandeln spielt dabei eine große Rolle. Intransparenz ist ein No-Go und verhindert Konsens und Einverständnis aller Beteiligten – die “goldene Regel” in der Polyamorie. Neben der Polyamorie gibt es weitere nicht-monogame Beziehungsformen, offene Beziehungen etwa, in denen man sich nicht gegenseitig über andere Spiel- oder Liebesgefährt_innen informiert: “Don’t-ask-don’t-tell”-Absprachen also. Somit könnte es in polyamoren Beziehungen statt “don’t ask don’t tell” eher “ask but don’t ask in detail” oder “tell but don’t tell me in detail” heißen, wenn man nicht im Detail informiert werden will.

Polyamorie heißt nicht Beliebigkeit, im Gegenteil sind sich polyamore Menschen oft sehr bewusst, warum sie sich auf wen einlassen. Insgesamt stelle ich bei vielen poly Menschen eine tiefe Reflektiertheit der eigenen Rollen, Persönlichkeitsanteile, des eigenen Begehrens und eine starke Empathie für die anderen im Beziehungsgeflecht Beteiligten fest. Das große Wort Treue wird in Polyzusammenhängen anders gefüllt als in traditionellen Zweierbeziehungen. Treue bedeutet dann etwa Verbindlichkeit und Ehrlichkeit – bei gleichzeitigem Ausleben des auf “Dritte”, also weitere Menschen, gerichteten Begehrens.

Dieser Blogbeitrag versteht sich nicht als Plädoyer für polyamore Beziehungen und nicht in Konkurrenz zu monogamen Beziehungen. Aber dort, wo es Möglichkeiten gibt, Liebe und Sexualität, Emotionen und Körperlichkeit in gegenseitigem Einverständnis zu leben und sogar gemeinsam daran zu wachsen, sollte dies akzeptiert und wertgeschätzt werden. Gerade in einem christlichen Verständnis der Liebe, wo der_die Nächste sich in vielen Facetten zeigen kann, ist ein respektvoller Umgang mit der Lebensweise polyamorer Menschen angezeigt. Außerdem gilt für poly Lebensweisen genau wie für LGB oder überhaupt jede L(i)ebensweise auch: Wie kann es falsch sein, dass Menschen sich lieben.

Gleichwohl bildet die gemeinhin angenommene Monogamie einen Zwang, den Menschen in (ungewollt) monogamen Beziehungen ständig zu erfüllen suchen, oftmals scheitern und es zu emotionalen Verletzungen kommt. Auch monogam l(i)ebende Menschen sollten verhandeln, besprechen und zu Kompromissen fähig sein. Polyamor zu leben kann eine Herausforderung sein, monogam zu leben nicht minder. Wenn zwei Menschen, die sich lieben, unterschiedliche Vorstellungen über Exklusivität in der Beziehung haben, siegt oft wie selbstverständlich die Monogamie. Weil sie bekannt ist, als normal gilt, als unumstößlich gilt. Ein zwanghafter Trend zur Polyamorie bzw. Nicht-Monogamie, wie er in bestimmten linken, queeren Kreisen etwa oft vorherrscht, schlägt freilich in die gleiche Kerbe.

In Wien findet dieses Jahr vom 31. August bis 2. September eine große Konferenz zu nicht-monogamen Praxen statt, nämlich die zweite Non-Monogamies and Contemporary Intimacies. Gehostet wird sie von der Sigmund Freud Universität Wien. Das Thema Polyamorie wird nun auch vermehrt wissenschaftlich diskutiert, so forscht Stefan Ossmann in dem vom Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien zum Thema “Polyamorie in medialer, sozialer und Identitätsperspektive”. Ziel des Projekts ist es, Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede von Eigenwahrnehmung und medial vermittelter Fremddarstellung polyamor lebender Personen zu analysieren.

Polytreffen gibt es in vielen Städten, dort treffen sich Menschen, die poly leben oder interessiert daran sind. In Wien gibt es mehrere Polygruppen, und mittlerweile auch eine queere, die sich als Queer Polyamory Meetup versteht.

Ob Poly nicht schon per se queer ist, ist umstritten bzw. liegt im Auge der Betrachter_innen. Poly zu leben, bedeutet zwar ebenfalls Diskriminierungen und Ausgrenzungen ausgesetzt zu sein wie LGBTI-Personen[2], geht aber andererseits oft mit heterosexuellen Privilegien einher, außer man lebt lesbisch, bisexuell oder schwul und poly. Stefan Ossmann hingegen ist der Meinung:

“Im Unterschied zu Personen, die sich einem Buchstaben aus dem LGBT(I)-Akronym zugehörig fühlen, gibt es für bekennende Polys keinen Minderheitenschutz – und um diesen einzufordern, müsste erst geklärt sein was Polysein oder Polyleben oder Polyfühlen eigentlich bedeutet: Status quo der Forschung […] sind drei unterschiedliche Zugänge, denen ich […] einen vierten Zugang hinzufügen möchte: Sexuelle Orientierung, Identität, intime Praxis oder Mehrfach-Liebesbeziehungen – um es genauer darzustellen: Polyamorös sein als sexuelle Orientierung (1), Polyamorös leben als Form von Identität (2), polyamoröses Handeln in Form von intimer Praxis (3), oder polyamoröses Empfinden in Form von Liebesbeziehungen zu mehr als einer Person (4). Mit dieser Erkenntnis kann in weiterer Folge die Aufnahme der Polyamorie in die ‘LGBT-Familie’ gefordert werden, und damit ist der erste wichtige Schritt in Richtung rechtlicher Anerkennung getan.”[3]

Es gibt also noch viel zu schreiben und zu forschen über Polyamorie. Und allem voran noch viel zu l(i)eben! Nadia sagt dazu: “Wenn ich die drei Zahnbürsten in meinem Zahnputzbecher sehe, dann bin ich glücklich hoch drei.”

 

 

Anmerkung: Der Titel spielt auf das Lied “Ich weiß nicht, zu wem ich gehöre” von Marlene Dietrich an, die vor ungefähr hundert Jahren sowohl bisexuell als auch poly gelebt hat.

[1] BDSM steht für bondage/discipline/dominance/submission/sadism/masochism und ist eine Erweiterung des Akronyms SM (Sadomasochismus). BDSM-Beziehungen werden sehr unterschiedlich gelebt, können mit gemeinsam gelebter Sexualität und/oder Liebe einhergehen oder sich nur um den jeweils ausgelebten Fetisch drehen. Konsens ist das A und O im BDSM.

[2] LGBTI steht für lesbian, gay, bisexual, trans*, inter*.

[3] Stefan Ossmann: 50 Shades of Polyamorie: Warum es wichtig ist, was über Mehrfachbeziehungen in der Zeitung steht, http://www.univie.ac.at/fernetzt/50-shades-of-polyamorie-warum-es-wichtig-ist-was-ueber-mehrfachbeziehungen-in-der-zeitung-steht-2/

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