Die Zeit drängt

Die Zeit drängt
Der Paragraf 175 - im Hintergrund zu sehen sind Wörter aus Akten, Urteilen gegen Homosexuelle: Haft, Zuchthaus, geschlechtliche Neigung etc.
Illustration: Rainer Hörmann
Die überfällige Rehabilitierung von Homosexuellen, die nach 1945 aufgrund des §175 verurteilt wurden, droht zu einem Gezänk über die Form der Entschädigung zu werden. Doch die Sache duldet keine weiteren Verzögerungen mehr.

Es klang nicht schlecht, was Stephan Harbath, stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, vergangene Woche via „Rheinische Post“ wissen ließ. Auf die Ankündigung des SPD-Justizministers Heiko Maas, im Oktober einen Gesetzesentwurf zur Rehabilitierung von nach 1945 aufgrund des §175 verurteilten Homosexuellen vorzulegen, signalisierte er Bereitschaft der Union, das Gesetz noch bis Ende des Jahres zu verabschieden und die Urteile aufzuheben. "Für uns steht im Mittelpunkt, dass man diesen Makel, der einem Strafurteil innewohnt, für die Betroffenen aus der Welt schafft." Angesichts des mittlerweile hohen Alters der Betroffenen wünsche man sich, dass sie die Rehabilitierung noch erleben.

Ein frommer und richtiger Wunsch und zugleich ein Kurswechsel der Konservativen, die ja bislang bei diesem Thema eher mauerten und stets juristische Bedenken geltend machten. Den Teufel im (Justiz-)Detail ließ Harbath gleichwohl nicht unerwähnt. Wenn es um eine Entschädigung ginge, käme dies für die Union nur im Einzelfall in Frage. Damit ist trotz des Einvernehmens im Grundsatz auch der Unterschied zur SPD markiert, die zudem für eine kollektive Entschädigung plädiert. Unterstützt wird sie darin von der Bundesvertretung schwuler Senioren (BISS). Ein kollektiver Ausgleich solle, so ist auf queer.de zu lesen, der Einschränkung der Bürgerrechte Rechnung tragen, denn für Homosexuelle sei "bis Ende der 1960er Jahre das Recht auf die Bildung von Vereinen und Organisationen unter dem Sittengesetz eingeschränkt" gewesen.

Noch ist unklar, in welcher Tonlage die Debatte ausgetragen werden wird. Für Lesben und Schwule wird es generell ein wichtiges Zeichen sein, dass ein Rechtsstaat bereit ist, die falschen Verurteilungen von Menschen nach 1945 aufzuheben. Noch mehr allerdings für die tatsächlich Betroffenen - sie haben Jahrzehnte auf eine Rehabilitierung gewartet! Das mögen viele als rein juristischen Aspekt sehen, die Dimension ist aber eine menschliche und darum auch eine christliche.

Um kurz das Ausmaß der Verfolgung zu skizzieren, sei aus einem von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes im Mai diesen Jahres veröffentlichten Gutachten (PDF) zum rechtlichen Rahmen einer Rehabilitation zitiert:

"So kam es [in der Bundesrepublik] zwischen 1945 und 1969 aufgrund der §§175, 175a StGB zu etwa 100.000 Anklagen und ca. 45.000–50.000 Verurteilungen, und damit zu ähnlich vielen Strafverfahren wie in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, während es in der Weimarer Republik ‚lediglich‘ 9.375 Verurteilungen gegeben hatte. Allein zwischen 1952 und 1962 wurden jährlich ca. 3.000 Homosexuelle aufgrund von Verstößen gegen §§175, 175a rechtskräftig verurteilt."

Nach 1969 wurde der "175-er" entschärft, einvernehmliche Sexualität unter erwachsenen Homosexuellen entkriminalisiert, und 1994 - als der Paragraf abgeschafft wurde - kam es, aufgrund von Schutzalter-Bestimmungen u.ä., "noch zu weiteren 3.500 Verurteilungen, davon in den letzten Jahren zu ca. 100 Verurteilungen pro Jahr".

In der DDR übernahm man nach Kriegsende zwar nicht, wie in der Bundesrepublik, die durch die Nazis verschärfte Fassung des §175, gleichwohl blieb es bis 1957 bei einer Strafbarkeit. Das Rechtsgutachten gibt an, die "Verfolgungsintensität" sei in der DDR "fünf Mal geringer" als in der BRD gewesen.

Solche Zahlen können schwerlich das Leid der von unmittelbarer Strafverfolgung Betroffenen vermitteln. Denn es blieb ja nicht bei einer Haftstrafe. Christine Lüders, Leiterin der Antidiskriminierungsstelle, beschreibt es so: "Sie verloren nicht selten Arbeitsplatz und Wohnung und erlitten soziale Ausgrenzung. Das Leben Hunderttausender weiterer schwuler Männer wurde durch die Angst vor Entdeckung, Erpressung und Existenzvernichtung geprägt."

Inzwischen liegen die jüngsten Verurteilungen knapp 50 Jahre zurück. Ein Umstand, der schon rein formal das Prüfen von Einzelansprüchen erschwert: "Es ist davon auszugehen, dass in den allermeisten Fällen die maßgeblichen Verfahrensakten nicht mehr verfügbar sind und auch die Betroffenen nicht mehr über entsprechende Unterlagen verfügen", heißt es im bereits erwähnten Rechtsgutachten.

Ich finde es eine schlimme Vorstellung, dass Homosexuelle, deren Leben durch Verfolgung und Diskriminierung gezeichnet ist, nun, am späten Abend ihres Lebens, sich einer solchen Bürokratie ausgesetzt sehen sollen. So klingt für mich das Beharren der Union, dass nur im Einzelfall Entschädigung möglich sein soll, nach Schikane, nach einer weiteren Diskriminierung von Menschen, die genug diskriminiert wurden.

Während die Unionsparteien aber einzig diese Möglichkeit der Entschädigung akzeptieren wollen, ist der vom Justizminister vorgelegte Entwurf pragmatischer und weitsichtiger. Er sieht, laut Tagesschau.de, drei Möglichkeiten vor. Neben der Individual-Entschädigung für Haft- und Geldstrafen soll es einen Entschädigungsfonds für Härtefälle geben. Er wäre für jene Menschen, die nicht in der Lage sind, die notwendigen Nachweise zu erbringen. Darüber hinaus soll es eine Kollektiventschädigung geben, eine Form des "Ausgleichs", die in Form einer finanziellen Unterstützung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld stattfinden könnte. Dass sich die Politik eine von ihr selbst geschaffene Stiftung wählt, mag zwar nicht der allerbeste Weg, aber ein sehr naheliegender sein. Zumal sich die Hirschfeld-Stiftung ohnehin wissenschaftlich dem Thema widmet, unter anderem durch ein Archiv-Projekt, das die Geschichten der noch lebenden Zeitzeugen aufzeichnen soll.

Für Schwule und Lesben, Bisexuelle und Transgender, die heute in einer offeneren Gesellschaft leben, bleibt die Geschichte der systematischen Verfolgung von Homosexuellen durch den Staat in jenen Jahrzehnten der Hintergrund ihrer (und meiner) heutigen "Freiheit". Die Geschichte(n) der Verurteilten, der Betroffenen, sind unsere, meine Geschichte. Darum kann ich der Idee, als kollektiven "Ausgleich" auch die Erforschung und Archivierung dieser Geschichte zu fördern, viel abgewinnen. Umso mehr, als viele derer, die es zu rehabilitieren gilt, längst gestorben sind. Zu Lebzeiten konnten sie nicht über ihr Leben berichten. Es braucht Historiker, die für uns die Hinterlassenschaften - nur nebenbei: auch in Hinblick auf die Rolle der Kirchen bei der Kriminalisierung und Verfolgung in jenen Jahrzehnten - zum Sprechen bringen können. Durch Förderung solch weiterführender Projekte und Institutionen könnte Entschädigung nicht als einmaliger Schlussstrich, sondern als Verantwortung für Aufklärung (auch gegen Homophobie) und für die Gestaltung künftigen Lebens verstanden werden kann.

Das, was an finanzieller Entschädigung für den Einzelnen möglich ist, wird für die noch lebenden Betroffenen sehr spät, vielleicht zu spät kommen und ohnehin nur das Heute lindern (bestenfalls), aber niemals das über Jahrzehnte zugefügte Unrecht und Leid. Ich bin mir sicher, dass darum für die meisten noch lebenden Betroffenen die Aufhebung der Urteile der entscheidende Punkt ist. Sie wurden verfolgt und bestraft, nur wegen ihrer Homosexualität. Ihre Würde, ihr Ansehen muss wieder hergestellt werden. Nicht nur im Privaten, sondern in der Öffentlichkeit. Nicht nur in einem singulären Akt, sondern als dauernde Verantwortung.

Das duldet eigentlich keinen Aufschub mehr!

 

Nachtrag: In meinem Text kommen die Geschichten verurteilter Homosexueller zu kurz. Darum möchte ich hier auf einige Quellen verweisen: So etwa die preisgekrönte, 18-minütige Dokumentation „Verboten schwul“ von Ende 2014, die in der Mediathek des Bayerischen Rundfunks abrufbar ist. Der Autor Wolfgang Kerler hat vieles aus seiner Dokumentation auch in einem Beitrag „Der Paragraf 175 und seine juristische Aufarbeitung“ im Deutschlandfunk dargestellt. Auf  „Spiegel Online“ findet sich ein Bericht/Video über den nach §175 verurteilten Klaus Born. Hier wird auch deutlich, wie aus einer Haft resultierende Schwierigkeiten, eine Arbeit finden zu können, noch heute Auswirkungen haben - u.a. in Form einer niedrigen Rente. Ferner sei auf einen Beitrag des NDR „Verurteile Schwule. Eine ‚Schande‘ bis heute“ verwiesen, in dem - sehr selten - ein ehemaliger Richter zu Wort kommt, der in den sechziger Jahren sechs Homosexuelle verurteilt hat. Klaus Beer setzt sich heute für die Rehabilitierung von verurteilten Homosexuellen ein. Die Magnus Hirschfeld Stiftung hat ein Projekt „Archiv der Erinnerungen“ initiiert, auf der Internetseite sind mehrere Video-Interviews mit Zeitzeug_innen abrufbar, in denen die Auswirkungen des §175 auf die Lebenssituation und Lebenserfahrung sichtbar werden.

 

 

 

 

 

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