Wieder da: das Konzept Wahrheit

Wieder da: das Konzept Wahrheit
Eine neue, alte Idee, die journalistischen Medien einen Schub geben könnte. Der neue Deutschlandfunk Nova sollte besser Deutschlandfunk No-go heißen (oder so; findet Ernst Elitz). Was Horst Seehofers Medienpolitik mit Seehofers Flüchtlingspolitik gemeinsam hat (und welche Friedrich-Küppersbusch-Idee der CSU-Chef liken dürfte). Außerdem: wie digitale Medien und Kampfdrohnen ihre Zielgruppen immer besser erreichen; 127.095.193,85 Euro im Jahr für "Sportschau"-Bundesliga-Rechte.

"Wir müssen unsere digitale Freiheit verteidigen!"

Diese Aussage ist so likeable und shareable wie sie snackable ist. Doch Achtung, bevor Sie den Daumen heben und sie mit all Ihren Freunden teilen: Drumrum im Originalkontext steht stärkerer Tobak.

Der bild.de-Chefredakteur Julian Reichelt erhob die Forderung Anfang der Woche. Und weil Bild-Zeitungs-Medien ja auch nicht mehr sind, was sie waren (bzw. online ohnehin nur ohne Werbeblocker wahrgenommmen werden könnten), hat kress.de sie dann noch mal, äh, dokumentiert.

Reichelt hat also von Kalifornien aus, von einem "Cyber Security Summit" -  von dem das Handelsblatt in der Rubrik "Unternehmen" berichtet, da die Deutsche Telekom ihn mitveranstaltete - in einer Gemengelage aus aktueller Wut über Mordangriffe in Syrien und allgemeiner Wut gegen Edward Snowden (mehr zum Kinostart weiter unten)

"gegen Putin einen digitalen RIAS ... !"

gefordert.

Das Akronym RIAS stand einst, nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die frühen 1990er, für "Rundfunk im amerikanischen Sektor". Damals sollte der sowjetisch-kommunistischen Propaganda von West-Berlin aus mit zweifellos häufig erheblich wahreren Berichte begegnet werden. Bzw., wie Reichelt formuliert:

"Als die Sowjetunion über Radiowellen ihre Propaganda nach West-Berlin und West-Deutschland sendete, setzten die USA diesem Anschlag auf die Wahrheit den RIAS entgegen – den Rundfunk im amerikanischen Sektor. Was wir brauchen, ist ein RIAS-Konzept für das digitale Zeitalter!"

Denn:

"... Russland ist es durch eine digitale Großoffensive gelungen, Zweifel am Konzept Wahrheit zu säen. Die Logik der Geheimdienstprofis im Kreml: In einer Welt ohne Wahrheit kann man alles behaupten, alles tun und alles abstreiten, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen."

Ja, ist denn nicht, zumindest im sog. Westen, das ganze Internet ein amerikanischer Sektor, in dem 100 und ein paar zerquetschte Prozent aller digitalen Kommunikation über Betriebssysteme, Apps und Netzwerke laufen, die kalifornischen Unternehmen gehören? Die durchaus gelegentlich Werte und Gesetze ihrer Heimat anwenden, um Inhalte, die dazu nicht passen, herunterzuranken oder zu löschen? Und die überdies, um mal rasch (via Twitter aus San Francisco) zu Snowden zu schalten, laufend weitere diesbezügliche Angebote (Details, warum sie Googles neuen Messenger "Allo" lieber nicht nutzen sollten, auf deutsch bei netzpolitik.org) unterbreiten?

Doch schon, aber

"als profitorientiertes Unternehmen, das es ausdrücklich von sich weist, Teil der Medienindustrie zu sein, will sich Facebook nicht damit aufhalten, Konflikte über Inhalte mit zweifelhaftem Wert für die Öffentlichkeit zu klären - nicht zuletzt deshalb, weil das zu viel kosten würde",

argumentiert ein weiterer großer Warner, Evgeny Morozov, gerade (FAS-Artikel wider den "neofeudalen Daten-Extraktivismus", bei faz.net nun frei online). Um zu noch unverzichtbareren Infrastruktur-Anbietern als bisher schon zu werden, dürfen US-amerikanische Internetkonzerne sich einstweilen nicht offen als Medien zu erkennen geben, sondern bieten Infrastrukturen für fast immer fast alle an.

Insofern könnte Reichelts "Konzept Wahrheit" ("Offensivstrategien entwickeln, um" u.a. "die Konzepte von Wahrheit, Fakten und vertrauenswürdigen Institutionen wieder zu stärken"), das geschickt auch das gerade schwer trendende "Mem von den russischen Hackern" (wolfgangmichal.de) einsetzt, vielen vom Medienwandel bedrohten journalistische Medien ganz neue Chancen bieten: Eine Wahrheit Bild könnte die Strukturen der Fußball Bild mitnutzen, auch wenn der Markenkern der klassischen Bild-Zeitung geschwächt werden mag. Online dürften Nachrichtenportale, die sich auf wahre Meldungen konzentrieren, ihre Nischen finden, wenn sie nur halbwegs langen Atem beweisen. Und zum öffentlich-rechtlichen Grundauftrag sollte die Verbreitung von Wahrheit mindestens so gehören wie die von Fußballspielen, dürfte das Bundesverfassungsgericht am Ende urteilen. Wie wär's mit einem Sender Eins Veritas (oder besser Eins Truth?) anstelle von Tagesschau 24? Und falls staatlich US-amerikanische Stellen sich am Budget beteiligen wollen sollten (ein Präsident Trump würde vielleicht nicht, aber eine Präsidentin Clinton wohl schon), warum denn nicht?

[+++] Nicht nur ältere Medienbeobachter wissen, sondern auch wer gestern das Altpapier (bzw. den dort empfohlenen Tagesspiegel-Artikel) las, weiß, dass RIAS außerdem der vorvorletzte bis vorvorvorletzte Name eines der Deutschlandfunke war, die im kommenden Frühling umbenannt werden sollen.

Weil diese Meldung medienmedienmäßig ein ziemlicher Scoop ist, blieb der Tsp. dran und fragte eine eklektizistisch zusammengestellte Schar Experten nach ihrer Meinung dazu, darunter den Deutschlandradio-Veteran und ja auch Bild-Zeitungs-bekannten Ernst Elitz.

"Und zur Verwandlung von DRadio Wissen in Deutschlandfunk Nova sagte Elitz: 'Ein No-go'".

Sofern sie nicht schon bis zum "v" gekommen sind, werden die Schildermaler das ja noch hinbekommen. Außerdem äußern sich Tim Renner sowie Friedrich Küppersbusch, der stante pede Vorschläge entwickelte, die geradezu Horst Seehofer gefallen könnten:

"Küppersbusch stellt sich in diesem Zusammenhang eher die inhaltliche Frage an den gebührenfinanzierten Rundfunk: 'Wieso ist das Programm von Deutschlandradio Kultur nicht der Mantel, in das die jeweiligen Landessender der ARD ihre Kulturstrecken einkleiden? Mal ehrlich, was im Saarland oder Bremen an genuiner Kultur abgeht, passt in eine Morgenschiene und eine Stunde am Nachmittag.' Jetzt, wo die ARD sparen müsse, könnte sie ihre regionalen Kulturwellen verschlanken, Geld sparen und am Ende ginge der Hörer mit einem besseren Programm vom Tisch."

Falls Seehofer unter seinen Bundesländer-Kollegen in diesem Jahrzehnt noch keine Mehrheit für seine ARD-ZDF-Zusammenlegungsidee hinbekommt, wäre das eine fast aller Gesichter wahrende Kompromisslössung (und der genuin Bremer Bass fickt ja nicht auf der Kultur-, sondern auf der Jugendwelle; vgl. Altpapier).

[+++] Jedenfalls wird sich am morgigen Freitag, wie die Medienkorrespondenz meldete, die Arbeitsgruppe "Auftrag und Strukturoptimierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten" treffen. Daher enthüllt Michael Hanfeld auf seiner FAZ-Medienseite heute "Was hinter Seehofers Plan für ARD und ZDF steckt". Genau die Strategie, die auch hinter Seehofers flüchtlingspolitischen Einlassungen stehe, sei es:

"Die Idee, aus zwei öffentlich-rechtlichen Senderfamilien – mit all ihren Nebenprogrammen in Fernsehen, Radio und Internet – eine zu machen, markiert eine Maximalposition, an der sich ruhig alle anderen abarbeiten und als Retter des öffentlich-rechtlichen Rundfunks inszenieren können, solange sie sich dann aber vielleicht doch in die Richtung bewegen müssen, die der CSU vorschwebt. In dem Punkt ähnelt die Medien- der aktuellen Flüchtlingspolitik."

Der Artikel steht noch nicht frei online; falls Sie ihn schon lesen wollen: 45 Cent bei Blendle. Dagegen inzwischen frei online steht jetzt die neulich hier schon erwähnte Seehofer-Forderungs-Kritik von Diemut Roether im aktuellen epd medien-Tagebuch.
 


Altpapierkorb

+++ Zielgruppen punktgenau erreichen wollen alle Medien und können es in der Digitalära immer noch besser. Tagesaktuell fiel die Formulierung auf einem Podium der Österreichischen Medientage, auf dem Fernsehmacher aus Österreich, Deutschland und der Schweiz über Netflix und so was diskutierten (und falls nicht einfach die österreichische Presseagentur APA gut im Zusammenfassen ist, scheint es, dass in Österreich sinnvoller über solche Themen diskutiert wird als auf deutschen Medienkongressen). +++

+++ Wer Zielgruppen noch punktgenauer erreichen kann: US-amerikanische Kampfdrohnen. Sie "können ein Mobiltelefon am Boden bis auf wenige Meter genau orten. Alles, was sie dazu brauchen, ist die Mobilfunknummer oder die Gerätenummer des Telefons (IMEI) beziehungsweise der SIM-Karte (IMSI)", fasst Kai Biermann bei zeit.de ein von netzpolitik.org veröffentlichtes, für den Geheimdienst-Untersuchungsausschuss des Bundestages verfasstes Gutachten des Hamburger Informatik-Professors Hannes Federrath zusammen. Außerdem geht es im zeit.de-Artikel um einen (natürlich geheimen) Disclaimer, den deutschen Geheimdienste allen Daten, die sie an US-amerikanische Kollegen schickten, mit gaben. +++

+++ Die TAZ hat herausgefunden, wieviel genau die ARD ab 2017 für ihre Fernseh-Rechte an der Fußball-Bundesliga bezahlt:  "Der Bruttobetrag (bei 7 Prozent MwSt.) beläuft sich demnach auf 127.095.193,85 € pro Saison", heißt es in einem für den MDR-Rundfunkrat bestimmten Papier. Fast noch interessanter: "Aus dem Papier ... geht auch hervor, für welche TV-Pakete sich die ARD noch beworben hat – und wofür sie keinen Zuschlag bekommen hat: Wenig überraschend versuchte man erneut die Free-TV-Livespiele zu bekommen, die diesmal ans ZDF gingen." Der Beweis, dass ARD und ZDF sich gegenseitig überbieten, ist also angetreten. +++

+++ +++  Der vor allem in Bayern, wo Edward Snowden persönlich gar nicht aufkreuzen dürfte, gedrehte Oliver-Stone-Spielfilm (Altpapier aus dem März 2015) um den Whistleblower kommt in die deutschen Kinos. "Würde man die Geschichte Edward Snowdens nicht kennen und wüsste nicht, dass der Film auf einer wahren Begebenheit aufbaut, dann wäre ein Eindruck des Filmes: So wenig Schüsse, so wenig Explosionen. Das kann doch nichts werden. Doch der Film versucht eben der Person Snowdens, seiner Vorgeschichte und den Geschehnissen rund um die Veröffentlichung der geheimen Dokumente gerecht zu werden. Und das gelingt ziemlich gut ..." (noch mal netzpolitik.org). +++ Als eine der bayerischen Kulissen diente übrigens "die Evangelische Akademie Tutzing mit ihrem Schloss und ihrem Park" (ev-akademie-tutzing.de). +++

+++ "Der partiell identifizierbare Schulterschluss zwischen Verwaltung und Redaktion zur Steigerung von Online-Reichweiten für die Werbevermarktung erzeugt ein hochgradig oszillierendes Pendeln zwischen dem Selbstverständnis des Journalismus als Kultur- oder Wirtschaftsgut. Nachrichtenfaktoren scheinen sich im Medienwandel stärker nach der Sensation auszurichten, denn nach reflektierter Relevanz ..." (aus einem nicht ganz leicht lesbaren, aber lesenswerten Stück des St. Pöltener Publizistikprofessors Jan Krone bei carta.info, in dem es auch um die Gefahr der "Verwechselung der kommunikativen Genres Information und Unterhaltung" geht). +++

+++ Von der gestern hier erwähnten Betriebsversammlung bei der Ostsee-Zeitung und den Lübecker Nachrichten, auf der den Mitarbeitern der Madsack-Zeitungen die gestern hier erwähnten Stellenstreichungen bekannt gegeben wurden, berichten meedia.de und das Verdi-Medium mmm.verdi.de. +++

+++ Gestorben ist Klaus Harpprecht, der u.v.a. auch für den RIAS gearbeitte hat. "Wie man ein erfülltes journalistisches Leben führt", heißt Michael Naumanns Nachruf in der FAZ. +++ "Die katholische Kirche hat der evangelischen Kirche die Macht voraus, die Pracht und die Herrlichkeit. Aber eines fehlt den Katholiken komplett; und es wird ihnen fehlen, solange das Zölibat für ihre Priester gilt: Es fehlt ihnen die Kraft, die im evangelischen Pfarrhaus steckt ...", leitet Heribert Prantl den seinen im SZ-Feuilleton ein. Aus seinem Pfarrhaus stammte auch Harrpprecht. +++ Den DPA-Nachruf gibt's im Tagesspiegel. +++ Das medium magazin hat sein Harpprecht-Interview von 2011 wieder hervorgeholt. +++

+++ Ebenfalls gestorben ist Ernst Fischer. "Als Ernst Fischer mein neuer Chef wurde, hatte ich gerade das Volontariat bei der Hamburger Morgenpost begonnen, einem Blatt mit schon damals sehr wechselvoller und zuletzt unruhiger Historie ..." (Georg Altrogge bei meedia.de). +++  "Nach ein paar Jahren wechselte er in die Chefredaktion des Stern, dem es damals auch noch anders ging als heute. In einem Rückblick auf seine Magazin-Zeit in Hamburg schrieb Fischer 1998 mal den Satz: 'Manchmal hatte ich das Gefühl, ich müsste erst das beidarmige Ausgeben von Geld lernen.' Ja, so war das damals bei Gruner + Jahr..." (Kurt Kister, SZ, "Vier Chefredaktionen und-etwas Kir Royal"). +++

+++ "Quatsch mit Bratensoße" nennt die SZ-Medienseite die neue ARD-Show "Moni's Grill", deren Genre sie "Schwank-Talk-Hybrid" nennt. +++ "Halb Serie, halb Talkshow und nur halb gelungen", "mehr leidlich als lustig, aber viel Zeit bleibt ohnehin nicht in den halbstündigen Episoden, deren fiktionaler Teil bei weitem der gelungenere ist" (Heike Hupertz, FAZ). +++

+++ Außerdem auf der FAZ-Medienseite: der Prozess gegen Can Dündar in der Türkei, der in Abwesenheit des Ex-Chefredakteur der Cumhuriyet, aber in Anwesenheit von Dündars Frau (der die Ausreise verboten wurde) und des mitangeklagten Kollegen Erdem Gül begonnen hat. Warum noch mal? Weil Dündar und Gül staatliche türkische Waffenlieferungen an syrische Islamisten aufgedeckt hatten. +++ Und mehr über Googles neuen Messenger Allo (siehe oben): "Allo ist eine tumbe Maschine, die wie Facebooks Bilderkennungssoftware ein Surfbrett bisweilen mit einer Strandschönheit verwechselt, dafür aber unsere Daten ausbeutet, um sprachliche Schablonen oder Babylaute wie 'Awwww' zu erzeugen. Das technische Upgrade geht mit einem kulturellen Downgrade einher; der Diskurs wird infantil, der Nutzer reproduziert mit jeder Eingabe Klischees und Stereotype. Das macht ihn noch berechenbarer ...", schreibt Adrian Lobe. +++

+++ Der neue Fernsehsender Kabel eins Doku ist Thema im Tagesspiegel und in der Süddeutschen ("Beim Blättern durch die Programmzeitschriften könnte man den Eindruck einer wahren Informationsoffensive im Privatfernsehen bekommen. Während die Öffentlich-Rechtlichen an Dokumentationen in den vergangenen Jahren eher gespart haben und sie in Randzeiten verbannen, setzen die Privatsender verstärkt darauf. Doch die Freude über die vermeintliche Informationsoffensive hält meist nur, bis man die Formate einmal eingeschaltet hat"). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

 

 

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