Bilder können mehr als tausend Worte sagen, lautet eine der insgesamt eher richtigen als falschen Binsenweisheiten. Einen Überblick über Meinungen zum tagesaktuell meist verwendeten Foto gibt es hier nebenan:
Diakonie-Katastrophenhilfe, Unicef Deutschland und Misereor raten, es nicht zu zeigen, die Kindernothilfe dagegen doch. Falls Sie geklickt haben, haben Sie den kleinen Clou bemerkt: Das Foto, um das es geht, ist im evangelisch.de-Artikel überhaupt nicht zu sehen. Falls Sie "Omrans Leid", wie die gedruckte Süddeutsche es heute auf ihrer Titelseite nennt, gerade nicht vor Augen haben: Hier z.B. (Tagesspiegel) ist es groß zu sehen und gibt zu erkennen, dass es aus einem Video stammt; hier (Sophie McNeill via Twitter) wird es begleitet von einer guten Nachricht begleitet. Grundsätzlich zirkulieren auch erheblich schlimmere Bilder als dieses, das in Aleppo entstand.
[+++] Wer auf starke Bilder reagiert, sollte auch einen Blick auf das DPA-Foto von der Solidaritätskundgebung für eines der vielen verbotenen Medien in der Türkei werfen. Es zeigt traditionell verschleierte Frauen sowie untraditionell genau so verschleierte Männer mit Druckausgaben der Özgür Gündem. Darunter berichtet Cigdem Akyol über das Blatt und sein aktuelles, insgesamt 51. Verbot, das sie als "Vorzeichen für Schlimmeres" wertet.
Vor demselben Hintergrund stellt Karen Krüger auf der FAZ-Medienseite die Özgür Gündem-Kolumnistin und Schriftstellerin mit dem auf den ersten Blick irreführenden Namen Asli Erdogan vor ("eine zierliche, scharfsinnige Frau mit rotbraunen Locken, die kraftvoll, aber auch scheu und innerlich stark verwundet wirkte. Diese irritierende Ambiguität hatte, wie ich später verstand, das gesellschaftliche Klima in der Türkei mit der damals", 2008, "Einundvierzigjährigen angerichtet"). Asli Erdogan ist gerade ebenfalls verhaftet worden.
Darunter steht ein frisches Kurzinterview mit dem aus demselben Grund im Exil befindlichen, gern interviewten Can Dündar. Der erklärt seinen Rücktritt vom Amt des Cumhuriyet-Chefredakteurs als "eine neue Phase in unserem Kampf für eine demokratische Türkei".
[+++] Tausende Worte können natürlich ebenfalls viel sagen, mitunter mehr als die Summe ihrer Zeichen. Ein deutscher Großmeister des Umreißens neuer medialer Phämonene durch stets mehrere Beschreibungen, die allesamt so spannend klingen, dass sie jeweils auch selbst als neuen mediale Phämonene durchgehen könnten, ist der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Ein Beispiel aus der aktuellen Die Zeit-Ausgabe (Blendle-Link; der Artikel kostet für Zeit-Verhältnisse günstige 59 Cent):
"Denn hier zeigt sich eine eigene Kybernetik der Erregung, eine von Feedbackschleifen und Signalblitzen getriebene Erhitzung der öffentlichen Welt ... eine sich zunächst selbst organisierende, dann blitzschnell von Profis verstärkte Mechanik der publizistischen Infektion ... ein Geschäftsmodell von Digitalpublizisten ... , die radikal auf den Individualerfolg von Informationspartikeln setzen."
Diese Kaskade umkreist das, was Pörksen gleich am Anfang noch präziser "digitale Erregungsindustrie" nennt. Etwas ungewöhnlich ist, dass er ein konkretes deutsches Objekt seiner Kritik nennt:
"Was passiert, wenn man diese Mechanismen der Totaloptimierung als journalistisches Medium kopiert, lässt sich intensiv bei Focus online studieren, einem der erfolgreichsten deutschen Medien in den sozialen Netzwerken. Hier hat man im Grunde genommen die Chefredaktion an die Daten- und Reichweitenspezialisten abgetreten. Publiziert wird, was gefällt – düstere Flüchtlingsstorys, fahrlässige Berichte über eine entführte Geisel, sinnlose Live- und Newsticker, die aber viele Millionen Mal geklickt werden."
Unmittelbar im Anschluss geht es zum Kern des Problems:
"Das Problem ist: Eine politisch umfassend informierte Öffentlichkeit kann so gar nicht entstehen. Prinzipiell nicht. Denn diese folgt anderen Grundsätzen. Sie zielt nicht zuerst auf den Hype und den viralen Rekord eines einzelnen Aufregers. Sie begreift ihr Publikum nicht als Klickvieh ..."
Die Öffentlichkeit begreift ihr Publikum, oder wie?
Ganz leicht zu verstehen sind Pörksens Artikel nicht immer. Aber auf ihre Weise wirken sie häufig selbst auch schön erregend. Und den konkreten guten Rat "Bis auf Weiteres zeigt sich publizistisches Ethos in jedem Fall im Ignorieren von Zahlen" nehmen wir gerne mit.
[+++] "Brei medialer Begriffsbildungen", "Hilfs- und Ahnungslosigkeit des kommentierenden Gewerbes", dann noch "fortgeschrittener Verhältnisblödsinn" sowie "mediengerecht-simple, psychopolitische und geschichtsphilosophische Spekulationen":
Auch hier wird Medienkritik in großem Bogen kaskadenhaft betrieben, nun aber als klassischer Leitartikel zu einem speziellen Thema. Rudolf Walther erregt sich in der linken TAZ darüber, wie weniger linke Zeitungen wie FAZ, Welt und auch die SZ über Terror-Amok-Gewalt berichteten. Mit den Beispielen, die er nennt (und die online zum Teil verlinkt sind), hat er gewiss recht. Vermutlich hängen sie auch damit zusammen, dass eben alle gedruckten Zeitungen Teil der "digitalen Erregungsindustrie" (Pörksen) sind oder sein wollen, und schon aus Kostengründen Texte, die online funktioniert haben, in ihren Zeitungen weiterverwenden. Dass Walter seine Beobachtungen allerdings in so einem Alarm-Tonfall vorträgt, wie er ihn auf der ins Visier genommenen Gegenseite beklagt, relativiert die Wirkung. Leitartikel, die sich nicht aufregen, scheinen gar nicht zu gehen in Deutschland, auch nicht in der TAZ.
[+++] Außerdem Aufmerksamkeit, kritische, verdient das derzeit erscheinende komplex strukturierte Epos auf Maren Müllers publikumskonferenz.de. Sein Teil X heißt "Greek Myths 10 – 13" und ist unterteilt in die Kapitel "10 Die Geschichte von der guten Mutter (Teil I)", "11 – Die Geschichte von der guten Mutter (Teil II)", "12 Der rätselhafte Herr Varoufakis" sowie "13 Der arrogante Herr Varoufakis".
Die Anzahl der Worte liegt über 4.000. Leser erwartet aber kein Online-Äquivalent zur Bleiwüste, sondern ein mit farbigen Infokästen, Screenshots von anderen Webseiten und eingebundenen Youtube-Videos abwechslungsreich gestalteter Longread. Die Videos enthalten als Darstellungsformen beispielsweise: mit Musik unterlegte schriftliche und vorgelesene Zitate, Audio-Zitate aus anderen Quellen sowie (Video-)Ausschnitte aus den ARD-"Tagesthemen". Diese Ausschnitte zeigen zum Beispiel Beitrags-Anmoderationen Thomas Roths sowie in solche Beiträge einst dreisekündig eingeschnittene, nun jedoch länger zum Standbild eingefrorene "demonstrativ negative 'Publikumsreaktionen'".
Was damit belegt werden soll:
"wie wichtig der ARD das Erzeugen positiver Gefühle für die Bundeskanzlerin ist",
bzw. im Februar 2015, aus dem die Beispiele stammen, war, und wie wichtig das Erzeugen anderer Gefühle gegenüber dem damaligen griechischen Finanzminister gewesen sei. Bzw. will Müller
"sachlich präzise den Vorwurf einer erstens einseitigen, zweitens regierungsnahen, drittens manipulativen und viertens Feindbild konstruierenden Berichterstattung innerhalb der Hauptnachrichtenformate der ARD nachweisen",
wie im mit Bezug auf den "Wettlauf zwischen Hase und Igel" (Wolfgang Michal) verfassten, jedenfalls lesenswerten Epos-Vorwort steht.
Das also versucht sie mit Kategorien wie der "NLP-Technik (Neuro-Linguistisches Programmieren)", die Caren Miosga ihrer Meinung nach anwandte, mit linguistischem "Rekontextualisierung/Reframing" und jedenfalls mit enormer Akribie.
Gelingt es, hat sie recht? Um das zu beantworten, müsste man mindestens das ganze Epos (dessen jüngster Teil "Greek Myths 14-16" gestern abend online ging) gelesen haben. Igel, die das tun, müssen bedenken, dass sie Hasen zumindest dann völlig aus den Augen verlieren, wenn nicht vorher ein gemeinsames Ziel fest verabredet wurde ...
Zumindest aber macht das publikumskonferenz.de-Epos gut deutlich, dass jedes Stückchen Füllmaterial, wie es alle Medien reichlich verwenden, zum Beispiel ein im Studiohintergrund hinter dem anmoderierenden Moderator groß eingeblendetes Foto, immer aus irgendwelchen Kontexten stammt oder sogar gerissen wurde. Und dass schon das missverständlich oder Anlass für Kritik sein könnte.
[+++] Manchmal, wo es weniger bis nicht nötig ist, weniger oder keine Fotos zu verwenden, könnte sinnvoll sein.
"Journalismus heute also ist (ob man das mag oder nicht): Informationen auf potentiell unendlich vielen Kanälen, in allen Darstellungsformen und völlig losgelöst davon, ob es dazu auch ein analoges Pendant gibt oder nicht. Es gibt Bewegtbilder in allen möglichen Varianten, Audios, Texte, Animationen, es gibt…äh, sind Sie noch da?" (Christian Jakubetz, blog-cj.de)
Falls ja: harte Fakten, kompakt Neues folgt im ...
+++ Auf der gedruckten SZ-Titelseite (und online): "USA geben Oberhoheit über das Internet ab". Heißt: Künftig werden die US-Amerikaner in der Icann (Internet Corporation for Assigned Names and Numbers) "theoretisch dieselbe Rolle einnehmen wie alle anderen Regierungen. Während Netzkonzerne wie Facebook, Google und Microsoft die Entscheidung unterstützen, äußerten sich insbesondere republikanische Politiker wie der ehemalige Präsidentschaftskandidat Ted Cruz entsetzt". +++ Auf der Meinungsseite kommentiert Johannes Boie: "Das bedeutet auch, dass die Icann, deren Zentrale in Kalifornien steht, auf absehbare Zeit in der Jurisdiktion der USA verbleibt, dem Mutterland der Meinungsfreiheit. Dass es auch daran wieder Kritik gibt, mögen die Freunde von Edward Snowden verstehen. Aber was wäre die Alternative? Niemand möchte, dass die zentrale Verwaltung des Netzes künftig von China oder von Russland aus gesteuert wird." Und Europa gibt's ja gar nicht, im laufenden Jahrzehnt. +++
+++ "Deutschland muss sich fragen lassen, ob es für diese Zukunft hinreichend gerüstet ist. Die neue Technologie betrifft die bedeutenden Industriezweige." Was meint der Tagesspiegel da: schnelles Internet in der Fläche? Suchmaschinen? Onlinejournalismus, der sich irgendwie refinanziert, wohl nicht, das betrifft ja kaum Industriezweige. Also: selbstfahrende Autos oder andere sog. künstliche Intelligenz? Freies W-LAN, E-Government, fortlaufend erzählte Fernsehserien? Nein, um Virtual Reality und entsprechende 3D-Brillen geht's, denn Kurt Sagatz ist gerade auf der Gamescom. +++
+++ Wofür Deutschland auch nicht gerüstet ist: Digitalradio. Den Stand der DAB+-Debatte fasst Diemut Roether in der aktuellen epd medien-Ausgabe zusammen: Während Marc Jan Eumann von der SPD "ein Problem der nordrhein-westfälischen Medienpolitik" "als Vorwand" benutzen wolle, "um den bundesweiten Digitalisierungsprozess zu blockieren. Zum Thema Medienpolitik fällt der SPD seit Jahren nicht viel mehr ein als Medienkompetenzförderung", läuftt's bei der CSU so: "Eigentlich wäre es Sache des Digitalradioboards im Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, das im vergangenen Jahr von Staatssekretärin Dorothee Bär ins Leben gerufen wurde, einen Plan für die Digitalisierung des Hörfunks vorzulegen. Im Juni 2015 hieß es nach der ersten Sitzung des Boards, 'binnen eines Jahres' wollten die Mitglieder 'einen konkreten Zeitplan für die Umstellung auf den digitalen Hörfunk erarbeiten'. Das Board hat seither nach Angaben des Ministeriums noch zweimal getagt, der Zeitplan liegt 14 Monate später immer noch nicht vor". +++
+++ Zum gestern hier erwähnten Themenfeld crossmediale öffentlich-rechtliche Dings (Bremen Next, One und so) hat die Privatsenderlobby nun auch offiziell Stellung genommen: "Klaus Schunk, Vorsitzender des Fachbereichs Radio und Audiodienste im VPRT und Geschäftsführer von Radio Regenbogen: 'Das Vorgehen bei Bremen NEXT folgt einem bekannten Muster: Programme werden online gestartet und dann systematisch zuerst digital-terrestrisch und später über UKW verbreitet. Damit treibt die ARD die Expansion zu Lasten privater Radioangebote voran und macht sich die bisweilen unklaren rechtlichen Grenzen zunutze ..." (vprt.de). +++
+++ Die großen Thomas-Fischer-Festspiele (Altpapier vom Dienstag) gehen weiter. Richter Fischer wendet sich an "die Journalisten Prof. Dr. Frank Überall (Präsident des Deutschen Journalisten-Verbands), Gisela Friedrichsen ...", bei kress.de mit: "Eines der - mit Verlaub - dümmsten Wörter, das dem Journalismus leider an den Schuhen klebt wie Hundedreck, ist das Wort 'Schelte'. Es erinnert irgendwie an Struwwelpeter, Kindererziehung und den säuerlichen Geruch der ..." +++
+++ Am Sonntag beginnt die nächste "Tatort"-Saison. Anlass für die SZ-Medienseite, als neuen "Kommissar-Typus ... den leidenschaftlich langweiligen Beamten" zu fordern. +++ Außerdem ebd.: Was es bedeutet, dass Donald Trump den breitbart.com-Chef Stephen Bannon Chef seiner Wahlkampagne ernannt hat (dass "der lauteste, populistischste, aggressivste Kandidat der jüngeren Geschichte ... seinen gesamten Wahlkampf vom Chef des lautesten, populistischsten, aggressivsten Mediums machen lässt, das es im Internet diesseits der einschlägigen Neonazi- und Ku-Klux-Klan-Seiten so gibt"). +++
+++ Die umstrittene ARD-Wasserknappheit-Berichterstattung (Altpapier vom Mi.) wird weiterhin nachbereitet (Tagesspiegel). +++
+++ Dass der Norddeutsche Rundfunk mit Immobilien handelt bzw. nun welche verkauft, spießt Michael Hanfeld auf der FAZ-Medienseite gerne auf. Beim Hamburger Abendblatt steht der Bericht hinter einer Bezahlschranke, aber eine der Villen ist gratis zu sehen. +++
+++ Und dwdl.de gehörte zu den "Branchen-Vertretern, denen Amazon am Mittwochabend im Münchener Hotel Bayerischer Hof eine exklusive Vorschau auf die drei neuen Serien gewährte". +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Montag.