Reden und Sprechen

Reden und Sprechen
Das kleine klamme Radio Bremen mit krassen Moves crossmedial im Blickpunkt der Aufmerksamkeit: im Zweifel fürs Handy, aber nicht für protestantische Gymnasiasten? Und reden Radioleute beruflich, während sie privat sprechen? Außerdem: Echte Chefsessel jetzt auch bei einem renommierten Verlag bequem online bestellbar. Haben Kieferorthopäden der deutschen Horrorserie geschadet? Und der beste Sportkommentator auch nicht in Olympia-Form ...

Im Loriot-Dossier von radiobremen.de ist

"die legendäre Straßenumfrage. 'Entschuldigen Sie, ich bin von Radio Bremen...', sagt der Reporter und die Passantin antwortet: 'Ooch, das tut mir Leid, jetzt habe ich leider gar kein Kleingeld dabei!'" (Tagesspiegel 2004),

deren Wortlaut manchmal auch einen Tick anders rekapituliert wird (Altpapier "Konzentrierte Beinhaltung" von 2011), nicht enthalten. Doch ungefähr seitdem lautet der zweite Vorname von Radio Bremen, das viele Nicht-Bremer der Gegenwart allenfalls als Hersteller von ein bis zwei "Tatorten" im Jahr kennen, klamm.

Jetzt aber hat "der klamme kleinste Sender" (heise.de), "das chronisch klamme Radio Bremen" (dwdl.de; Details zur aktuellen Klammheit brachte der Weser-Kurier im Juli) was Neues. Bremen Next bzw. in Eigen-Schreibweise Bremen NEXT begrüßt Besucher seiner Startseite aktuell mit einem fröhlichen "Der Bass muss ficken". Es handelt sich um ein

"crossediales Projekt ... Das soll sich an junge Bremerinnen und Bremer im Alter zwischen 14 und 25 Jahren richten und neben einem auch via UKW verbreiteten Radioprogramm zusätzlich Bewegtbildinhalte liefern, die speziell für soziale Netzwerke wie Facebook, YouTube, Instagram und Snapchat entwickelt werden",

fasst dwdl.de zusammen und zitiert gerne, was sonst noch an derben Sprüchen ("Wenig später suchten die Moderatoren schon nach dem 'derbsten Hurensohn in der Redaktion'"...) zu finden ist. Am, konkreter "auf 95,6 MHz UKW in Bremen sowie als Livestream im Netz und im Digitalradio erreichbaren Sender" hat es heise.de vor allem die Selbstdarstellung

"als 'dein abgefuckter, ausgeschlafener Mitbewohner, der dich wach macht, dich updated und nach vorne geht, laut aber nicht nervig ist, dich zum Lachen bringt und dich fit für den Tag macht'"

angetan. Ebenfalls beim Startschuss in Bremen dabei waren wuv.de, wo Radio Bremen-Intendant Jan Metzger mit der Definition "Dies ist kein junges Radio und kein Jugendkanal - dies sind Inhalte für junge Menschen, die im Zweifelsfall aus dem Handy kommen" zitiert wird, und Eckhard Stengel für meedia.de, der der Redaktionsleiterin Felicia Reinstädt ("Mit ihren 34 Jahren ... die älteste im Team") die ebenfalls nachdenkenswerte Formulierung

"Wir reden anders, wir reden einfach so, wie wir sprechen"

entlockte. Reden Radioleute also nur beruflich, während sie privat sprechen?

Und wenn wir beim Senderleute-Selbstdarstellen sind, muss hier auf evangelisch.de auch noch Metzgers Aussage

"Wir machen kein Programm für weiße protestantische Gymnasiasten",

zitiert werden. Die referiert wiederum dwdl.de und verknüpft sie mit derjenigen des "Leiters des Bereichs Junge Angebote bei Radio Bremen", Helge Haas, dass "gut ein Drittel der Zielgruppe" der  14- bis 25-Jährigen "im Bundesland Bremen einen Migrationshintergrund hat".

[+++] Wer sich im nichtlinearen Bremen Next-Angebot umguckt und -hört, mag sich über angestrengt jugendliche Formulierungen wundern, die gesprochen oder geredet vielleicht funktionieren, aber geschrieben ausschließlich doof aussehen ("Seit über 15 Jahren im Game und noch immer mit den neusten Tracks dabei" sei der "Mainstream-Vorzeige Rapper" Sido, den protestantische Gymnasiasten wohl kaum ungerne hören ...), oder angesichts von immer noch mehr Reportagen über Leute, für die "tanzen mehr als einfach nur krasse Moves zu zeigen" sei, fragen, ob es denn überhaupt noch Leute gibt, für die Tanzen einfach bloß krasse Moves zu zeigen bedeutet. Doch der Drang, auf neuen Verbreitungswegen auch andere Tonfälle als in öffentlich-rechtlichen Biotopen bislang üblich anzuschlagen, ist natürlich nicht per se schlecht

Und gewissen Humor besitzen sie bei Radio Bremen immer noch, wie zumindest der im Sportressort bei radiobremen.de zu findende Bericht über einen Alt- und Neu-Bremer Fußballer, der am gestrigen Mittwoch "gut gelaunt" in der Nachmittags-Livesendung des neuen Angebots "chillte", beweist. Bzw.: Natürlich hauen die RB-Sport-Texter so kräftig auf die Eigenwerbe-Kacke wie alle öffentlich-rechtlichen Sportleute immer und überall. Aber Max Kruses Maserati kommt nett-dezent rüber.

[+++] Was zur vielen Aufmerksamkeit fürs neue Radio Bremen-Dings beiträgt: die Erwartung des weiterhin provisorisch so genannten Jungen Angebots von ARD und ZDF. Geschürt wird sie weiterhin schon dadurch, dass dieses bekanntlich ebenfalls nicht als Fernsehsender, sondern online daherkommenden Angebots "spätestens kurz vor dem Start am 1. Oktober noch einen anderen Namen bekommen soll".

Was der Tagesspiegel dazu nun bringt, ist eigentlich nur die schon ein paar Tage alte DPA-Meldung über den zuletzt bekanntgegebenen Stand, wie ab Herbst "mit 30 neuen Formaten" aus dem "22. Stock eines Hochhauses in Mainz" heraus "Information, Wissen und Unterhaltung für 14- bis 29-Jährige" gemacht werden soll, und was die Sender-Funktionäre jetzt wieder dazu sagten ("Und nach Ansicht von SWR-Intendant Peter Boudgoust ist das neue Online-Angebot 'auch so etwas wie die Zukunft des öffentlich-rechtlichen Journalismus'").

Allerdings hat der Tagesspiegel  dazu frisch selbst Stimmen von der Privatsender-Lobby eingeholt.

"'Wir denken aber, dass man die Zielgruppe auch mit den bestehenden 23 TV-, über 60 Hörfunkkanälen und zahlreichen Webangeboten hätte erreichen können', sagte Claus Grewenig, Geschäftsführer des Verbandes Privater Rundfunk und Telemedien, dem Tagesspiegel"

etwa. Und Kritik am in One umbenannten Digitalsender der ARD, der im Altpapier in letzter Zeit oft vorkam, mischt sich auch mit rein.

Tatsächlich muss mitgedacht werden, dass, wenn es auch einerseits "erstaunlich sparsam" scheinen mag, dass Bremen Next "nur etwas mehr als eine Million Euro" kosten soll (dwdl.de noch mal), andererseits privatwirtschaftliche Mitbewerber, die auf den gleichen Kanälen dieselben Zielgruppen auch gerne erreichen würden, überhaupt keine Einnahmen garantiert bekommen, wie etwa der Chefredakteur des Weser-Kuriers bemerkte

###extern|twitter|m_doebler/status/765949866652667904###

[+++] Der Verlag Gruner+Jahr (Stern, Beef, Barbara ...) bekommt keine Rundfunkbeträge und muss mit allen, aber auch allen übrigen Mitteln versuchen, Einnahmen zu erzielen. Neu dabei: shop.schoener-wohnen.de.

Die Chefredakteurin der angeschlossenen Zeitschrift geht mit eisenhartem Lächeln voran:

"Seit über drei Jahren sitzt die 44-Jährige auf dem Chefsessel von Europas größter Wohnzeitschrift ... Ihren Wohnstil beschreibt sie selbst als 'Modern Country plus Designklassiker', neben einem abgewetzten Chesterfield-Sofa steht neuerdings ein jeansblauer Lounge-Sessel von Antonio Citterio, überm selbst gebauten Esstisch aus Esche baumelt eine alte Fabrikleuchte ..".

Zwar weder so eine Leuchte, noch so einen Chefsessel, jedoch jede Menge Zeugs, das sonst so zum "Wohnstil" passen könnte, 1.399 Euro teure Sessel und mit dem Label "Liebling der Redaktion" versehene kleine Holz-Zebras etwa, lassen sich nun via bei Gruner + Jahr ("Unser Herz? Schlägt im Journalismus ..." heißt's im Twitter-Account) bestellen.

[+++] Falls Sie sich jetzt zurücksehnen in eine diffuse Vergangenheit, in der Journalismus noch Journalismus war und Radio Bremen für sein Kleingeld nicht derbste Hurensöhne suchte, sondern Loriot beschäftigte:

Der vor zweieinhalb Monaten hier erwähnte, aber schön zeitlose, 14 Seite lange Dietrich-Leder-Artikel "Wie sich der deutsche Fernsehfilm in den letzten 50 Jahren verändert hat", der "nicht so tut, als sei in vergangenen Jahrzehnten im öffentlich-rechtlichen Fernsehen alles besser gewesen, aber erst recht nicht so, als sei alles schlechter gewesen", steht bei medienkorrespondenz.de jetzt frei online. Sollten Macher all der neuen jungen Angebote tatsächlich neue  Wege beschreiten wollen, vielleicht auch ohne Anbiederung an bei aktuellen Mitbewerbern erkannte Erfolgrezepte, fänden sie hier allerhand Ideen. Z.B.:

"Dass Horrormotive in der deutschen Fernsehfilmproduktion so selten sind, irritiert einen vor allem dann, wenn man sich etwa die internationale Serienproduktion anschaut, in denen es von ihnen nur so wimmelt. Angefangen bei der 'Geister'-Serie, die Lars von Trier 1994 vorlegte und die der WDR im folgenden Jahr ausstrahlte, bis zur sechsten Staffel von 'Walking Dead' der Gegenwart. Ganz zu schweigen von den Vampiren, die mehrere Serien gleichzeitig bevölkern. Vampire sind im deutschen Fernsehen Kinderkram, vielleicht weil Fernsehredakteure bei Vampirzähnen zunächst an die Kieferorthopäden ihrer Kindheit denken."


Altpapierkorb

+++ Zum Sport: Der "derzeit beste deutsche Sportkommentator", angeblich Tom Bartels, sei zurzeit auch nicht in Olympia-Form, rechnet Josef Kelnberger auf der SZ-Medienseite ab: "Schweigen. Das wäre vermutlich die richtige Herangehensweise an die größte Herausforderung gewesen, die Olympia 2016 einem Fernsehkommentator auferlegte: Schwimmen, das Finale über 100 Meter Brust der Frauen. Tom Bartels hat sich leider für das Gegenteil entschieden. Er beteiligte sich mit einer Verve am 'moralischen Volkssturm' (taz) gegen die Russin Julia Jefimowa, als kommentiere er Götzes Siegtor gegen die Argentinier". Trotz weiterer Negativbeispiele findet Kelnberger schließlich mit Blick auf die nächsten Spiele, deren teure TV-Rechte für Deutschland einstweilen nur Discovery besitzt: "Für den olympischen Sport in Deutschland wäre es jedenfalls ein großer Schaden, sollte er aus dem öffentlich-rechtlichen Rahmen fliegen. ARD und ZDF, so viel steht fest, verfügen über ein Heer hoch kompetenter Kommentatoren ..." +++ Und das am Freitag hier erwähnte epd medien-Tagebuch, in dem Michael Ridder unter Vorbehalten auch Carsten Sostmeier zu diesen Kommentatoren rechnet ("Eigentlich bräuchte das deutsche Fernsehen mehr Sostmeiers, die sich trauen, robust kritisch mit Sportlern und Trainern umzugehen, freilich in einer sprachlich angemessenen Weise"), steht inzwischen frei online. +++

+++Durchbruch fürs Digitalradio? Das schwarzwaldradio.com geht über DAB+ auch jenseits des Schwarzwalds auf Sendung und verspricht als "Alleinstellungsmerkmal": "mit Ausnahme von kurzen Weltnachrichten – ausschließlich positive Nachrichten im Programm". +++  Digitales Antennenfernsehen ist nicht überall gut zu empfangen, z.B. hinter dreifach verglasten, metallbeschichteten Fenstern, hinter denen das Spiegel-Hauptstadtbüro inzwischen sitzt. Dazu erzählt Ulrike Simon in ihrer RND-Kolumne eine hübsche Posse. +++

+++ Jetzt "noch seltsamer" (Süddeutsche): "der Streit um das DJV-Magazin Journalist", der zuletzt gestern im Altpapierkorb. +++ Außerdem auf der SZ-Medienseite: die neue Kostenpflichtigkeit des US-amerikanischen Netflix-Rivalen Hulu. +++ Dass Amazon in seiner Eigenschaft als globaler Netflix-Rivale die Fortsetzung, wenn nicht Fortsetzungen der RTL-Serie "Deutschland 83" finanzieren könnte, hat dwdl.de läuten gehört. +++ Dazu hat die SZ einem Amazon-Sprecher ein "Wir beteiligen uns nicht an Medienspekulationen" entlockt. +++

+++ Die FAZ-Medienseite verknüpft die Kontroverse um einen ARD-Bericht über Wasserknappheit in palästinensischen Gebieten (Altpapier gestern) mit dem "Sturm der Entrüstung", den Martin-Schulz-Äußerungen über  Wasserknappheit vor dem israelischen Parlament vor zweieinhalb Jahren hervorgerufen hatten. +++ Und stellt Youtubes zur Gamescom lanciertes Angebote Youtube Gaming vor ("ist so ähnlich aufgebaut wie das Videoportal Youtube selbst und ermöglicht es jedem, ein Video oder einen Livestream seines Spiels mit der Öffentlichkeit zu teilen"). +++ Und schildert unter der Überschrift "Sie dürfen Ihre Bilder nicht verschenken!" Absonderlichkeit des US-amerikanischen Urheberrechts, die durch den Gerichtsstreit zwischen der Fotografin Carol Highsmith und der Agentur Getty zutage treten (siehe auch SZ neulich). +++ Und versucht einen Überblick über die verwickelten Lagen bei Fox News und Donald Trump zu geben (online ähnlich). +++

+++ Ein "überraschend friedfertiges Bekenntnis auf Facebook", das Trump bzw. seine Leute abgaben, zitiert der KSTA. +++

+++ Das ZDF will mit seiner Mediathek netflixartiger werden, schrieb Daniel Bouhs neulich in der TAZ (und veröffentlichte es online bei daniel-bouhs.de). +++

+++ Von einer "deutschen Mini-NSA", die aufgrund von Bundesinnenminister Thomas de Maizières jüngstem Strategiepapier (AP vom Freitag) entstünde, schreibt Springers Welt. +++

+++ Und seine Kontakte mit Blendles deutschem Kundendienst schildert Thomas Knüwer auf indiskretionehrensache.de. Obwohl der Fachbegriff  "Lachfresse" (für ":)") und indirekt "aus vollem Hals" lachende Steuerbeamte vorkommen, ist die Stimmung nicht lustig. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

 

 

 

weitere Blogs

In einer Kirche hängt links neben dem Altar ein Schild mit der dreisprachigen Aufschrift No pasar - Überholverbot - no passing
In Spanien gibt es ein Überholverbot am Altar.
G*tt ist Körper geworden. Was für eine Gedanke! Birgit Mattausch geht ihm nach.
Heute erscheint der sechste und vorerst letzte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie. Katharina Payk fragt: Wo kommt Polyamorie im Kontext von Kirche und Pfarrgemeinde vor?