Strafrecht, kennste?!

Strafrecht, kennste?!
Aktuelle Meldungen aus der Türkei beinhalten die Begriffe „Nachrichtensperre“ und „Schafott“. Ein sprachlich versierter Bundesrichter rechnet mit Journalisten ab, woraufhin diese mit ihm abrechnen und kress.de munter Klicks kassiert. Nichtzulassungsbeschwerde gehört in den aktiven Wortschatz. Der BR und die Deutsche Welle müssen sich erklären. Ein Sender-Zombie verabschiedet sich.

Man soll der Wikipedia nicht alles glauben, lernt man schon in der Schule. Aber wenn die Uhr noch etwas mit sechs davor zeigt und man kurz über den Begriff „Schafott“ nachdenkt, muss eine Ausnahme erlaubt sein.

Drei zu Denkmalen umgestaltete Schafotte in Deutschland kennt Wikipedia, das letzte stellte 1864 seinen Betrieb ein. Der Duden vermerkt bei „Gebrauch“ des Wortes lapidar „früher“, und damit wäre dann eigentlich alles gesagt über die Türkei des Jahres 2016 und Can Dündar, der am Montag  in seiner Kolumne verkündete, nicht länger Chefredakteur der Cumhuriyet sein und lieber in Europa bleiben zu wollen, weil er

„das Vertrauen in die türkische Justiz verloren habe. Am Tag nach dem Putschversuch vom 15. Juli seien zwei der Richter entlassen worden, die die Aufhebung seiner Untersuchungshaft unterschrieben hätten. Auch am Berufungsgericht habe es Entlassungen gegeben. Der Ausnahmezustand habe der Regierung die Möglichkeit gegeben, die Justiz nach ihrem Willen zu kontrollieren, schrieb Dündar. ,Einer solchen Justiz zu trauen hätte bedeutet, den Kopf aufs Schafott zu legen.’“ (Quelle: dpa/faz.net)

Seinen Posten übernimmt sein Stellvertreter Oguz Güven, und damit werde sich für die Zeitung erst einmal nicht so viel ändern, meint Türkei-Korrespondent Jürgen Gottschlich in der taz.

„Die Zeitung gehört, wie auch schon vor dem Putschversuch, zu den wenigen unabhängigen, regierungskritischen Blättern im Land und hat sich bislang durch das Klima der Verfolgung und Repression auch nicht einschüchtern lassen.“

Andererseits meldet die österreichische Nachrichtenagentur APA via Standard:

„Über die Vernehmung der mutmaßlichen Putschisten vom 15. Juli wurde in der Türkei eine Nachrichtensperre verhängt. Wie die türkische Tageszeitung ,Cumhuriyet’ am Montag berichtet, hat die türkische Rundfunkbehörde RTÜK verboten, über die Ermittlungen gegen die Verdächtigen zu berichten. (...) Wer sich nicht daran hält, muss mit Geldstrafen rechnen. Begründung ist meist, dass Nachrichten darüber, insbesondere Unzutreffende, Ermittlungen gefährden würden.“

Nun ist es nichts Neues, dass in der Türkei Themen auf dem Index landen. Aber wenn die Öffentlichkeit sich nicht mehr unabhängig über das Verfahren gegen die vermeintlichen Anzetteler eines Putsches informieren kann, dann hat dieses Land mit Demokratie und freier Presse nicht mehr viel am Hut, und das kann man nicht oft genug aufschreiben.

[+++] Damit ins Inland und zu unterhaltsameren Themen, genauer gesagt den Großen Thomas-Fischer-Festspielen, die seit gestern auf kress.de abgehalten werden.

Der Mann, den Zeit Online in der Beschreibung seiner Kolumne „Bundesrichter“ nennt, ist eigentlich „Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs“.

Dieser Jobbezeichnung bedient sich der Deutschlandfunk, schließlich hat Fischer sich in einem Interview mit Karin Beindorff auf dem Sender massiv über ungenau arbeitende Journalisten beklagt. Gerade Lokaljournalisten hätten oft keine Ahnung von der Materie und würden lieber kleine Geschichten aus den Rechtsfällen spinnen, als akkurat zu berichten. 

„[B]ei Strafrecht denkt fast jeder, er könne irgendwie mitreden, weil er auch empört ist oder weil er auch schon mal was davon gehört hat. Dadurch gehen natürlich ganz viele Besonderheiten und Einzelheiten verloren“,

meint er, und wer glaube, das liege vielleicht an der komplizierten Sprache, der sich Gerichte bedienten, der liege ganz falsch.

„Ich denke schon, dass der Mensch das verstehen kann. Und deshalb bin ich auch häufig sehr überrascht und geradezu entsetzt, in welchem schrecklichen Ausmaß in vielen Medien diese fachsprachlichen Begriffe verdreht, missverstanden oder komplett falsch dargestellt werden. Natürlich gibt es viele sehr komplizierte Zusammenhänge, die sich aus der Natur der Sache ergeben, aber die Sprache selbst ist nicht kompliziert.“

Ja, klar. Und wenn ich erst Kardiologin bin, finde ich es auch gar nicht mehr schwer, mal rasch ein Herz zu transplantieren. Aber das ist gar nicht der Punkt. Denn was Fischer, so wie vermutlich jeder Fachmann im Umgang mit Journalisten, als unglaublich frustrierend empfindet, ist deren Job: Dinge in Alltagssprache so zu vermitteln, dass auch Menschen ohne langjährige Erfahrung im 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs wissen, was los ist. Wie die politische Berichterstattung in Berlin andernfalls aussähe, hat Sebastian Heiser vor Jahren, als man ihn noch als investigativen Journalisten und nicht als Verdächtiger der Keylogger-Affäre kannte, im taz-Hausblog aufgeschrieben.

Damit aber endlich zu kress.de, wo gestern eins, zwei, drei Erwiderungen auf Fischer veröffentlicht wurden, was sicherlich das Resultat rein redaktioneller Erwägungen war und nichts damit zu tun hatte, dass der Text im Vergleich zu anderen in den sozialen Netzwerken ganz gut lief.

Den Auftakt machte DJV-Chef Frank Überall, der sagte, was in Zusammenhang mit Journalismus dieser Tage immer richtig ist: Es liege am mangelnden Geld. Bülend Ürük:

„Für Überall steht fest - wer bei lokalen Tageszeitungen ein Honorar für Gerichtsberichterstattung zahlt, das nicht einmal das Niveau des gesetzlichen Mindestlohns erreicht, wird kaum wirklich qualifizierte Journalisten bekommen: ,An dieser Realität etwas zu ändern ist aus meiner Sicht sinnvoller als die pauschale Agitation gegen den lokalen Journalismus’, macht Überall deutlich.“

Gegenfrage: Was unterscheidet „qualifizierte Journalisten“ von „wirklich qualifizieren Journalisten“? Seit wann ist Thomas Fischer Lokalzeitungsverleger und demnach in der Lage, an der Honorarrealität in der Fläche etwas zu ändern? Und wann erscheint endlich die erste Zeitung mit dem Untertitel „Sorry, aber besser geht’s halt gerade nicht“?

Damit weiter zum Beitrag Joachim Jahns, bis vor kurzem noch FAZ-Wirtschaftsredakteur, nun bei der Fachzeitschrift Neue Juristische Wochenschrift (Hammer-Website) (ganz korrekt: er ist dort Mitglied der Schriftleitung – und jetzt sagen Sie nicht, Ihnen sei nicht völlig klar, was die Juristen damit meinen). Oder vielleicht doch nicht, denn von jemandem, der Journalisten als „Journaille“ und „Schreiberlinge“ bezeichnet, lässt man sich lieber nicht verteidigen.

Finale: Gisela Friedrichsen, Inhaberin eines sicherlich schönen Schreibtisches beim Nachrichtenmagazin Der Spiegel, aber sich auch bewusst, dass es anderen schlechter ergeht („Welcher Verlag beschäftigt denn noch einen Gerichtsreporter? Die meisten Kollegen haben nicht mal mehr einen eigenen Schreibtisch in ihrem Verlag.“ – Das Konzept „freier Journalismus“ besprechen wir dann nach der nächsten Maus). Das mit den miesen Arbeitsbedingungen ist aber nur einer der Friedrichsenschen Argumentationsstränge.

„Fischer macht den Fehler, den er bei anderen so gern hämisch aufspießt. Er äußert sich über Dinge, von denen er, der geniale und hochkompetente Jurist in der Komfortzone richterlicher Unabhängigkeit, nichts versteht. Dazu gehört der Journalismus und vor allem dessen heutige Praxis. Seine persönlichen Erfahrungen als Kommentator bei ,Zeit’ und ,Zeit online’, wo ihm sichtlich keine Grenzen gesetzt werden, sollte er dabei nicht zum Maßstab nehmen. Ein Fehler übrigens, der bei Richtern oft vorkommt.“

Empört „Sie haben doch keine Ahnung“ rufen und dann weggehen: Beim Spiegel versteht man einfach, mit Kritik umzugehen.

Ein weiteres aktuelles Beispiel hat Stefan Niggemeier übrigens bei Übermedien.

[+++] Was Thomas Fischer hingegen gefreut haben dürfte: Die muntere Weiterverbreitung des juristischen Fachbegriffs „Nichtzulassungsbeschwerde“ aus diesem epd-Bericht:

„Der Rechtsstreit zwischen Wettermoderator Jörg Kachelmann und dem Medienkonzern Axel Springer geht weiter. Das Unternehmen legte gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Köln Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof ein, wie ein Sprecher am Montag dem Evangelischen Pressedienst (epd) in Berlin sagte.“

Kurzes Googeln fördert folgende Erklärung aus der Strafprozessordnung zu Tage:

„Die Nichtzulassung der Revision durch das Berufungsgericht unterliegt der Beschwerde (Nichtzulassungsbeschwerde).“

Journalisten würden sagen: Das Oberlandesgericht Köln hatte bei seiner Entscheidung im Juli ausgeschlossen, dass der Fall noch einmal eine Ebene höher verhandelt werden könne. Darüber hat Springer sich nun beim Bundesgerichtshof beschwert, in der Hoffnung, dass dieser sich doch noch einmal des Themas annimmt.

Juristisch ist diese Erklärung vermutlich völlig falsch. Aber dafür wissen Sie nun, was los ist. 


Altpapierkorb

+++ „Am Freitag ist Michael Stiller in seinem Haus im Münchner Stadtteil Allach an Herzversagen gestorben. Er war ein großer Journalist. Die Süddeutsche Zeitung hat ihm viel zu verdanken.“ Heribert Prantl erinnert heute auf S. 5 der SZ an den ehemaligen Kollegen. +++

+++ Über das Dilemma, über Amokläufe oder Terroranschläge zu berichten, ohne durch zu viel Aufmerksamkeit Nachahmer anzusprechen, schreibt Christian Meier in Spingers Welt. Wo er zudem in der Causa Tanzbär (Altpapier gestern) für Christoph Harting in die Bresche springt. +++

+++ Nicht jedes gut gemeinte Integrationsangebot deutscher Sender ist auch gut gemacht. Zu diesem Schluss kommt Thomas Gehringer im Tagesspiegel. +++

+++ Für den Sender-Zombie ZDF-Kultur ist im September endgültig Schluss, steht bei DWDL. +++

+++ Aktueller Kritik an einem „Tagesschau“- und „Tagesthemen“-Beitrag vom Sonntag über Wassermangel in den palästinensischen Autonomiegebieten (u.a. im Blog des Kölner FDP-Politikers und Theater-Leiters Gerd Buurmann) begegnet der BR in seinem Blog. +++

+++ Auf der Medienseite der SZ berichtet Ronen Steinke über die Überwachungsmöglichkeiten gegenüber ausländischen Journalisten, die das neue BND-Gesetz vorsieht (zuletzt dieses Altpapier). Außerdem rezensiert Tim Neshitov die Arte-Doku „Natan“, die heute um 23.15 Uhr läuft und die Geschichte des einstigen Filmmagnaten Bernard Natan erzählt, der von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde. +++

+++ „Gerüchte und Lügen kursieren im Internet schon immer. Neu ist, dass sie von Fake-News-Seiten mit eigenen Redakteuren orchestriert werden. ,Associated Media Coverage’ sieht aus wie eine etwas bieder gestaltete Nachrichtenseite, mit ,News' in den Kategorien Politik, Verbrechen, Religion, Gesundheit, Business, Welt, Wissenschaft und Technik. Die Aufmachung ist professionell, nur die Inhalte sind falsch.“ So Adrian Lobe auf der Medienseite der FAZ. Wo zudem Nina Rehfeld die CBS-Serie „Braindead“ rezensiert und Don Mayer sich an der Amadeu Antonio Stiftung abarbeitet. +++

+++ „Die Befragung in der Deutsch- und französischen Schweiz hat gezeigt, dass sich Karikaturisten zunächst einmal sehr frei fühlen, das zu zeichnen und zu kritisieren, was ihren Vorstellungen entspricht. Am stärksten fühlen sich die Befragten in ihrer täglichen Arbeit von der Redaktion eingeschränkt, für die sie zeichnen. Als diesbezüglich zweitwichtigste Einflussgröße sehen sich die Karikaturisten selbst; sie setzen sich vor allem selbst die Grenzen bei ihrer Arbeit.“ Guido Keel vom Institut für Angewandte Medienwissenschaft in Winterthur auf der Seite des EJO. +++

+++ Die Dame, die im Auftrag von RTL investigativ bei der Kölner Polizei recherchierte „recherchierte“ (Altpapier), hat nun um ihre Entlassung gebeten (Kölner Stadt-Anzeiger). +++

+++ Die Deutsche Welle stellt klar, „dass die Krim aus Sicht der DW zu Unrecht besetztes Hoheitsgebiet der Ukraine ist. Dies kommt in einer Vielzahl von Beiträgen und Artikeln im Programm der DW unmissverständlich zum Ausdruck.“ Nötig geworden ist das, weil ihr Moskau-Korrespondent Juri Rescheto, wie er sagt „irrtümlich“, den Hashtag #crimeaisrussia genutzt hatte. +++

+++ Jens Weinreich hat ARD und ZDF in Rio besucht und macht sich aus diesem Anlass in seinem Blog ein paar Gedanken über öffentlich-rechtliche Olympia-Berichterstattung und was er dazu zu fragen vergaß. „Wie viel Prozent des Sportetats von ARD und ZDF wird wohl wirklich in Recherche und harte Themen investiert, nicht in Unterhaltung und Rechte und gigantische Gagen für Moderatoren und Experten, wie gerade wieder an den Beispielen Netzer, Scholl, Kahn und Delling öffentlich verhandelt wurde? Ich habe blöderweise vergessen, diese Frage an Gottlob und Gruschwitz zu stellen. Ist aber gar nicht so schlimm, denn da kann es sowieso nur Schätzungen geben. Ein Prozent? Ein halbes Prozent? Mehr wird es kaum sein. Da geht noch viel. Mehr als ein Anfang ist das kaum.“ +++

+++ Was deutsche Verlage mit dem Geld der Google News Initiative anstellen, beschreibt Altpapier-Kollege René Martens in der Drehscheibe. +++

+++ Ständig heißt es „So reagiert das Netz“. Aber wer ist das eigentlich, das Netz? Rainer Stadler hat sich für die NZZ auf die Suche begeben. +++

+++ Der Bundesverband Presse-Grosso meldet rückläufige Zahlen. Dass es daran Mitschuld trägt, stand schon in der vergangenen Woche in Ulrike Simons Madsack-Kolumne. +++

+++ „Es ist nicht unser Ziel, dass die im Wortlaut abgedruckt werden. Gute PR bedeutet Austausch. eMails rausschicken kann im Prinzip auch meine Großmutter. Wenn es das allein wäre, wäre unser Beruf sehr traurig. Das trifft dann meinen Berufsethos. Man merkt schon, wo die richtigen Profis sind“, sagt PR-Profi Alexander Elbertzhagen im Interview mit DWDL. +++

Das nächste Altpapier erscheint am Mittwoch.

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