Beckmann sah die Eisenbahn

Beckmann sah die Eisenbahn
Ein Antrag auf eine Einstweilige Verfügung ist keine allzu große Sache. Aber wenn der türkische Staatschef und ein deutscher Konzernchef im Spiel sind, verhält es sich offenbar anders. Außerdem auf der Agenda: Die Ermittlungen gegen ARD-Journalisten, die über illegalen Waffenhandel berichtet haben, bekommen eine parlamentarische Dimension. Und wer in Sachen Panama Papers selbst recherchieren möchte, kann das jetzt tun.

Wenn man den Kölner Advokaten Ralf Höcker einen Meister der Aufmerksamkeitsökonomie nannte, wäre das eine möglicherweise schon an Schmähkritik grenzende Untertreibung. Der Medienanwalt mit dem ohnehin schon quietschbunten Mandantenportfolio (Kachelmann, Klum und der eine oder andere AfDist) steigt nun auch für Recep Tayyip Erdogan in den Ring, und in dieser Sache vermeldete Höckers Kanzlei auf ihrer Website ein erfolgreiches Vorgehen gegen ein kurzes Video des gemeinhin mit negativen Superlativen in Verbindung gebrachten Regisseurs Uwe Boll.

Im Zusammenhang mit der erwirkten Einstweiligen Verfügung gegen Boll kritisiert Höcker allgemein „den Effekt, den Böhmermanns Gedicht auf Nachahmer und Trittbrettfahrer hat“:

„Es ist wie bei einer Massenvergewaltigung: Wenn einer anfängt, kriechen alle aus den Löchern und machen mit. Vor allem, wenn es das Opfer angeblich nicht besser verdient hat.“

Dieses Zitat wiederum, das auf schreiende Weise gegen sich selbst spricht, ist im Laufe des Montags zu einer Art Gassenhauer geworden, weil es sich verwenden ließ im Zusammenhang mit einer Einstweiligen Verfügung, die Höcker beantragt, wohlgemerkt: beantragt hat, und zwar gegen Springer-Chef Mathias Döpfner, der im Zuge der Böhmermann-Debatte vor rund einem Monat in einem Brief an den ZDFneo-Moderator (siehe Altpapier) geschrieben hatte:

"Ich möchte mich, Herr Böhmermann, vorsichtshalber allen Ihren Formulierungen und Schmähungen inhaltlich voll und ganz anschließen und sie mir in jeder juristischen Form zu eigen machen. Vielleicht lernen wir uns auf diese Weise vor Gericht kennen." 

Die EV gegen Döpfner hat Höcker ebenfalls vor dem Landgericht Köln beantragt, das „unter Journalisten inzwischen als das schärfste im Land gilt“ (Spiegel 42/14), jedenfalls, was Äußerungsverbote angeht.

Die SZ schreibt:

„Auch wenn das Landgericht Köln, wie gegenüber Höcker bereits angedeutet, die Verfügung nicht erlassen sollte, wird die Auseinandersetzung damit wohl nicht vorüber sein. ‚Wir warten zunächst die Beschlussbegründung ab, aber ich werde meinem Mandanten aller Voraussicht nach empfehlen, in die zweite Instanz zu gehen‘, so Höcker. Gegenüber der Nachrichtenagentur dpa hatte Höcker den Umgang mit Erdo?an mit einer „Massenvergewaltigung“ verglichen – „ein sehr plakatives, aber absolut gerechtfertigtes Bild, hinter dem ich hundertprozentig stehe“, wie Höcker auf SZ-Nachfrage erklärt.“ 

Die FAZ erwähnt „eine Sprecherin des Axel-Springer-Konzerns“, die sagt: 

„Uns liegen keinerlei Informationen oder Schriftstücke dazu vor.“

Was andererseits auch normal ist in diesem sehr, sehr frühen und formal betrachtet nur bedingt berichterstattungswürdigen Stadium der Angelegenheit. Grenzwertig wäre es dagegen, sollte das Landgericht noch während der Prüfung des Antrags tatsächlich schon „angedeutet“ haben, wie es denn entscheidet. Die PR-Kunst Höckers besteht nun darin, dass er einen sich offenbar bereits abzeichnenden Misserfolg als Reklame zu nutzen weiß.

Was in den vielen, vielen agenturmeldungsbasierten Texten fehlt, ist im übrigen die explizite Differenzierung, dass Höcker gegen Döpfner zivilrechtlich vorgeht, während Jan Böhmermann strafrechtlich im Visier steht.

[+++] Um auf dem juristischen Feld zu bleiben: Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen das ARD-Team um den Filmemacher Daniel Harrich - unter anderem in diesem Altpapier erwähnt - „beschäftigen den Bayerischen Landtag“, wie Max Hägler (SZ) berichtet:

„Die Grünen-Abgeordnete Claudia Stamm wundert sich, wieso gegen Journalisten ermittelt wird, die über die Lieferung von G36-Sturmgewehren nach Mexiko berichten – und wieso derlei dann auch noch von München aus betrieben wird.“

Stamms Verwunderung bezieht sich zum einen auf das „behördeninterne Zuständigkeitsgerangel“ (Abendzeitung kürzlich), zum anderen offenbar auf die Anwendung des Paragrafen 353d in der Sache. Der besagt nämlich:

„Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer (...) die Anklageschrift oder andere amtliche Schriftstücke eines Strafverfahrens, eines Bußgeldverfahrens oder eines Disziplinarverfahrens, ganz oder in wesentlichen Teilen, im Wortlaut öffentlich mitteilt, bevor sie in öffentlicher Verhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist.

In einem am Montag hier bereits verlinkten Text für die Wochenend-Taz hatte ich dazu geschrieben: 

„Bizarr ist die Anwendung dieses Paragrafen in diesem Fall auch, weil es sich hier um ein Verfahren handelt, für das Harrich und Co. Beweismaterial zur Verfügung gestellt haben – etwa Seriennummern von Gewehren. Folgt man der Logik des Paragrafen, hätten die ARD-Journalisten mit der Verwendung des selbst beschafften Materials warten müssen, bis die Staatsanwaltschaft in die Gänge kommt. Die brauchte fünfeinhalb Jahre, ehe sie Anklage erhob.“

[+++] SZ und FAZ besprechen heute Reinhold Beckmanns Film „Horst Seehofer und der neue Rechtsruck in Deutschland“. Roman Deininger macht dabei in der SZ auch einen eher medienbranchenintern als für die breitere Leserschaft interessanten Schlenker. Seitdem der Spiegel-Journalist René Pfister vor einem halben Jahrzehnt Horst Seehofers Modelleisenbahnkeller beschrieben hat, ohne ihn gesehen zu haben (Altpapier),

„haben Kamerateams die Einladung zum Keller-Dreh wie eine Trophäe gejagt. Beckmann hat sie erhalten.

Deininger lobt den Film:

„Beckmann (...) hat kein klassisches Porträt gedreht, er fokussiert Seehofer als polarisierende Schlüsselfigur der Flüchtlingsdebatte. Diese Beschränkung tut seinem Film gut, genau wie die Offenheit im Urteil, die er erst am Schluss ein Stück weit aufgibt: Ist dieser Seehofer nun ein verbaler Brandstifter, der die Wähler der AfD in die Arme treibt? Oder ist er der letzte Vertreter einer Volkspartei, der die Sorgen des Volkes noch ernst nimmt? Beckmanns Antwort ist fair und gar nicht knallig, sie passt nicht in einen Satz. Sie braucht 44 lohnende Fernsehminuten.“ 

Michael Hanfeld moniert dagegen in der FAZ

„Eben noch ist (Beckmann) mit der Kamera bei der AfD und bei Pegida in Dresden, die nächste Einstellung zeigt Horst Seehofer bei einem CSU-Treffen mit Bayerischem Defiliermarsch. Die Intention dieses Kurzschlusses ist klar, sie entspricht der Lesart des SPD-Beraters Stauss.“ 

Eben jenen hatte Beckmann vorher interviewt. Hanfeld raunt:

„Doch ist (Stauss) für eine journalistische Betrachtung der Richtige, um Horst Seehofer und die Union in den Blick zu nehmen? Wohl kaum, mit ihm bekommt der Film Schlagseite“.

Um gleich noch mal einen weiteren vermeintlichen „Kurzschluss“ zu produzieren:

„Wer in der heutigen von Rechtsextremen aufgeheizten Situation abfällig über Flüchtlinge redet oder gar hetzt, weil er nach Lesern oder Wählern schielt, bereitet Pegida und AfD einen hervorragenden Nährboden. Weshalb die Nachahmer wählen? Dann doch lieber gleich das Original.

Das hat Rainer Esser, der Geschäftsführer der Zeit, geschrieben, allerdings nicht in einer Rezension des Beckmannschen Seehofer-Porträts. Vielmehr steht die Passage, die niemanden konkret nennt, in einem Beitrag aus dem Jahrbuch 2016 des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger, den wuv.de publiziert hat.


Altpapierkorb

+++ Wer selbst mal in Sachen Briefkastenfirmen recherchieren möchte: Das ICIJ hat nun eine interaktive Datenbank zur Verfügung gestellt. Julia Stein, die stellvertretende Leiterin des NDR-Ressorts Investigation, erläutert das Vorgehen bei tagesschau.de.

+++ Panama Papers (II): Einige Schnellschießer und notorische Nichtnachdenker hatten nach den ersten Veröffentlichungen gemeckert, es fehlten die Namen von US-Amerikanern. Wohl auch für diese Zeitgenossen ist ein elf Minuten Lesezeit erfordernder Beitrag eines Autoren-Quintetts gedacht, den das ICIJ auf der Panama-Papers-Seite veröffentlicht hat: „Mossack Fonseca's files include offshore companies linked to at least 36 Americans accused of serious financial wrongdoing, including fraud and racketeering.“

+++ Panama Papers (III): „Juan Luis Cebrián, Chef der spanischen Medienholding Prisa, schlägt wild um sich: Auf Berichte, dass seine Exfrau in den Panama-Papieren erwähnt wird, reagiert Cebrián, zu dessen Unternehmen auch die größte spanische Tageszeitung El País und Cadena Ser, der populärste Radiosender des Landes, gehören, mit Entlassungen und Verboten.“ Das berichtet die Taz.

+++ Auf den Prozess gegen die Cumhuriyet-Journalisten Can Dündar und Erdem Gül (siehe Altpapier von Montag) geht nun auch die FAZ auf ihrer heutigen Medienseite ein, teilweise in ähnlichen Worten wie der gestern hier zitierte Taz-Türkei-Korrespondent Jürgen Gottschlich: „Dündar verkörpert all das, was Erdogan aus der türkischen Gesellschaft tilgen will (...) Vor allem hat Can Dündar nie ein Hehl daraus gemacht, dass er das Leben genießt. Mit dieser Einstellung ist er dem Neo-Islamisten Erdogan zuwider. Für all jene in der Türkei, die sich eine plurale, freiheitliche Gesellschaft wünschen, ist Dündars Cumhuriyet indes die einzige Zeitung, die sie noch lesen können. Die wenigen regierungskritischen Publizisten, die es noch gibt, weichen wegen der anhaltenden Repressionen fast alle aufs Internet aus. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Regierung die Cumhuriyet als ganzes vorknöpft.“

+++ Die Medienkorrespondenz hat einen in der Druckfassung zehnseitigen Text des Telekom-Vorstandsvorsitzenden Timotheus Höttges über „Digitale Verantwortung“ online gestellt, der auf einem Vortrag bei der Tagung „Digitale Transformation: Zur Zukunft der Gesellschaft“ basiert: Nichts ist unbeherrschbar, auch nicht die Digitalisierung. Wir sind kein Spielball. Sondern wir sind das, was wir sein wollen. Wer sich vor wenigen Jahren dafür eingesetzt hat, Hasskommentare bei Facebook zu löschen, musste sich vorhalten lassen, das Internet nicht verstanden zu haben. Heute sehen wir, dass es nicht nur zwingend notwendig ist, gegen Hasskommentare vorzugehen, sondern dass es auch geht. Es ist eine Frage des Wollens und des Aufbaus von Kompetenzen. Und vielleicht auch eine Frage des notwendigen Drucks, den man aufbauen muss, um ‚Bewegung‘ zu erzeugen.“ Dagegen ist nichts zu sagen, es nervt aber kolossal, dass Höttges es nicht lassen kann, immer wieder seinen eigenen Laden zu erwähnen („Ein Unternehmen wie die Deutsche Telekom ist ...“, „Die Telekom setzt sich seit langem dafür ein, dass ...“ etc.).

+++ Wer sich für die Unterschiede zwischen der Pop-Berichterstattung deutscher (Online-)Medien und jener der englischsprachigen interessiert: „der deutschsprachige pop-diskurs (ist) meist eher akademisch vertieft oder feuilletonistisch zugespitzt, aber nicht in dieser totalen bandbreite und inhaltlichen vielfalt zu haben, wie im englischen sprachraum. wenn die (gemessene) nachfrage nach mehr guter popschreibe größer wäre, gäbe es da auch mehr als nur die sporadischen lichtblicke in den print-basierten tages/wochen/monats/quartals-titeln und mehr und substanziellere eigenständige online-angebote“, schreibt Christian Tjaben bei Facebook. Disclosure: Auslöser war ein Link von mir zu dieser Pitchfork-Rezension.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.

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