Telekolleg Böhmermann (Folge 87): An- und Zuhören

Telekolleg Böhmermann (Folge 87): An- und Zuhören
Jan Böhmermann klärt auf, und zwar über den Ablauf von Strafverfahren, die Situation von Journalisten in der Türkei und die wachsende Bedeutung von Podcasts. Außerdem sind Schweizer Zeitungen nicht nur käuflich, sondern auch noch stolz darauf, in Luxemburg stehen Whistleblower vor Gericht, und Kai Diekmann trägt in seiner Freizeit gerne Leggings.

Ein bislang wenig beachteter Faktor des wahrlich nicht unteranalysierten Wirkens des Jan Böhmermanns ist dessen Beitrag zur Volksbildung. Es begann damit, dass er im Rahmen des damals noch unroyalen „Neo Magazins“ jungen Internetnutzern in der Rubrik „Prism is a dancer“ plastisch vorführte, welche Folgen das unbedachte Abladen der eigenen Daten im Internet haben kann – nämlich beispielsweise, dass einem die gerade erst auf Ebay versteigerte Couch ins Fernsehstudio getragen werden und die bei MySpace vergessenen Fotos Photoshop-Philipp in die Hände fallen können.  

Später demonstrierte er dann weniger technisch versierten Menschen, dass durchaus auch Bewegtbild manipuliert werden kann, er machte selbst vom Gesetzgeber vergessene Paragraphen des Strafgesetzbuchs bekannt, und aktuell gibt er einen Volkshochschulfernkurs zum Thema „Ablauf von Strafverfahren“.

In der neuesten Folge gestern war zu erfahren, dass die Staatsanwaltschaft nach Erhalt einer Anzeige die Möglichkeit hat, den Beschuldigten zu einer Stellungnahme anzuhören.

„Staatsanwaltschaft Mainz will Jan Böhmermann anhören“

titelte dazu, um wahllos ein Beispiel heruszugreifen, die Berliner Zeitung online, während die Hannoversche Allgemeine im Teaser bereits den weiteren Verlauf spoilerte:

„Die Mainzer Staatsanwaltschaft will Jan Böhmermann erst anhören, bevor sie entscheidet, ob hinreichender Tatverdacht besteht.“

Woraus wir lernen: Bevor eine Staatsanwaltschaft sich entscheidet, Anklage zu erheben, macht sie sich erst einmal mit den Fakten vertraut, und wenn das so weitergeht, wird demnächst eine Eilmeldung verschickt, wenn diese eine neue Packung Trennstreifen für die Schmähgedicht-Akte angebricht.

Darüber hinaus hat Böhmermann es geschafft, der Debatte über die Pressefreiheit in der Türkei eine Öffentlichkeit zu schaffen, die ohne sein Zutun vermutlich etwas kleiner ausgefallen wäre.

Aktuell berichtet auf Spiegel Online Korrespondent Hasnain Kazim, der vor zwei Jahren selbst die Türkei verlassen musste, weil er der Beleidigung Recep Tayyip Erdogans beschuldigt wurde, über die zunehmenden Repressalien auch gegen ausländische Journalisten (hier zuletzt gestern im Korb).

„,Mit dieser Einschüchterungstaktik schlägt die türkische Regierung gleich zwei Fliegen mit einer Klappe’, sagt ein deutscher Korrespondent mit Sitz in Istanbul. Er möchte wie alle anderen Gesprächspartner lieber nicht namentlich genannt werden. ,Einerseits behindert sie die Arbeit der anreisenden Kollegen, die aus türkischer Sicht zu kritisch ist. Und andererseits setzt sie damit uns dauerhaft hier lebenden Journalisten unter Druck. Wann immer wir nun die Türkei verlassen, müssen wir damit rechnen, dass uns die Rückkehr verweigert wird. Dabei leben wir hier, viele mit Familien.’ [...]

Eine wirklich freie, kritische Berichterstattung sei in dieser Atmosphäre der Angst nicht mehr möglich, sagt ein Kollege: ,Jetzt lernen wir ausländischen Korrespondenten die Angst kennen, die unsere türkischen Kollegen schon seit Jahren verspüren, weil sie bei jedem kritischen Artikel mit Jobverlust oder Gefängnis rechnen müssen.’“

Auf der Medienseite der SZ schreibt Mike Szymanski zum gleichen Thema:

„Wer verstehen will, wieso Erdo?an den Wert einer freien Presse nicht zu schätzen weiß, muss wissen, dass die Presselandschaft in der Türkei bis auf kurze Blütephasen nicht annähernd die demokratische Reife wie in Deutschland erreicht hat. Die kürzlich unter Zwangskontrolle gestellte Zaman war beispielsweise einmal ein seiner Regierung ergebenes Blatt. Als es jedoch zum Zerwürfnis Erdo?ans mit dem islamischen Prediger Fethullah Gülen kam, einst sein Weggefährte an die Macht, mutierte die auflagenstarke Zeitung in opportunistischem Kalkül zum Anti-Erdo?an-Kampfblatt.“

Nun kann man sich durchaus fragen, ob Erdogan die freie Presse nicht zu schätzen weiß, weil diese sich in der Türkei bislang nicht so stark entfaltet hat, oder ob diese Entfaltung nicht doch eher ausblieb, weil Erdogan die freie Presse nicht zu schätzen weiß. Wie dem auch sei: Journalisten, egal aus welchen Land, in die Selbstzensur zu treiben, und wenn sie nicht spuren, sie ein- bzw. auszusperren, sollte doch die ein oder andere Alarmglocke in Bewegung setzen.

Beim deutschen Bundestag scheint das funktioniert zu haben, denn dieser wird sich heute Nachmittag auf Antrag der Grünen in einer aktuellen Stunde mit dem „Umgang mit der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei“ befassen.

Womit wir zu einem weiteren Thema überschwenken können, dem Jan Böhmermann zu einer unerwartet großen Aufmerksamkeit verhalf – unerwartet groß zumindest für diejenigen, die „Sanft und Sorgfältig“ bislang für die Taschentuch-Eigenmarke des Nettos mit Hund hielten.

Zunächst als Service für René und alle anderen Nutzer des kostenfreien Spotify-Angebots ein Satz aus Kurt Sagatz’ Text für den Tagesspiegel:

„Der Podcast von Böhmermann und Schulz wird zwar exklusiv für Spotify produziert, er soll aber sowohl für Abokunden als auch im werbefinanzierten Bereich zur Verfügung stehen.“

Ob die Nutzer selbst zahlen oder über Werbung für weiteres Geld sorgen, scheint also erstmal egal. Hauptsache, die Nutzer nutzen, oder wie Anne Fromm es in der taz formuliert:

„Es zeigt, dass aus dem belächelten kleinen ,Laberformat’-Podcast – denn als solcher wurde die Sendung auch veröffentlicht – eine Vermarktungshoffnung geworden ist. [...] Dass [Spotify] sich dafür die Show von Schulz und Böhmermann ausgesucht hat, ist kein Wunder: Seit drei Jahren läuft die Sendung im rbb, nach und nach kamen weitere ARD-Jugendwellen dazu. In den iTunes-Charts der meist abgerufenen Sendungen ist sie regelmäßig auf Platz 1. Wenn es also einen Podcast gibt, der Spotify neue KundInnen bescheren kann, dann dieser.“

Dem generellen Trend zum Podcast widmet sich Alexander Becker bei Meedia, wo er aus der Onlinestudie von ARD und ZDF Folgendes zitiert:

„2014 hörten lediglich sieben Prozent aller deutschen Onliner Audio-Podcasts. Ein Jahr später sind es bereits 13 Prozent. Grundsätzlich kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass die Audio-, Radio- und Streaming-Nutzung ,an Bedeutung gewinne’. ,Die Gründe hierfür sind vielfältig und liegen auf verschiedenen Ebenen’: So boomen die Streaming-Dienste, die ein großes Volumen von Musik digital zugänglich machen und immer mehr Audio-Inhalte bündeln. Zudem befeuert die immer größere Marktdurchdringung von Smartphones den Trend. Genau für diesen Effekt steht der ,Sanft & Sorgfältig’-Deal von Spotify. Vor gut einem Jahr justierte der Streaming-Dienst seine Strategie neu und setzt seitdem verstärkt auf Entertainment-Inhalte, statt ausschließlich auf Musik.“

In anderen Worten: Alles wandert ins Netz, auch Hörbücher und ihnen verwandte Arten. Das dürfen Sie jetzt in ihrem Begleitheft zum Böhmermannschen Telekolleg als Erkenntnis der heutigen Lektion vermerken. Aber lassen Sie darunter noch etwas Platz, denn zwei Aspekte haben wir noch.

Auf der Medienseite der FAZ beschäftigt sich der Medienwissenschaftler Hermann Rotermund mit der Frage, warum bis heute Geld in die Entwicklung des digitalen Radiostandards DAB fließt, statt endlich die Radiosender mit ihren Formaten an die veränderte Mediennutzung anzupassen – und, eigener Einwurf, damit das Feld Neulingen wie Spotify zu überlassen:

„Der Hörfunk ist in der digitalen Medienwelt eine bedrohte Gattung. Die Zerlegung in seine Formatelemente ist im Gange. Musikdienste machen differenzierte Streaming- und Offline-Angebote. Abrufbare Hörspiele, Features, Dokumentationen, Soundart und musikalische Eigenproduktionen sind in Deutschland noch nicht so erfolgreich wie in anderen Ländern. Es mangelt hier an inhaltlicher Vielfalt und Breite, weil die Sender nicht genügend Mittel für die Rechteabgeltungen aufwenden, sondern diese lieber an anderen Stellen – wie den zeitlich bislang unbestimmten Simultanbetrieb von UKW und DAB+ – verschleudern.“

Weniger um das Programm als um die Leute, die es gestalten, macht sich derweil Rainer Stadler in der NZZ Gedanken:

„Der Wechsel ist bemerkenswert. Er zeigt, dass neue Akteure auf dem Markt für Medienproduktion mitmischen wollen. Nun steigen vermehrt Firmen ein, die ihren Erfolg bisher dem Vertrieb von Medienprodukten verdankten. [...] Die Produzentenvielfalt scheint entsprechend zuzunehmen. Das dürfte die Kreativen freuen, also Filmer, Satiriker oder gar Journalisten. Ihr Marktwert steigt – vorausgesetzt, sie sind bereits prominent und können ihren neuen Arbeitgebern zahlreiche Kundenkontakte verschaffen. Jan Böhmermann liegt da sicher gut im Rennen. Von derlei Geschäften wird also die Medienelite profitieren. Was bleibt fürs breitere Volk der Kreativen? Die Perspektiven sind vorerst düster.“


Altpapierkorb

+++ „Sollten sie jetzt wirtschaftlich in Schwierigkeiten geraten, bedauere ich das natürlich, weil ich selbst ein großer Freund gedruckter Lektüre bin. Aber ich bin auch ein großer Freund gerade derjenigen Autoren, die weit unter dem Durchschnitt verdienen und in prekären Verhältnissen leben. Auch deren Situation muss bedacht werden.“ So kommentiert Kläger Martin Vogel im Börsenblatt den Vorwurf, das VG-Wort-Urteil aus der vergangene Woche (Altpapier) ruiniere kleine Verlage. +++

+++ Das Comeback des Henri-Nannen-Preises Nannen Preises wird überschattet von der Tatsache, dass eine der nominierten Reportagen aus den Hause Stern derzeit aufgrund von Rechtsstreitigkeiten nur mit geschwärzten Passagen verfügbar ist, steht bei kress.de. +++

+++ „Köppels ehemaliger Vize, der ,Basler Zeitung’-Verleger Markus Somm, sagte kürzlich, er empfehle allen Unternehmern: ,Wenn ihr nicht zufrieden seid mit den Medien, dann müsst ihr aufhören, Inserate zu schalten.’ Und er versprach: ,Wenn die Migros bei mir ein Inserat schaltet, muss sie sich nicht blöde heruntermachen lassen.’ Eine Aussage, die der Verlegerpräsident Hanspeter Lebrument unterstützte: ,Als Verleger kann man nicht den Helden spielen und dabei einen Grosskunden verärgern.’ Das ist neu in der Schweizer Mediengeschichte: das stolze Bekenntnis der eigenen Käuflichkeit. Und es bedeutet mehr als nur einen Rollenwechsel des Journalismus: einen offenen Angriff auf die Republik.“ Schreibt Constantin Seibt im Tages-Anzeiger. +++

+++ Gestern begann der Prozess gegen die Verantwortlichen der Luxenburg-Leaks, darunter auch der französische Journalist Edouard Perrin. „Der Prozess, der bis Anfang Mai angesetzt ist, fällt zusammen mit einer Debatte über den Schutz von Whistleblowern. Erst Anfang April hatte das Europaparlament eine Richtlinie beschlossen, laut der künftig allein die Unternehmen bestimmen, was Geschäftsgeheimnisse sind. Sollte ein Angestellter solche Informationen weitergeben und vor Gericht landen, müsste er nachweisen, dass er eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit aufdecken und im öffentlichen Interesse handeln wollte. Nach Meinung von Kritikern wird das die Arbeit von Journalisten und deren Informanten massiv erschweren“, berichtet Spiegel Online. +++

+++ Von Journalisten, die nicht einmal Mindestlohn verdienen, ist heute auf Seite 16 im Wirtschaftsteil der FAZ zu lesen. Es geht um die aktuelle Debatte zum Urheberrecht (s. Altpapier vom März) und die Frage, ob Georg Wallraff vom Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger recht hatte, als er „kürzlich verkündete, es gebe zwar durchaus schwarze Schafe in den Reihen der Presseunternehmen, ,im Gros’ würden Journalisten jedoch ,angemessen’ bezahlt“ – oder doch eher diejenigen, die ihn dafür auslachten. +++

+++ „Germany’s Next Topmodel“ treibt manche Mädchen in die Magersucht. Die Studie, die zu diesem Ergebnis kam, ist nun online verfügbar (via Pinkstinks). Für die taz interviewt Marlene Halser Petra Pfannes von der Kommission für Jugendmedienschutz, warum diese zu einem anderen Ergebnis kam. +++

+++ „Frage 7: Welches Körperteil erzeugt Stolz? - Diekmann: Meine blauen Augen. - Frage 8: Manche Läufer rasieren sich die Beine. Schon mal den Lady Shave von der Gattin gemopst? -- Diekmann: Quatsch. - Frage 9: Welche Lauf-App? - Diekmann: Runtastic.“ Falls Sie noch mehr wissen wollen: Bei Spiegel Online beantwortet Kai Diekmann 42 derartige Fragen, darunter auch eine zu den oben angeteaserten Leggings. +++

+++ Einen „Jahresrückblick [...], der nur eben schon im Sommer läuft“, wird Thomas Gottschalk ab Juni bei RTL moderieren, berichtet Alexander Krei bei DWDL. „Spannend ist allerdings nicht nur die Personalie Gottschalk, sondern auch die Tatsache, dass ,Mensch Gottschalk’ unter der Drittsendelizenz von dctp und Spiegel TV läuft. Für die Produktion der Sendung, die im Übrigen live über die Bühne gehen soll, zeichnet daher Spiegel TV verantwortlich. Die Redaktion bereitet pro Sendung rund 15 Themen vor, die auf die Fragen und Bedürfnisse der Zuschauer eingehen sollen.“ +++

+++ In „Shakespeares letzte Runde“ lässt Arte heute Abend in einem Berliner Szene-Lokal ein Best-of Shakespeare'scher Charaktere aufeinandertreffen. „Wer von dem Kammerspiel eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Shakespeare'schen Werk erwartet, wird enttäuscht sein: Die Handlung entwickelt keine eigene Dynamik, sondern wird sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene nur durch die einsetzenden Drogenräusche vorangetrieben“, mein Carolin Haentjes im Tagesspiegel. +++

+++ Für seine Übermedien-Kolumne hat Peter Breuer diesmal ein Magazin namens Happinez gelesen. Sein Urteil: „,happinez’ sieht freundlich aus und ist hübsch gestaltet, wenn man den bunten Ethnolook mag, der die Symbolik von Hinduismus, Buddhismus, Shintoismus und Etsyismus zu einer globalen Wellness-Religion verquirlt. Zwar klingt in diesem Heft alles lieb, harmlos und achtsam, schrammt aber gefährlich oft an esoterischen Weltverklärungsmodellen entlang.“ +++

+++ Ist Johns Snows möglicher Tod wichtig für die Geschichte der Serie „Game of Thrones“, oder nur billiges Werbemittel? Fragt sich Peer Schader bei den Krautreportern. Auf der Medienseite der SZ berichtet Karoline Meta Beisel von der Deutschlandpremiere der sechsten Staffel in einem Münchner Kino. +++

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag

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