Was in den 1840er Jahren die schlesische Webfabrik, ist heutzutage die Redaktion von Focus Online. Oder der Huffington Post. Oder heftig.co. Oder wiesiealleheißen. Diesen Eindruck bekommt man zumindest, wenn man diese exklusive Enthüllungsstory bei Übermedien liest, wo ein nicht näher benannter Ex-Clickbaiter aus der Arbeitswelt einer nicht näher benannten Clickbaithölle berichtet.
Zwölf Stunden am Tag, ohne Mittagessen, hat er dort die Produktion von Klicks angeheizt.
„Telefoniert, gegengecheckt wird wenig. Keine Zeit. Ich schreibe im Eiltempo Geschichten zusammen, die schon irgendwo im Internet kursieren. Ob sie wahr sind? Wer weiß das schon. Und aktuell? Nicht so wichtig. Hauptsache schnell und mit Klickpotenzial – egal, ob es sich um Schicksalsschläge, irgendwas mit nackten Frauen oder unzivilisierte Flüchtlinge dreht. Oder alles zusammen. Optimalfall.“
Um im Vokabular aus Zeiten der Weber zu bleiben: Klingt nach Entfremdung des Arbeiters von der Arbeit und damit nach einem Scheißjob. Warum macht man den?
„Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort, nur eine persönliche, denn schließlich habe ich es ebenso in Kauf genommen. Weil ich zunächst, wie andere, froh war, einen Job zu haben. Und der hat anfangs gar nicht so übel gewirkt: feste Stelle, vernünftiges Gehalt, bekanntes Medium. Nach welchen Kriterien eine Vielzahl der Texte entstehen, habe ich im Vorfeld nicht geahnt. Oder vielleicht nicht ahnen wollen. Der Markt für Journalisten ist schlecht, feste Stellen rar. Wer so eine hat, kann froh sein. Nur dann muss er auch mitspielen. Mitklicken.“
Nun würde ich mal behaupten, dass man als Journalist, bevor man einen Job antritt, einmal einen Blick in das anvisierte Medium werfen sollte. Und Clickbait erkennt man, wenn man es sieht, zumal Seiten wie das Bildblog regelmäßig das System erklären, aktuell am Beispiel Focus Online. Andererseits berichten wir hier jede Woche von den Schwierigkeiten der Journalisten, ihren Job zu behalten. Wie schwer muss es dann erst sein, einen zu bekommen?
Für jeden Nachwuchsautoren ist das tragisch; wer sich nicht so gerne mit Einzelschicksalen abgibt, kann sich stattdessen ausrechnen, was das für den Journalismus im Ganzen bedeutet. Denn noch einmal wird sich der unbekannte Kollege wohl nicht auf eine der wenigen ausgeschriebenen, aber eben quatschigen Redakteursstellen bewerben. Dann bleibt ihm noch, sich selbständig zu machen, aber da wir ja wissen, dass er Wert auf ein vernünftiges Gehalt legt, werden wir ihn wohl eher in der PR wiedersehen. Meine ehemaligen Volontärskollegen, seit fünf Jahren auf dem freien Markt, sind fast alle dort gelandet. Das Hieven des Journalismus ins digitale Zeitalter und die Suche nach einem neuen Geschäftsmodell bleibt damit denen überlassen, die seit Jahrzehnten einen festen Job, aber teilweise bis heute Angst vor dem Smartphone haben.
Clickbait macht also den Journalismus kaputt. Das ist zwar keine ganz neue Erkenntnis, gilt aber offensichtlich doppelt.
[+++] Für den szenischen Einstieg hätte ich auch gerne ein aktuelles Clickbait-Beispiel nacherzählt. Also ging ich zu Focus Online, blieb dann aber auf diesem von der Chip-Redaktion erstellen Video hängen, in dem Redakteure eineinhalb Minuten lang das Wort „Youtube“ aussprechen. Schlagzeile auf der Focus-Startseite: „Jutuub oder Jutjub? So sprechen Sie YouTube richtig aus“.
Eineinhalb Minuten! Und alle sagen „Jutjub“! Das ist schon kein Clickbait mehr, das ist einfach nur eine Kapitulation vor dem Zwang, Inhalte produzieren zu müssen. Oder eine sehr gut verschlüsselte Hommage an Loriot.
Da ich nicht wusste, wohin mit meinem Entsetzen darüber, steht es jetzt hier.
[+++] Um noch kurz bei Journalismus „Journalismus“ zu bleiben, nach dessen Konsum man sich dringend die Hände waschen möchte: Das Münchner Oberlandesgericht hat gestern ein Urteil des Bildblogs bestätigt, nach dem „auch besorgte Flachzangen Grundrechte haben“. Geklagt hatte eine Frau, die sich am „Pranger der Schande“ wiedergefunden hatte, den die Zeitung im vergangenen Herbst für rechte Facebook-Hetzer errichtet hatte.
„Die Richter sahen in dem Pranger einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Eine derartige Bildberichterstattung, in der Personen mit vollem Namen und Profilbild unter einer derartigen Überschrift abgebildet werden, habe eine solche Prangerwirkung, die die Facebook-Nutzerin nicht dulden müsse. Der Verstoß gegen Persönlichkeitsrechte sei so eindeutig, dass es auf urheberrechtliche Erwägungen nicht mehr ankomme“,
heißt es bei DWDL (wer lieber Meedia oder den Tagesspiegel liest, kann dort Ähnliches finden).
Springer möchte das jedoch nicht akzeptieren, wie ein Sprecher ebenfalls DWDL sagte:
„Der Streit wirft grundsätzliche Rechtsfragen auf, die bisher höchstrichterlich noch nicht entschieden wurden. Wir gehen deshalb, falls notwendig, bis zum Bundesgerichtshof.“
In der aktuellen Online-Version des Prangers sind immer noch drei Hass-Beispiele samt Fotos und Namen der Urheber zu sehen. Das Anprangern lässt man sich bei der Bild eben nicht verbieten.
In einem anderen fragwürdigen Fall hat die Zeitung nun öffentlich-rechtlich daherkommenden Beistand erhalten. Die Kommission für Jugendmedienschutz hatte die Veröffentlichung von Fotos von getöteten syrischen Kindern kritisiert (die ebenfalls immer noch online stehen). Nun schreibt der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen in einem offenen Brief, der im Original bei bild.de hochgeladen wurde und in Fragmenten von Meedia zitiert wird:
„Kriege produzieren unvorstellbares Leid. Wie stellt man es angemessen dar? Authentische Fotos sind die stärkste und überzeugendste Ausdrucksform. Redaktionen bewegen sich bei ihrer Veröffentlichung oft auf einem schmalen Grat. Die Würde des Menschen ist dabei zu achten. Es ist ein hohes Gut, das entschlossen verteidigt werden muss. Die Würde des Menschen erlischt nicht mit dem Tod. Aber wird sie nicht auch (über den Tod hinaus) verteidigt, wenn das Leiden des einzelnen Menschen persönlich erkennbar vor dem Vergessen gerettet wird? Ich meine ja. Und zwar durch unverfälschte Veröffentlichung! Darin erkenne ich den Wert des Artikels ,Habt ihr diese Bilder vergessen?’“
Ob die Bilder toter Kinder in die Öffentlichkeit gehören, wurde an dieser Stelle im vergangenen Sommer schon ausführlich diskutiert, nachdem der dreijährige Aylan an die türkische Küste angeschwemmt worden war. Die Macht, die solche Bilder haben, wäre damit bewiesen. Da die Motive der Bild-Zeitung jedoch normalerweise eher auflagenstärkender statt aufklärerischer Natur sind, wäre ich jetzt nicht mit der Eindeutigkeit des Herrn Pleitgen in die Bresche gesprungen.
[+++] Man mag das als Messen mit zweierlei Maß kritisieren. Aber wissen Sie was? Andere machen das auch.
Roland Tichy beispielsweise erklärt in einem bei horizont.net angeteaserten Interview aus der Print-Version:
„Dazu kommt in der Flüchtlingsfrage der hohe Ton der Moralisierung: Wer auf praktische Probleme hinweist, wird mit dem moralischen Imperativ erschlagen. (...) Dabei müssten sich Politik und Medien doch um die Alltagswirklichkeit und um pragmatische Lösungen kümmern, anstatt sich mit moralisierenden Scheingefechten von der Lebenswirklichkeit zu entfernen“
[An dieser Stelle müssen Sie sich fünfminütiges, hysterisches Lachen vorstellen.] Denn warum zur Hölle betreibt Tichy dann seine Einblicke in der Art und Weise, wie er es tut, wenn er für Pragmatismus und gegen moralisierende Scheingefechte ist?
Anderes Beispiel: Ulrich Reitz. Der frühere Focus-Chef erklärt im Interview mit Bülend Ürük bei kress.de:
„Es ist doch grundsätzlich der Job von Journalisten, Sachlichkeit sowie Distanz zu wahren und nicht, Emotionalität zu zeigen. (...) Radikale oder Dumme entlarven sich selbst. Journalisten muss es in erster Linie um die Information und punktuell in entsprechenden Formaten um deren Kommentierung gehen.“
Hier kann man sich den komplett von Reitz verantworteten Focus-Jahrgang 2015 anschauen und sich an sachlichen, distanzierten Titeln wie der Abbildung eines Maschinengewehrs mit der Schlagzeile „Das hat nichts mit dem Islam zu tun“ – „Doch!“ oder das an Griechenland adressierte „Kein Cent mehr!“ erfreuen.
Wenn alle, die immer erzählen, wie es zu laufen hat, sich selbst an ihre Tipps hielten, wäre doch schon viel gewonnen im Journalismus.
+++ Dass einer der zentralen Bestandteile des gestrigen Geburtstagskindes namens Twitter (siehe Altpapier) Fake-Accounts sind, hat Markus Reuter bereits am Wochenende bei Netzpolitik.org belegt. Das tagesaktuelle Beispiel ist als @AfD-BremenNord unterwegs. „Am Montag gegen 13 Uhr wurde die Seite in ,Fake AfD Bremen-Nord’ umbenannt, mit der Beschreibung ,Fake-Realsatire-Satire-Account des Kreißsaalverbandes AfD Bremen-Nord’, wenige Minuten später stand allerdings wieder der alte Name dort. Dass es sich um eine Fälschung handelt, ist somit klar. Von dem Account aus wurden - unter ,AfD Bremen-Nord’ - satirische Kurznachrichten verschickt, die sich schnell im Netz verbreiteten. Die richtige AfD Bremen fand das gar nicht lustig und ging gegen die Urheber vor“, vermeldet der Tagesspiegel. +++
+++ Bundesgerichtsurteile sollen in Zukunft in Radio und Fernsehen übertragen werden dürfen, meint der Justizminister, schreibt die taz. „Am stärksten betroffen wäre der BGH mit jährlich mehr als 600 mündlich verkündeten Zivil- und rund 150 Strafurteilen. Die ablehnende Haltung der Bundesgerichte sei aber einmütig, sagt [die Präsidentin des Bundesgerichtshofs, Bettina] Limperg. Es habe auch schon einen gemeinsamen Brief an Maas gegeben. Limpergs Sorge ist der ,Missbrauch’ der Bilder. Wenn sich ein Richter verhaspele oder verspreche, dann könnte das in Satireshows oder auf YouTube landen. ,So etwas gefährdet das Ansehen der ganzen Justiz’, glaubt sie.“ Allerdings wären nach dieser Logik auch Stefan Raab, Oliver Welke und Jan Böhmermann für die Politikverdrossenheit zuständig, und nicht die Politiker. +++
+++ Türkei I: Mike Szymanski hat für die Medienseite der SZ Can Dündar interviewt, Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, der ab Freitag vor Gericht steht, weil er über angebliche Waffenlieferungen der Türkei an den IS berichtet hat. „Viele sind noch engagierter dabei, widerstandsfähiger, würde ich sagen. Wir versuchen so zu bleiben, wie wir sind. Als unser Ankara-Korrespondent und ich in Untersuchungshaft waren, haben die Kollegen jeden Tag berichtet. Das ist genau die richtige Zeit für Journalisten. In Finnland wäre es doch ziemlich langweilig, Journalist zu sein. Dort ereignen sich Verkehrsunfälle, und manchmal nicht einmal das. Wir befinden uns in einem Kampf für Demokratie.“ +++
+++ Türkei II: Die ehemalige Chefredakteurin von Zaman, der unter staatliche Aufsicht gestellten türkischen Zeitung (Altpapier), mag nicht zurück in ihre Heimat reisen. „Ich werde in nächster Zeit nicht in die Türkei zurückkehren, nicht bis die Türkei ein sicheres Land für Journalisten wird“, zitiert sie der Standard. +++
+++ Mathias Müller von Blumencron war für die FAZ beim „South by Southwest“ in Texas. Auf deren Medienseite berichtet er nun von den Erfolgsrezepten der Buzzfeeds ([Marketing-Chef Frank] Cooper lässt keinen Zweifel daran, was für die Macher von ,Buzzfeed’ zählt: nicht ein Informationsangebot nach Relevanzkriterien, sondern ein Mechanismus, der Nutzern zur rechten Zeit genau das liefert, was sie gerade für sich als bedeutend erachten. ,Empathie und menschliche Verbindung sind die neuen Supermächte, um ein großes Publikum anzuziehen’, sagt Cooper.“) und Vox Medias („Wer Jim Bankoff zuhört, hat für einen kurzen Moment das Gefühl, die Welt sei doch noch in Ordnung: Der Chef von Vox Media, einem der innovativsten Unternehmen des Landes, betont, wie wichtig seine Redakteure sind, welche Bedeutung Qualität und Marken haben.“) +++
+++ Mit dem Zustand der Presse im aktuellen Reiseziel Barack Obamas beschäftigt sich René Zeyer bei der Medienwoche. +++
+++ Georg Altrogge schreibt bei Meedia, was er zuvor bei Tichys Einblicke gelesen hat. Nämlich, dass der Spiegel nach rechts gerückt zu sein schein. „Tatsächlich hat der Spiegel ein Problem. Das Magazin, das wiederholt die Kritik von Unionspolitikern thematisierte, wonach die Kanzlerin mit ihrer Flüchtlings-Politik ein Vakuum rechts neben der CDU geschaffen habe, rückt offenbar selbst immer weiter nach rechts. Es ist ein im Kern simples, eher noch simplifizierendes Bild, das die Redaktion von der politischen Lage zeichnet. Die Formel lautet Alle gegen Merkel und umgekehrt.“ +++
+++ Ein wenig Entscheidungshilfe, ob man in der letzten Woche vielleicht doch noch die Crowdfundingaktion von Perspektive Daily unterstützen sollte, gibt es im Interview (falls das der richtige Begriff für einen Mailwechsel sein sollte) der NDR Netzwelt mit Gründer Bernhard Eickenberg. +++
+++ Fernsehtipp I: Wer heute ab 22 Uhr noch nichts vor hat, kann unter www.muxx.tv „Haus am Rande der Stadt“ sehen – eine Late-Night-Show ohne Budget und Konzept, dafür mit Ulli Potofski. „Wir machen uns einen schönen Abend und lassen im übertragenen Sinne die Tür offen für alle Zuschauer, die mal vorbeischauen wollen“, erklärt dieser bei DWDL. +++
+++ Fernsehtipp II: Falls das nichts sein sollte, können Sie um 22.30 Uhr auch zu ZDFneo und dessen neuen Serie „Blockbustaz“ schalten. Eko Fresh spielt darin einen erfolglosen Plattenbau-Rapper und erzählt davon im Interview mit dem Tagesspiegel. „,Blockbustaz’ bietet Comedy mit vielen Slapstick-Elementen. Es gibt einige Situationen, die eher dem klassischen ,Auf der Banane ausrutschen’-Schema ähneln. Auch wenn die Situationskomik manchmal sehr salopp erscheint, bleibt es trotzdem lustig“, meint die dpa/Hamburger Abendblatt. +++
Frisches Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.