Inszenierung und Authentizität

Inszenierung und Authentizität
An manchen Tagen überschlagen sich die Ereignisse. Zu anderen Zeiten haben sie nichts zu berichten. Wie sollen die klassischen Nachrichtenformate damit umgehen? Darüber hinaus geht es am Beispiel des Todes von Guido Westerwelle darum, wie Medien mit Irritationen umgehen.

Heute hat Twitter Geburtstag. Nach zehn Jahren, so die heutige Meldung, erreicht es in Deutschland jeden Monat zwölf Millionen Nutzer. Damit will das Unternehmen auf die Möglichkeit hinweisen, in Zukunft ein funktionierendes Geschäftsmodell anbieten zu können. Das interessiert schließlich potentielle Investoren. Mit dem bisherigen Image, bei uns ein soziales Netzwerk für „Medienmacher und Promis“ zu sein, wird man sicherlich nicht die entsprechenden Erlöse erwirtschaften können. Twitter hält allerdings bis heute an einem linearen Format fest, wo der Nutzer selbst entscheiden muss, was er für wichtig oder unwichtig hält. In einem Interview mit Wired nennt der Deutschlandchef des Unternehmens den besonderen Reiz, den es für seine Nutzer ausmacht: „Für viele Nutzer ist es das Besondere an Twitter, dass es nicht kuratiert oder vorsortiert durch einen Algorithmus ist, sondern man selbst die Möglichkeit hat, seinen eigenen Informationsstrom zusammenstellen. Das macht ja gerade den Reiz aus. Warum sollten wir das ändern?“ Thomas de Buhr spricht damit ein wichtiges Thema an. Welche Bedeutung haben in Zukunft noch die scheinbar antiquierten linearen Formate? Die Nachrichtenlage vom vergangenen Freitag ermöglicht einen Blick auf dieses Problem. Sie zeigt anläßlich des Todes von Guido Westerwelle zugleich, wie Medien mit Irritationen umgehen.

+++ Der Freitag war „kein gewöhnlicher Nachrichtentag“, so formulierte es der WDR-Kollege Udo Stiehl in seinem Blog. Es gab zwölf Eilmeldungen der DPA und die Tagesschau hatte drei Aufmacher gleichzeitig. Stiehl fasst diese Nachrichtenlage vom Freitag so zusammen:

„Kurz vor Mittag wird bekannt, dass der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth gestorben ist. Nur wenig später finden zwei wichtige Auslosungen für die anstehenden Begegnungen in der Fußball-Champions-League und der Europa-League statt. Inzwischen wird im Porsche-Prozess der ehemalige Konzernchef Wendelin Wiedeking vom Vorwurf der Kursmanipulation freigesprochen, in Belgien führen Spezialeinheiten der Polizei eine Anti-Terror-Razzia durch, in deren Folge einer der mutmaßlichen Anführer der Anschläge von Paris gefasst wird, einige Kilometer weiter beschließen in Brüssel die EU-Länder das Abkommen mit der Türkei zum künftigen Umgang mit Flüchtlingen und um 14.26 Uhr läuft die Meldung vom Tod des FDP-Politikers Guido Westerwelle über die Agenturen. Und nun packen Sie das mal alles in eine Nachrichtensendung.“ (Hervorhebungen von Udo Stiehl)

Die Auslosungen für die europäischen Fußball-Wettbewerbe passen allerdings nicht in diese Aufzählung, weil ihnen das Merkmal des Außergewöhnlichen fehlt. Das ist bei den anderen Ereignissen zweifellos der Fall. Stiehl entwickelt daraus die interessante Frage, ob das lineare Programmschema noch zeitgemäß ist. Er plädiert dafür, die Dauer der Nachrichtensendungen im Radio und Fernsehen an das Nachrichtenaufkommen anzupassen. Dafür verweist er auf seine Erfahrungen im WDR-Hörfunkprogramm, das ein „Konzept der flexiblen Länge von Nachrichtensendungen“ verfolge. Die Tagesschau um 20:00 Uhr könnte diesen Ansatz übernehmen, so sein Vorschlag.

Diese Flexibilität der Nachrichten auf WDR 2 ist aber einem Umstand geschuldet, den Stiehl nicht erwähnt. Radio wird häufig im Auto gehört, eine entsprechenden Bedeutung haben trotz der Navigationssysteme immer noch die Verkehrsinformationen. Wenn im Radio über 150 Kilometer Staus auf den Autobahnen in NRW berichtet werden muss, droht im Zeitalter des Zappens die Untreue des Hörers, der gerade nicht im Stau sitzt. Dann kann man auch die Nachrichten verkürzen, wenn wenig passiert ist. Im Radio orientieren sich Mediennutzer schon längst nicht mehr an der Programmplanung der Redaktionen. Diese reagieren vielmehr auf die Ewartungen der Konsumenten, oder was sie dafür halten. Mit dem Effekt, dass sich die Mainstreamwellen immer weniger unterscheiden. Mit der überall gleichen Musikauswahl und der Orientierung an möglichst kurzen, aber dafür unterhaltsamen Wortbeiträgen.

Die klassischen Nachrichtensendungen im Fernsehen sollten sich nicht an dieser Logik orientieren. Es gibt nämlich keine nachrichtenarme Zeiten, sondern nur Tage ohne außergewöhnliche Ereignisse. Gerade wenn nichts passiert, kann die Tagesschau über das berichten, was ansonsten keine Chance hat, in die 20:00 Uhr Ausgabe zu kommen. Das mag das lineare Programmschema am Ende nicht retten. Jeder kennt das Mediennutzungsverhalten jüngerer Leute. Aber nur unter dieser Voraussetzung haben Redaktionen noch die Möglichkeit, ihre Berichterstattung an journalistische Kriterien auszurichten. Also auch das zu senden, was den Zuschauer wahrscheinlich erst einmal nicht interessiert. Er hat davon schließlich vorher noch nie gehört. Es sind die selten gewordenen Augenblicke, wo Journalismus noch nicht zum Sklaven von außergewöhnlichen Ereignissen geworden ist – oder lediglich die Erwartungen des Publikums bedient. Diese werden allerdings vom Marketing definiert.

+++ Die Nachricht vom Tod Guido Westerwelles kam überraschend, obwohl jeder die Schwere seiner Krankheit kannte. Sein Umgang mit der Krankheit hatte ihm großen Respekt eingebracht, das zunehmend die Sichtweise auf den FDP-Politiker Westerwelle korrigierte. Westerwelle zeigte eindrucksvoll, wie man mit der existentiellen Krise einer Krebserkrankung als öffentliche Person umgehen kann. Es beeindruckte die Authentizität, die er in seinen Auftritten unter Beweis stellte. Westerwelle war nämlich einer der ersten deutschen Politiker gewesen war, die die Rolle der heutigen Medienlandschaft zu wissen nutzte. Die Inszenierung war zu einem wesentlichen Merkmal seiner politischen Karriere geworden, ob mit einem Auftritt bei Big Brother oder dem Guidomobil.

Für den grandiosen Wahlerfolg der FDP bei der Bundestagswahl von 2009 war er deshalb in gleicher Weise verantwortlich, wie für deren desaströses Scheitern im Jahr 2013. An Westerwelle wurden die Möglichkeiten und Grenzen eines Politikverständnisses deutlich, das Politik hauptsächlich als Inszenierung versteht. Westerwelle war insofern der erste moderne Politiker in Deutschland. In seinem Umgang mit der Krebserkrankung war nichts mehr von dieser Instrumentalisierung der Medien zu spüren. Es war ein anderer Westerwelle, gerade nicht der am Ende gescheiterte Politiker, sondern es beeindruckte der Mensch als Privatperson.

Das ist bei den diversen Nachrufen zu spüren, die ihm sicherlich gefallen hätten. Ob der von Gregor Gysi oder des FAS-Redakteurs Rainer Hank, die aus entgegengesetzten Gründen die politischen Verdienste Westerwelles herausstellen. Was aber für die Medien irritierend ist, sind die Aussagen auf der Website der Westerwelle Foundation nach seinem Tod. Dort sind folgende Worte zu lesen:

„Guido Westerwelle verstarb am 18. März in der Kölner Universitätsklinik an den Folgen seiner Leukämiebehandlung.“

Im n-tv Ticker wurden am Freitag Nachmittag diese Worte auch anfänglich zitiert, um sie aber später so zu ändern.

„Guido Westerwelle verstarb an den Folgen seiner Leukämieerkrankung.“

Diese Wortwahl wählten später auch alle anderen Medien. Tatsächlich war der Leser über diese ursprüngliche Formulierung irritiert gewesen. An den Folgen einer Behandlung zu sterben, ist etwas anderes als der Tod als Folge der Erkrankung. Es entsteht der Verdacht eines ärztlichen Kunstfehlers. Das will offensichtlich niemand unterstellen, obwohl die Westerwelle Foundation bis heute nichts an dieser Wortwahl geändert hat. Diese hat sie aber auch nicht erklärt. Vielleicht sollen mit diesem einen Satz die Grenzen der Medizin deutlich werden. Sie am Ende nicht zu leisten vermochte, worauf Westerwelle im vergangenen Jahr noch hoffte: Ihm mehr Zeit zu verschaffen. Das wäre eine mögliche Interpretation dieses irritierenden Satzes.

Guido Westerwelle und sein Ehemann Michael Mronz haben diese Erklärung der Westerwelle Foundation beide unterschrieben. Westerwelle war sich der Wirkung seiner Worte immer bewusst. Er hat es geschafft, die Medien und die Öffentlichkeit sogar noch nach seinem Tod zu irritieren. Das muss ihm wirklich erst einmal einer nachmachen.


Altpapierkorb

+++ Zu Twitter gibt es viel zu sagen. So hat der Marketingchef von Twitter in Deutschland auf die Frage bei Meedia, ob Twitter nur etwas für Journalisten wäre, folgende Antwort gefunden: „Lustigerweise denken nur Journalisten so. Warum? Weil sie nur ihre eigene Filterblase kennen. Dieser Eindruck entsteht natürlich schnell, wenn mann fast ausschließlich Journalisten und Medien folgt.“ Wie diese Filterblase auch intern funktioniert, machte Rowan Barnett auch nachvollziehbar. Warum alle glaubten, Twitter stecke in einer gewissen Dauerkrise, so die Frage. „Ihr schreibt diese Schlagzeilen, nicht wir“, so die Antwort. Oft wäre die Innenwahrnehmung ganz anders als die Außenwahrnehmung. Das stimmt. Auf der Titanic konnte man sich lange auch nicht vorstellen, tatsächlich auf einem sinkenden Schiff zu sein. Die Diskrepanz zwischen Innen- und Außenwahrnehmung wäre dort bestimmt ebenfalls zum Ausdruck gekommen. Wenn denn jemand schon hätte twittern können.

+++ Zur Tagesschau gibt es auch etwas zu sagen. Im öffentlich-rechtlichen Sendeverbund namens ARD hat jetzt sogar der Bayerische Rundfunk kapituliert. Er lässt in Zukunft ebenfalls das Abendprogramm mit der 20:00 Uhr Ausgabe der Tagesschau beginnen. Darin drückt sich entweder Wertschätzung aus oder der Verlust regionalen Eigensinns. Vielleicht kann man auf Twitter über diese Frage diskutieren.

+++ An dessen Massenwirksamkeit kann ja kein Zweifel mehr bestehen. Die meisten Follower haben auf Twitter ausnahmslos Fußballer, inklusive Heidi Klum. Niemand kann junge Frauen so geschickt ins Abseits stellen, wie die Unterhaltungskünstlerin von Pro 7. Das schafft bestenfalls noch Pep Guardiola beim Umgang mit Mario Götze. Mit der Funktion des Trainers als Unterhaltungskünstler beschäftigte sich auch Michael Houreni in der FAS: „Was für ein Theater! Für den Mann von der Bühne ist Pep Guardiola die mit Abstand größte Begabung im Volkstheater Bundesliga. „Ein grandioser Schauspieler“, sagt Treusch. Der Katalane könnte zweifellos einen richtigen Schauspieler abgeben, so viel Talent habe er. „Bei Guardiola ist es mir zum ersten Mal aufgefallen, dass ein Trainer theatralisch über neunzig Minuten so super drauf ist. Und die verschiedenen Gesten, die er hat! Es sind ganz extreme Wechsel dabei, so, als überlegte er sich, wie er von Einstellung zu Einstellung noch eine weitere Geste zeigen kann. Ob das so ist? Wenn man ihn fragt, würde er das natürlich nicht sagen. Wer verrät das auch?“ Insofern ist eines damit völlig klar. Mario Götze wird wohl nicht bei Heidi Klum reüssieren können. Ihm fehlt einfach die schauspielerische Begabung.

+++ Das Bundesverwaltungsgericht hat den Rundfunkbeitrag für rechtmäßig erklärt. Das war zwar keine Überraschung, löst aber doch die entsprechenden Reaktionen aus. Die Gewerkschaften weisen auf die schlechter werdenden Arbeitsbedingungen für freie Journalisten hin. Kritiker vermelden die „Bunkermentalität“ im öffentlich-rechtliche Rundfunk, womit er „in der Gesellschaft weiter an Rückhalt“ verliere. „Noch nie in seiner Geschichte war sein Ansehen auf einen solchen Tiefpunkt angelangt. Immer weniger Bürger sind bereit, ein kaum noch zu überschauendes Konglomerat an rund zwei Dutzend Fernsehsendern und über 60 Radiostationen zu finanzieren.“ Das prägt auch die alten Überlegungen der FDP, das ZDF zu privatisieren. Nur müssen sich diese Kritiker endlich entscheiden, was sie kritisieren. Entweder die Orientierung an den Mainstream oder das Senden von Nischenprogrammen, die kaum einer wahrnimmt. Die spannende Frage ist allerdings, ob das deutsche Mediensystem besser mit einem geschwächten öffentlich-rechtlichen Rundfunk funktionierte. Der Nachweis wurde noch nicht erbracht.

+++ Über den Umgang mit Nischenprogrammen in der ARD der Deutschlandfunk und Altpapier-Autor René Martens in der Medienkorrespondenz. Ein Tipp für alle Verantwortlichen. Solche Nischen müssen nicht dem Mainstream gefallen - oder den eigenen Präferenzen entsprechen.

+++ Die AfD ist im WDR ein Thema aus Sicht eines Medienwissenschaftlers. Deren Anhänger gehören zu den entschiedensten Kritikern des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, weswegen aber nicht jeder dieser Kritiker der Nähe zur AfD bezichtigt werden sollte. Es wäre ein Fortschritt, wenn sich nach den Landtagswahlen eine gewisse Nüchternheit im Umgang mit dieser Partei einstellen könnte. Wenigstens bei den Journalisten, die über sie berichten.

+++ Über die Möglichkeiten effizienter Mediennutzung erfahren wir etwas von Donald Trump.

+++ Der Spiegel hat sich einem neuen Rechercheverbund internationaler Medien angeschlossen. Man kann wirklich nur hoffen, dass das Nachrichtenmagazin noch den Überblick über seine Rechercheverbünde behält. Wenn nicht, hilft bestimmt die NSA.

+++ Was heute wieder einmal nicht fehlt? Der Versuch in der Türkei, den Journalismus nicht der Regierung zu überlassen. Deren Umgang mit kritischen Journalisten wird nicht zuletzt an der faktischen Ausweisung des Spiegel-Korrespondenten deutlich.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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