Alles ist bekanntlich eine Frage der Perspektive. So könnte man die Ereignisse in Sachsen vom vergangenen Wochenende auch so kommentieren:
„In Wahrheit waren die Nächte von Clausnitz und Bautzen einfach das kolossale Versagen der lokalen Polizei. Das ist ein Fall für den Landtag des Freistaates Sachsen. Die Politiker haben Angst vor ihrem Volk. Sie trauen den Deutschen nicht über den Weg. Willkommenskultur hin oder her – ein paar demonstrierende Sachesen und schon reisst der Firnis der Zivilisation. Aber wer in der Ära des Flashmob solche Überlegungen anstellt, macht sich gleich der Verharmlosung verdächtig. Das Lexikon sagt, ein Flashmob ist ein kurzer, scheinbar spontaner Menschenauflauf auf öffentlichen oder halböffentlichen Plätzen, bei dem die Teilnehmer sich nicht persönlich kennen und ungewöhnliche Dinge tun. Der Flashmob ist damit die Metapher unserer Gegenwart. Manche Herren stellen sich einen Journalismus vor, der die veröffentlichte Meinung der öffentlichen anpasst. Sie kümmern sich nicht mehr darum, dass im seriösen Journalismus zuerst die Fakten kommen, dann die Meinung. Sie verlassen sich auf die Mechanismen des Flashmob. Aber sie gehen da eine Wette mit dem Teufel ein. Denn immer häufiger unterschreitet die Reaktionszeit der Öffentlichkeit die Frist, die ein kluger Gedanke braucht. Und so kurz wie ein Tweet ist, so tief sind heute oft die politischen Analysen.“
Mancher wird diese Sätze erkennen. Sie stammen leicht verändert von Jakob Augstein, die er nach den Silvester-Ereignissen am Kölner Hauptbahnhof formuliert hat. Deren Problem war übrigens nicht die Warnung vor dem Reaktionsmechanismus der Medien, sondern dass seine Tatsachenfeststellung falsch waren. Die Kölner Übergriffe waren eben nicht die Projektionen von Rassisten, wie Augstein suggerierte. Er hatte sich an seine eigenen Kriterien nicht gehalten. Aber die Medien müssen sich schon fragen lassen, warum ihre heutige Berichterstattung von dieser These geprägt wird, in Clausnitz und Bautzen könnten noch nicht einmal zweihundert Demonstranten und Zuschauer den „Firnis der Zivilisation“ freigelegt haben.
Dabei gibt es bisher keinen Hinweis, warum etwa die Darstellung der Polizei über die Ereignisse in Clausnitz falsch sein könnte. Sie beinhaltet zudem die berechtigte Frage, warum sie so lange brauchte, um den Einzug der Flüchtlinge in ihre Unterkunft sicherzustellen. Auch sind bisher keine Ordnungswidrigkeiten oder sonstige Straftaten zu erkennen, wenn man einmal von der Straßenblockade zur Zufahrt des Flüchtlingsheim absieht. Aber solche Blockaden gehören mittlerweile zum Alltag zivilen Ungehorsams. In Bautzen ist das strafbare Verhalten übrigens anders zu beurteilen. Die Botschaft, die die Medien heute über diese Ereignisse vermitteln, ist von einem Verdacht geprägt. Diese Demonstranten könnten relevante Teile der deutsche Gesellschaft repräsentieren. Sollen sie aber tatsächlich das Volk sein, das sie in Clausnitz für sich proklamierten?
Das ist die eigentliche Gefahr für diese Gesellschaft. Denn ohne diese Legitimation verlieren sie ihre pazifizierende Wirkung, nämlich als Minderheit das Votum der Mehrheit zu akzeptieren. Das gilt auch für die Aufnahme von Flüchtlingen. Ein Mediensystem, das aber schon diesem Konflikt die Legitimation abspricht, wird daher das Gegenteil vom dem erreichen, was es beabsichtigt. Es wird diesen Delegitimationsprozeß demokratischer Verfahren weiter beschleunigen. Insofern sollte sich jeder gut überlegen, ob er in dieser Debatte der Logik des Boulevard vertraut. Wobei natürlich die Frage diskutiert werden kann, ob in Sachsen ein spezifischer soziokultureller Hintergrund existiert, der den Freistaat für solche Vorfälle anfällig macht. Vergleichbares gab es schließlich auch nach den Silvester-Ereignissen, allerdings über die kulturellen Dispositionen der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten. In beiden Fällen solltze man den Generalverdacht vermeiden.
+++ In diesen Zusammenhang sollte man folgende Idee zur Kenntnis nehmen. Der FAZ-Blogger Don Alphonso beschäftigt sich in diesem Beitrag mit der Frage, wie man mit anderen Meinungen umgehen sollte.
„Aber neben einigen, vorsichtig gesagt, ungewöhnlichen Gedankenmodellen lernt man bei der Lektüre der Originalquelle auch noch etwas anderes. Ruhig bleiben. Durchatmen. Das ist ganz wichtig, denn über Augustinus kann man wirklich Magengeschwüre bekommen. Das heisst aber noch lange nicht, dass alles grundfalsch ist, was er predigt: Sein Hauptwerk geht zwar von Grundannahmen über die Sündhaftigkeit des Menschen aus, die mit unserer aufgeklärten Gesellschaft unvereinbar sind. Danach ist er aber so rational und sinnhaft wie ein Aktienkaufprogramm an der Börse. Wir beurteilen seine Grundlagen heute anders, aber das ändert überhaupt nichts am Umstand, dass Augustinus in seinen besten Momenten ein bestechend klarer Denker war, an den sich manche geistig weit weniger Brillante heute immer noch klammern, wenn sie Abtreibungsverbote, sexuelle Enthaltsamkeit und als Familienministerin das neue sog. Prostitutionsschutzgesetz fordern. Was ich damit sagen will: Es lohnt sich, diese Texte langsam, ruhig und gelassen erst einmal zu lesen und zu verstehen. Ablehnen kann man sie nachher immer noch.“
Das ist tatsächlich nicht auf Twitter zu formulieren. Insoweit stellt sich die beängstigende Frage, ob es hier nicht eine Gemeinsamkeit zwischen Augstein und Don Alphonso geben könnte.
Altpapierkorb
+++ Dafür beschäftigt sich der Spiegel in seiner aktuellen Ausgabe mit den Nöten des Anlegers. Was an dieser Geschichte auffällt. Es waren nicht zuletzt die Medien gewesen, die den Umbau der deutschen Rentenversicherung zu einer Grundsicherung mit dem Ausbau der staatlich geförderten Privatvorsorge befürworteten. Jetzt erleben wir wieder einmal die Folgen dieser Politik, die eben keine Garantie auf hohe Renditen versprechen kann. An diesem Beispiel kann man durchaus die Relevanz von Berichterstattung diskutieren. Deren Problem war nämlich nicht diese Tatsache, dass Renditeerwartungen zumeist mit dem Eingehen entsprechender Risiken verbunden sind. Sondern in der damaligen Debatte, dieses Argument nicht ernst genommen zu haben. Der Spiegel scheint das allerdings immer noch nicht verstanden zu haben.
+++ Die Nöte der Medien, in der Digitalisierung ein Geschäftsmodell zu finden, sind bekannt. Insofern ist der Schritt der Cicero-Chefredaktion in die verlegerische Selbständigkeit Erfolg zu wünschen. Der stellvertretende Chefredakteur Alexander Marguier nennt bei Kress einen Grund, warum das Projekt gelingen könnte: „Der Charme des Management-Buyouts liegt auch darin, dass wir als nun Kleinverleger einen besseren Blick auf das Geschäft haben, als das aus dem fernen Zürich möglich war. Durch unsere Doppelfunktion entstehen auch viele Synergien.“
+++ Außerdem gibt es Neues über Kress.
+++ Über die Situation von Bloggern in Vietnam informiert das Medienmagazin des bayerischen Rundfunks. Über das Medienverständnis in Russland dagegen die Süddeutsche Zeitung. Solche Beispiel sind übrigens immer gut geeignet, um zu wissen, wie man es nicht machen sollte.
+++ „Natürlich kommen auch in München oder in Berlin sofort die Morddrohungen, wenn man irgendetwas Kritisches schreibt. Aber man geht ja doch abgeklärt um, man steckt das weg, trägt die Schlimmsten zur Polizei, macht eine Anzeige. Und erst wenn der Polizist so leicht mitleidig guckt, merkt man, dass das mit dem Vertrauen in den Rechtsstaat nicht so überall greift. Es ist ein Gefühl, das nicht wirklich schön ist.“ So Annette Ramelsberger in einer Laudatio auf Ulrich Wolf.
+++ „Sie dürften aber auch keine Themen ausblenden, sagte di Lorenzo dem Internetportal "katholisch.de" der katholischen Kirche in Deutschland. "Ein Journalismus, der bestimmte Themen nicht stattfinden lässt, aus Angst, das könnte die Falschen munitionieren, macht sich angreifbar", so der Chefredakteur der in Hamburg erscheinenden Wochenzeitung. "Insofern glaube ich, dass die Ereignisse von Köln nicht nur für unser Land ein Wendepunkt waren, sondern auch für den Journalismus." Zu lesen beim Standard. Di Lorenzo hat zudem ein Interview im Deutschlandfunk. Die Zeit feiert bekanntlich in diesen Tagen ihren 70. Geburtstag.
+++ "Ich denke schon. Und zwar, weil sie von interessierter Seite, wie Pegida- oder AfD-Leuten, strategisch als Teil des Systems vereinnahmt werden; weil diese Medien eben da sind und groß sind und gute Gegner abgeben. Die Angriffe sind aber nicht gerechtfertigt und werden es auch durch Lärm nicht. Die Kritik, wir seien alle gesteuert, ist glatter Unfug. Darauf können wir uns kaum einlassen, eben weil es eine plumpe Lüge ist. Der Spiegel gehört mehrheitlich den Mitarbeitern. Den Kurs des Spiegel bestimmt der Chefredakteur zusammen mit der Redaktion. Punkt. Die FAZ schreibt anders als die Süddeutsche. Die Welt hat in der Flüchtlingsberichterstattung einen anderen Kurs als die taz. Es gibt keine Systempresse, das ist eine Erfindung. Wie soll man auf einen erfundenen Vorwurf antworten?" Eine gute Frage vom Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer bei Meedia.
+++ Schließlich noch die Meldung vom Sport. Oder wie Rudi Völler Fragen stellte.
Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.