Was ist denn eigentlich?

Was ist denn eigentlich?
Die Journalistin des Jahres weiß nicht, was Journalismus ist. Springers Welt weiß, dass ihr ehemaliger Mitarbeiter auf Abwege Richtung AfD geriet. Giovanni di Lorenzo weiß mehr als andere. Mark Zuckerberg weiß, welche Fragen in der kommenden Woche auf ihn zukommen. Nur die Freie Presse weiß nicht, was bei der Einwohnerversammlung in Burgstädt passierte.

Für Journalisten, die den Rat von Anja Reschke befolgen, wird der heutige Tag ganz schön anstrengend. Schließlich ist der Sockel, von dem sie sich runter zu bewegen haben, ziemlich hoch.

Gestern Abend wurde Reschke vom Medium Magazin zur Journalistin des Jahres gewählt (was anders als bei so ziemlich jeder anderen Preisverleihung bedeutet, dass sie auch gleichzeitig Journalist des Jahres ist). Als Dank hielt sie eine Rede, die man sich hier, leicht verwackelt, bei Periscope anschauen kann. Für Eilige habe ich mal ein paar zentrale Aspekte rausgeschrieben:

„Meine Rolle ist die einer Journalistin. Aber: Ich weiß nicht mehr, was das ist. (...) Wie sind denn unsere Instrumente, was müssen wir denn machen? In dieser Verunsicherung spüre ich mich. (...) Ich bin dann immer wieder auf den Satz gestoßen: ,Sagen, was ist’. Aber ganz ehrlich: Was ist denn eigentlich?“

„Ist es richtig, dass wir etwas bewerten müssen, wenn wir es gar nicht können?“

„Ich glaube, dass wir letztendlich einer falschen Vorstellung aufsitzen. Und zwar der Vorstellung, dass wir neutral berichterstatten können. Nein, das können wir nicht.“

„Das ist jetzt genau der Moment, wo sich der Journalismus wieder neu sortiert. Wo wir wieder dafür da sind, auch wieder dieses Land und diese Gesellschaft – denn es geht wieder um die grundlegenden gesellschaftlichen Fragen – neu aufzustellen. Aber ich glaube, wir können das nicht mehr machen mit der alten, elitären Rolle. Mit behaupten, wir wissen, was ist.“

Der Journalismus, der sich in den vergangenen Jahren vor allem damit beschäftigte, wie man Daten aufbereitet, Snapchat bedient und damit auch noch Geld verdient, überdenkt sein Kerngeschäft. Keine schlechte Idee, schließlich hat (unter anderem) der Medienwandel nicht nur etwas mit unserem Erlöskonzept gemacht, sondern auch mit der Gesellschaft.

Nun ist es nicht ganz neu, den Anspruch des Allwissenden aufzugeben. Nach dem Anschlägen von Paris etwa sortierte Zeit Online seine Nachrichten in „Was wir wissen“ und „Was wir nicht wissen.“ Es ist jedoch bislang die Ausnahme.

Aber funktioniert das? Ist verlorene Glaubwürdigkeit durch authentisches Einräumen von Nicht-Wissen zurückzugewinnen? Einen Versuch ist es wert.

[+++] In diesem Sinne:

Ich kenne Günther Lachmann nicht. Weder persönlich noch als Autor ist er mir bislang über den Weg gelaufen, da ich weder Springers Welt lese noch AfD-Expertin bin. Vor einer Woche habe ich hier im Altpapier einen Artikel von Boris Rosenkranz verlinkt, der dubiose Verschränkungen zwischen dem vermeintlich unabhängigen Welt-Autoren und der Partei andeutete, bei der er angeblich für gutes Geld als Berater anheuern wollte. Danach habe ich darüber nur noch im Altpapier gelesen, zuletzt gestern, als es hieß, Lachmann habe seinen Job verloren.

Am Nachmittag folgte dann die Veröffentlichung dieses Textes von Welt-Chef Stefan Aust, in dem er die Entlassung Lachmanns erklärt:

„Als Antwort auf eine von Günther Lachmann an Pretzell geschickte Abmahnung legte am vergangenen Samstag der AfD-Politiker Ablichtungen von E-Mails vor, in denen Lachmann der AfD-Führung tatsächlich u.a. Vorschläge für eine politische Strategie der Partei gemacht hatte. Für Honorarforderungen gab es keine schriftlichen Belege. Doch schon die E-Mails allein sind grobe Verstöße gegen fundamentale journalistische Grundsätze. Ein Journalist, der sich als PR-Berater einer Partei andient, hat seine Unabhängigkeit verloren, seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt – und damit seinen Job.“

Ich weiß, dass politische Journalisten in den USA nicht mal wählen gehen sollen, um eine halbwegs faire Berichterstattung über Politiker zu garantieren.

Ich weiß, dass man das in Deutschland nicht so eng sieht und Politik-Journalisten nicht nur wählen, sondern auch Mitglieder von Parteien sein dürfen (bzw. einfach sind, Beispiellink).

Ich weiß nicht, was Günther Lachmann geritten hat, diesen Spielraum so auszudehnen, dass er sich der AfD als Berater andienen wollte.

Nochmal Aust:

„Es ist nicht das erste Mal, dass Mitarbeiter eines Unternehmens, auch eines Presseunternehmens gegen ihren Arbeitsvertrag, den generellen Presse-Kodex oder andere eigentlich selbstverständliche Grundsätze verstoßen. Das macht die Sache nicht besser. Wir können aber nichts anderes tun als den Fall lückenlos aufzuklären und die Vorgänge so offenzulegen wie es arbeitsrechtlich irgend möglich ist. Dazu gehört auch, Herrn Lachmanns Berichterstattung über die AfD nachträglich kritisch zu hinterfragen.“

Ich habe daraufhin „Günther Lachmann site:welt.de“ gegoogelt und unter anderem diesen Artikel gefunden, den er gemeinsam mit Olaf Sundermeyer Ende Januar veröffentlicht hat.

„Aber es ist eine andere, enthemmtere AfD, die nun in diese Räume hineingrätscht. Ihren Gründern ging es um Widerstand gegen die Euro-Rettungspolitik – der neuen AfD geht es ums Ganze. Sie steht für einen zunehmend völkisch trommelnden Nationalismus. Die AfD wird zur neuen deutschen Rechten.“

Ist das Wehmut, die hier spricht? Wollte hier jemand nicht länger nur zuschauen, wie die erzkonservative, Euro-kritische Partei Richtung Rechtsextremismus abrutscht?

Ich weiß es nicht. Aber ich finde, Journalisten, mit denen der Aktivismus durchgeht, sollten ehrlich mit sich selbst sein und ihrer neuen Berufung folgen, auch wenn es die Aufgabe einer Springer-Festanstellung mit sich bringt, die manche offensichtlich für erstrebenswert halten.

Dem Journalismus wurde hier, mal wieder, kein Gefallen getan.

„,Auch im Journalismus arbeiten nur Menschen, und Menschen machen Fehler - in diesem Fall schlimme Fehler’, sagt Hans-Peter Buschheuer, Vorsitzender des Journalistenverbands Berlin-Brandenburg (JVBB). ,Von diesem Fall abzuleiten, die ganze Branche sei verdorben, wäre fehl am Platz. Aber natürlich ist der Fall Wasser auf die Mühlen der ,Lügenpresse’-Fans und Verschwörungstheoretiker.“ (Quelle: kress.de)

Aus dem Land, in dem politische Journalisten nicht wählen sollen, gibt es für solche Situationen einen Begriff. Ich weiß ihn. Er heißt Clusterfuck.

[+++] Weiteres Wissen meinerseits: Die Wochenzeitung Zeit wird dieser Tage 70 Jahre alt und feiert das mit einer gestern erschienenen Sonderausgabe. In dieser beschwört Giovanni di Lorenzo noch einmal den weiter oben bereits zu Grabe getragenen mächtigen Journalismus, der die Welt verändert:

„Guter Journalismus beschreibt und bewertet nicht nur das Zeitgeschehen, er kann auch etwas verändern. Und – in einer Jubiläumswoche darf man das pathetische Wort mal benutzen – die Welt auch ein bisschen erträglicher machen. Vielleicht muss man gerade in diesen Zeiten daran erinnern, in denen sich über den Journalismus der Schatten des Misstrauens gelegt hat und der Verdacht, die Medien würden von finsteren Mächten gelenkt. Die Wahrheit ist: Der lebenslange Traum jedes Journalisten ist es, wenigstens einmal einen mächtigen Menschen zu dekuvrieren.“

Unter uns: Die echte Wahrheit ist, dass di Lorenzo das erstens gar nicht wissen kann und zweitens die Journalisten vergisst, die auf Presseveranstaltungen auch immer anzutreffen sind, und deren lebenslanger Traum es zu sein scheint, wenigstens einmal einen prominenten Menschen zu hofieren („Herr M’Barek, gut sehen Sie heute wieder aus. Wie machen Sie das?“, nur als Beispiel).  

Doch auch an der Zeit geht der Wandel nicht spurlos vorüber, wie di Lorenzos Stellvertreterin Sabine Rückert im Meedia-Interview mit Alexander Becker dokumentiert:

„Die Lügenpressevorwürfe halte ich deshalb schon für absurd, weil man gegen jeden Artikel diese Behauptung erheben kann. Kein Artikel kann umfassend sein. Es wäre dann ja der immer währende Artikel. Also eine Art Buch Gottes. Ein Artikel muss einen Anfang und ein Ende haben. Damit klammert er aber auch wieder Dinge aus und ist angreifbar. Darauf beruhen oft die Taschenspielertricks, die man gegen die Lügenpresse anwendet. Eine Republik ohne die traditionellen Zeitungen und ohne öffentlich-rechtlichen Rundfunk mag ich mir gar nicht vorstellen.

Andererseits haben wir Journalisten aber immer auch eine Muezzin-Position. Was wir rufen, wird immer noch lauter gehört. Da muss man sich schon anders benehmen. Die alte Rücksichtslosigkeit nach dem Motto ,Ich bin die Zeit, ich habe recht’, kann man sich heute nicht mehr leisten. Was in Ordnung ist.“

Es bewegt sich was. Glaube ich.

[+++] Aus demselben Interview, einfach, weil es so schön ist:

„Jetzt müssen Sie es auch verraten: Sehen die Leute bei der Zeit so eindrucksvoll aus, wie sie schreiben?“

„Meistens ja, manchmal sehen sie aber auch eindrucksvoller aus, als sie schreiben. Und manchmal ist es andersherum.“

„Wer sieht denn eindrucksvoller aus, als er schreibt?“

„Ha! Das würden Sie gerne wissen.“

„Ja.“

„Das sage ich Ihnen aber nicht. Und überhaupt: Das ist von Typ zu Typ verschieden und liegt im Auge des Betrachters. Bei mir ist es jedenfalls so, dass ich so eindrucksvoll aussehe, wie ich schreibe.“

Eine Debatte zwischen Teenies, wer zuerst auflegt, könnte nicht schöner sein.


Altpapierkorb

+++ Warum ist das mit den Privatsphäre-Einstellungen so kompliziert? Wie geht das mit den Hassposts gegen Flüchtlinge weiter? Ham Sie nen Hund? Das ist nur eine mikrospopisch kleine Auswahl der Fragen, die Mark Zuckerberg als Reaktion auf einen Facebook-Post gestern erhalten hat. Darin hatte er genau dazu aufgerufen: Fragen zu stellen, die er bei seinem Berlinbesuch am übernächsten Freitag beantworten will. +++

+++ Dabei ist Facebook nicht das einzige Netzwerk, das unter seinem unangenehmen Publikum leidet. „To leave that metaphor, let us grieve at what twitter has become. A stalking ground for the sanctimoniously self-righteous who love to second-guess, to leap to conclusions and be offended – worse, to be offended on behalf of others they do not even know. It’s as nasty and unwholesome a characteristic as can be imagined. It doesn’t matter whether they think they’re defending women, men, transgender people, Muslims, humanists … the ghastliness is absolutely the same.“ Das schreibt Stephen Fry auf seiner Website über Twitter, wo er seinen Account nun gelöscht hat. Hintergrund und Einordnung gibt es beim Guardian. +++

+++ Sie nennen es Journalismus I: Huffington Post. (Boris Rosenkranz, Übermedien) +++

+++ Sie nennen es Journalismus II: Focus Online. (Carsten Drees, Mobile Geeks) +++

+++ Bei Quartz versuchen sie nun, Nachrichten per eigenem Messenger unters Volk zu bringen. Bei Vocer berichten so-called Experten, wie sie’s finden. Weitere Einschätzungen hat  Jannis Kucharz im Netzfeuilleton. +++

+++ Auch die Funke-Mediengruppe hat ein Problem mit Pauschalisten und versucht gerade, sich diese mit Knebelverträgen vom Hals zu halten. Sagen zumindest die Freien. Die Freischreiber haben deren Sicht der offiziellen Version des Verlags gegenübergestellt. +++

+++ Einwohnerversammlung im sächsischen Burgstädt. Klingt auf den ersten Blick nicht gerade nach einem Fall für die Hauptstadtpresse. Aber wenn dort über Flüchtlinge diskutiert und die örtliche Freie Presse dabei ausgeschlossen wird, berichtet doch der Tagesspiegel. +++

+++ In 50 Minuten durch das komplette ZDF-Programm schafft es Mario Sixtus’ ZDF-Mockumentery „Operation Naked“. In den verschiedenen Formaten vom „Morgenmagazin“ bis zur „heute show“ wird die Erfindung einer Datenbrille diskutiert, die Gesichter und Orte mit Informationen aus dem Netz anreichert. Im linearen Fernsehen gibt es das erst am kommenden Montag zu sehen, in der Mediathek schon seit gestern. „Mir ist diese Utopie aber trotzdem zu nah am Post-Privacy-Gedanke dran und leider werden Datenschützer mit ihren berechtigten Anliegen in dieser Mockumentary nur als Kriminelle dargestellt, die was zu verbergen haben. Hier wäre die Chance gewesen, die Debatte darum so differenziert darzustellen, wie sie laufen könnte. Aber trotzdem ist der Film sehenswert, alleine für die Nachstellung der medialen Debatte, die mit einer Produktshow durch das halbe ZDF-Abendprogramm einlädt“, meint Markus Beckedahl bei Netzpolitik.org. Casper Clemens Mierau aka Leitmedium berichtet von der Premiere. +++

+++ Menschen nachträglich in Fotos zu montieren geht gar nicht, findet das Mindener Tageblatt und hat einen Mitarbeiter, der dies tat, rausgeschmissen. +++

+++ „Seit Anfang Februar hat Jutta Bielig-Wonka ein neue Aufgabe: Die einstige Reporterin und spätere Leiterin der Politikredaktion ist seit rund zwei Wochen die Leiterin der RTL-Hauptstadtredaktion mit über 70 Mitarbeitern der Politik- und Gesellschaftsredaktion.“ Für Kurt Sagatz vom Tagesspiegel ein Anlass, ihr beim neuen Job mal über die Schulter zu schauen. +++

+++ Was macht eigentlich die Deutsche Welle Akademie? Das wird heute auf der Medienseite der FAZ geklärt, wo zudem Ursula Scheer den heutigen Sat1-Film „Die Hebamme II“ (?!?) bespricht. +++

+++ Die US-Fernsehserienexperten von der SZ berichten derweil über „Rin Tin Tin“ als erste US-Serie im deutschen Fernsehen. Sechzig Jahre ist das her. Außerdem beschäftigt sich Stefan Fischer noch einmal mit der Frage, wie der WDR in Zukunft finanziell klarkommen soll, wenn er weniger Werbung senden darf. +++

Neues Altpapier gibt es morgen wieder. 

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