Wahrscheinlich sind sie bei der AfD selbst mindestens so überrascht wie in der rheinland-pfälzischen SPD und bei den baden-württembergischen Grünen, wie viel Wert die deutsche Medienöffentlichkeit inzwischen auf Medienpräsenz der Partei AfD legt.
Die schönste Selbstverpflichtung hat Lenz Jacobsen bei zeit.de formuliert:
"Medien haben nicht die Aufgabe, Parteien groß zu machen oder klein halten, auch nicht die AfD. Muss man diese Selbstverständlichkeit wirklich erwähnen? Offenbar ja. Aufgabe der Medien ist es schlicht, ein möglichst faires, umfassendes und aufgeklärtes Gespräch der Gesellschaft mit sich selbst zu ermöglichen."
Wer würde unterschreiben? (Claus Kleber?)
Das Meinungbarometer der Leitmedien schlägt, falls man das so formulieren kann, klar gegen SPD und Grüne sowie den zwar zähneknirschenden, aber ihnen willigen SWR aus. "Eine Schande für den Journalismus, ein Problem für die Demokratie", heißt's im verlinkten zeit.de-Artikel noch. "Das Verhalten der etablierten Politiker ist erbärmlich", schreibt Jens Schneider heute auf der Meinungsseite der Süddeutschen.
Ruprecht Polenz packt als alter Strippenzieher der CDU und Fernsehrats-Vorsitzender des ZDF die Gelegenheit beim Schopf, sowohl Grünen und SPD (die in den südwestdeutschen Bundesländern zurzeit regieren, ohne mit der CDU zu koalieren) als auch der ARD-Anstalt SWR einen mitzugeben (handelsblatt.com). Und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff, der im MDR auch nicht mit dem Kandidaten der AfD diskutieren darf oder muss, "sagte dem Tagesspiegel: 'Ich hätte kein Problem damit, auch mit Vertretern der AfD zu diskutieren. Ein Teil der Bevölkerung hat die Absicht, diese Partei zu wählen. Damit muss man sich auseinandersetzen.'"
Der MDR handelt ähnlich wie der SWR, handelte aber bereits bei früheren Wahlen so (nach dem "Prinzip der abgestuften Chancengleichheit"), steht daher weniger in der Kritik. Dass sie beim MDR smarter agieren als im alten Westen - auch nicht unüberraschend.
Und wenn der eingangs erhoffte Überraschungseffekt seitens der AfD dann zur Erkenntnis führt, dass in der deutschen Medienlandschaft vieles nicht so finster ist wie die glaubten, die gern "Lügenpresse!" posten oder rufen, dann wäre vieles prima.
[+++] Falls Sie doch nicht so optimistisch sind und den jüngsten Lobo noch nicht gelesen haben, wäre jetzt Gelegenheit. (Falls Sie doch optimistisch sind: Überspringen Sie diesen Absatz!). Sascha Lobo ist die Angela Merkel des digitalen Diskurses: In jeder neuen Zeiteinheit steht er immer "noch mehr" "unter Druck" als in der letzten Zeiteinheit schon, aber er denkt nicht daran aufzugeben. Er gießt (womit die Merkel-Parallele schon wieder endet) seine Verzweiflung über die sozialen Medien in immer neue, bestens formulierte Kolumnen, die oft auch Newswert besitzen. Diese Woche:
"Die OECD hat herausgefunden, dass in allen Ländern die Social-Media-Nutzer gebildeter sind als der Bevölkerungsdurchschnitt. Außer in Deutschland. Ausgerechnet hier ist es andersherum: je dümmer, desto Social Media."
Als Beleg verlinkt Lobo via Twitter diese Grafik. Der Ausweg, den er schließlich vorschlägt, ist freilich riskant:
"Bitte, mindestens durchschnittlich Begabte, kommt zu uns ins Netz! Diskutiert mit, redet mit, zeigt euch! Lasst uns nicht allein mit den stumpfen Horden. Kommt!"
Wäre in Lobos Logik nicht mindestens unklar, ob der "Deppenmagnet deutsches Facebook" (auch Lobo ebd.) diskursiv aufgewertet wird, wenn dort mehr Begabte um Likes geifern, oder ob nicht auch deren Niveau sinkt und alles noch schlimmer wird?
Das hinge wahrscheinlich davon ab, aus welcher historischen Perspektive Lobo seine verzweifelte Metapher vom "digitalen Stalingrad der Vollidiotie" (ebenfalls ebd.) verfeuert hat ...
[+++] Wenn Sie doch optimistisch sind und froh, am besten Tag der Welt (öffentlich-rechtliches Audioformat) im besten Land der Welt (kleiner Hype in sog. soz. Medien gestern) zu leben, hat Hans Hoff was für Sie.
Der verdiente Veteran der freien Medienkritik hat im alt-ehrwürdigen "Wir müssen reden"-Gestus außer der Reihe seiner eigentlich wochenend-lichen dwdl.de-Beiträge eine lange "Wir können glücklich sein mit ARD und ZDF"!-Liebeserklärung an die öffentlich-rechtlichen Medien verfasst, die selbst in der abgebrühten ARD-Pressestelle Gänsehaut erzeugte.
"ARD und ZDF und alle anderen Sender des öffentlich-rechtlichen Systems leisten zu 99 Prozent hervorragende Arbeit. Es gibt jede Menge engagierte Mitarbeiter, es gibt kluge Konzepte, es gibt hier und da sogar Visionen, wie die Zukunft aussehen könnte. Das mit den 99 Prozent ist eine Schätzung, es könnte ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger sein",
schreibt er unter anderem (wie gesagt bei dwdl.de, das ja immerhin verlässlich dokumentiert, wie verdammt oft diese ARD/ ZDF-Arbeit darin besteht, Marktanteils-Erfolge dadurch zu erringen, dass "Discounter-Doku ... gegen ARD-Nonnen" programmiert werden).
Zu Hoffs Anlässen zählte nun nicht die TV-Duell-Politik des SWR, aber wohl vor allem "diese unfassbar naive WDR-Mitarbeiterin, deren Namen zu ihrem eigenen Schutz hier nicht genannt werden soll" (siehe Altpapier vom Dienstag), Claus Klebers "ehrliches Reuebekenntnis" und einiges andere.
[+++] Falls Sie so emotional dann doch nicht drauf sind, zumindest ARD und ZDF gegenüber, sondern wissenschaftliche Distanz bevorzugen, die idealerweise in eingängigen, schön dramatischen und leicht zu teilenden Formulierungen daher kommt, hat der Tagesspiegel tagesaktuell Neues vom Tübinger Medienwissenschaftler Bernd Pörksen im Angebot.
"Die emotionale Sofortdeutung erschlägt das Warten auf belastbare Faktizität",
lautet einer seiner frischen Sätze, oder:
"Ungewissheit und Unsicherheit sind in der digitalen Gesellschaft der informationstechnisch produzierte Dauerzustand – und gleichzeitig eben doch kognitiv unaushaltbar".
Außer dem "blitzschnellen Deutungszwang unserer Tage" gelangt auch die vermutlich wohl doch nicht original Pörksen'schen Formulierung "Sofortismus" noch zu Ehren. Und:
"Die Mediengesellschaft hat die Ratlosigkeit und das Noch-nicht-Wissen tabuisiert."
Egal.
[+++] Wenn Sie das Hoff'sche Wohlgefühl gerne dahingehend vertiefen wollen, dass die Medien sowohl "lernfähig" sind als auch sogar bereits deutlich schlechter waren als zurzeit, dann hat evangelisch.de noch einen Vortrag des Direktors des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik (in dessen Angebot also auch das Altpapier erscheint) im Angebot. Jörg Bollmann hat statt der Aufreger der letzten Wochen mehrere vergangenen Jahrzehnte im Blick. Und so ein "erbärmliches Bild" wie im August 1988 bei der Geiselnahme durch Gangster in Gladbeck haben die deutschen Medien seitdem wohl tatsächlich nicht mehr geboten.
Nicht immer auf die unmittelbare Gegenwart zu schauen, hilft jedenfalls gegen Sofortismus. (Und Hannover 96-Anhänger müssen Bollmanns Vortrag sowieso klicken ...)
[+++] Falls Sie jetzt doch noch unmittelbarere Gegenwart brauchen, komplizierte, die zwar nach blitzschnellem Deutungszwang zu schreien scheint, ihn aber keinesfalls bekommen sollte:
Das könnte die deutsche Mediengesellschaft noch länger beschäftigen, so oder so. Daher hat nun ein Anwalt aus Konstanz am Bodensee einen namentlich nicht genannten russischen, aus Berlin berichtenden Journalisten wegen Volksverhetzung angezeigt (Tagesspiegel, Tagesspiegel). Denn der hatte für russische Staatsmedien über eine Vergewaltigung durch "Südländer" im Stadtteil Marzahn berichtet, die nach Angaben der Berliner Polizei nicht stattgefunden habe, die aber sowohl auf russisch unter Russlandddeutschen als auch in NPD-Kreisen zirkuliert. Sie führte bereits zu Demonstrationen und soll zu weiteren, auch "vor dem Kanzleramt" führen.
Die TAZ hatte die gute Idee, sowohl eine Inlandredakteurin als auch ihren Russland-Korrespondenten Klaus-Helge Donath darauf anzusetzen.
+++ Im Jahr 2015 "verbrachten die Deutschen täglich über 10 Stunden mit der Nutzung von Medien, wovon mit 70 Prozent der mit Abstand größte Anteil auf die Nutzung von Fernsehen und Radio entfiel". Und "die mediale Nutzung des Internets beträgt täglich rund eine Stunde" im deutschen Durchschnitt. Das hat die Privatsenderlobby VPRT errechnet (siehe auch hier nebenan). +++
+++ Gute Idee auch auf der SZ-Medienseite: "Wie Polens neue Regierung den Rundfunk verändert" anhand von konkreten Beispielen zu zeigen. Etwa: "Als Moderator einer politischen Talkshow im polnischen Fernsehen hat Tomasz Lis manchen Wechsel erlebt. ... 303 Sendungen lang habe sich 'keiner je in meine Programmgestaltung eingemischt', sagt der 49-jährige Moderator, der Chefredakteur der polnischen Newsweek-Ausgabe ist. Dann übernahm die von der nationalkonservativen Partei 'Recht und Gerechtigkeit' (Pis) gebildete Regierung das Sagen bei Polens öffentlich-rechtlichen Medien. Einen Tag nach dem Antritt der neuen Mannschaft am 8. Januar bekam Lis eine Aufforderung des kurz zuvor ernannten Fernsehdirektors, er möge für seine nächste Sendung einen Gast wieder ausladen: Andrzej Rzepli?ski, Präsident des polnischen Verfassungsgerichtes", berichtet Florian Hassel. +++
+++ Am Rande der FAZ-Medienseite nennt Michael Hanfeld "den besten Vorschlag, wie man die Affäre um die 'Elefantenrunden' beim SWR löst", einen von Ludger Fittkau im Deutschlandfunk unterbreiteten: Der Sender hätte "das Ganze streichen sollen". +++
+++ Viele Nachrufe auf George Weidenfeld, der mit 96 Jahren starb. "Mit ihm versinkt das glorreiche Wien der Zeit vor der deutschen Annexion von 1938 endgültig in der Geschichte ..." (Tagesspiegel). +++ "Gerade sein nie versiegendes Interesse an Deutschland bewegte ihn dazu, die Deutschen zu kritisieren, wenn er eine Fehlentwicklung zu entdecken glaubte. So nannte er die seiner Meinung nach wahllose Aufnahmebereitschaft der Deutschen in der Flüchtlingskrise in einem Interview mit der Welt am Sonntag, deren Verlag er eng verbunden war, 'Ignoranz'. Die deutsche Öffentlichkeit freue sich, 'als könnte man damit die Schuld der Großeltern wieder tilgen. Hitler ausmerzen, indem die Deutschen endlich die Guten sind' ..." (Süddeutsche). +++ "Er hatte geistige Wirkung. Er hatte politischen Einfluss. Er hatte Geld. Er hatte Spaß. Welch glückhafter Virtuose ..." (Mathias Döpfner in der Welt). +++
+++ "Dramatische Zahlen für die beiden überregionalen Springer-Tageszeitungen Bild und Welt. Beide büßten laut IVW im vierten Quartal mehr als 10% ihrer Abos und Einzelverkäufe ein" (meedia.de). +++
+++ Aktuell bei uebermedien.de: wie auf dem internationalen Markt der Geschichts-Dokus schon mal Nazizeit und Stalinismus durcheinandergeraten. +++
+++ Um Netflix' "True Crime"-Format "Making a Murderer" geht es, kritisch, auf der FAZ-Medienseite (siehe auch SZ neulich, New Yorker via piqd.de). +++
+++ "In Deutschland schreibt man erklärend vor das Wort 'Buzzfeed' gern 'Internetplattform' oder weniger nett 'Viralschleuder'. Beides ist nicht direkt falsch, doch auch nicht mehr ganz richtig", erklärt welt.de. +++
+++ Schon mal weitere "Schmerzen" für Berliner Zeitungen wurden beim Neujahrsempfang der Berliner DuMont-Zeitungen angekündigt (meedia.de). +++
+++ Gestern hier im Altpapierkorb verlinkt: ein Offener Brief der zweikampfhasen.de an Lutz Marmor, auf den der NDR dann per Pressemitteilung reagiert hat. Der Sender habe dem Kabarettisten-Duo durchaus etwas bezahlen wollen. Worauf das Duo wiederum, in der Journalistengewerkschafts-Zeitschrift mmm, u.a. mit dem Vorwurf der "Medienpiraterie" reagierte. +++
Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.