Der Sonntagabend gehört dem Tatort. Er wird das Bild von der Arbeit einer Mordkommission bei den meisten Zuschauern prägen, auch wenn jeder den Unterschied zwischen der Wirklichkeit und einem fiktionalen Fernsehformat kennt. Tötungsdelikte wie Mord und Totschlag sind in Deutschland ein höchst seltenes Ereignis, und das auch noch mit abnehmender Tendenz. Während in München die Tatort-Kommissare ermitteln, kommt der Münchner Polizeipräsident in seinem Sicherheitsreport 2014 zu eher prosaischen Erkenntnissen.
„Im Jahr 2014 wurden insgesamt 29 (33) Mord- und Totschlagsdelikte verübt. 7 (14) dieser Taten wurden vollendet – in 22 (19) Fällen handelt es sich um Versuche. 28 (32) dieser Tötungsdelikte konnten geklärt werden, bei einem versuchten Totschlag dauern die Täterermittlungen noch an. In 22 der 29 Fälle handelte es sich um Beziehungstaten, in denen der Täter aus dem Verwandten- oder Bekanntenkreis des Opfers kam. 25 der 28 ermittelten Täter waren männlich. Im Gegensatz zu den Vorjahren lag die Zahl nichtdeutscher Tatverdächtiger mit 15 nur geringfügig über der der deutschen Vergleichsgruppe (13 TV). In 10 Fällen verwendeten die Täter ein Messer, Schusswaffen wurden nicht eingesetzt.“ (In Klammern die Zahlen von 2013 F.L.)
Vergleichbares lässt sich über jede andere andere deutsche Stadt sagen. Die Wahrscheinlichkeit, jemanden zu kennen, der vom Blitz „direkt oder indirekt geschädigt“ wird, ist auch nicht höher als einen Mord im eigenen Umfeld zu erleben. Trotzdem lebt die fiktionale Fernsehunterhaltung heute weitgehend von Mord und Totschlag. Ob sie das Unsicherheitsgefühl der Menschen beeinflußt?
Das könnte man vermeiden, wenn man gestern Abend einmal nicht den Tatort gesehen haben sollte. Zur gleichen Zeit lief im Deutschlandfunk ein Feature über die „Deutsche Vergangenheit in der Fernsehfiktion“. Es geht um den Boom, den Formate wie „Unser Mütter, unsere Väter“ oder die gerade laufende RTL-Serie „Deutschland ´83“ ausgelöst haben. Die interessante Frage ist, wie solche Formate unser Bild von der Vergangenheit prägen. Über das geplante Format „Babylon Berlin“ von Tom Tykwer sagt allerdings Gebhard Henke, WDR-Programmbereichsleiter Fernsehfilm, Kino, Serie, im DLF-Feature erstaunliche Sätze.
„Es gab ein großes Misstrauen gegenüber der Emotionalisierung. Die Jugend wurde verführt durch die Nazis // Wenn man mit jemand im Ausland redet, die sagen, ihr seid nicht mal stolz auf eure Fußballmannschaft, ihr traut euch nicht mal eure Hymne zu singen. Das beobachten andere interessiert. Irgendwie habt ihr einen Knacks, was Emotionen angeht. // Und sich in diesem Kontext noch mal neu den 20er Jahren zuzuwenden, die gar nicht das Problem hatten. Ich meine die wussten noch nicht, was mit den Faschisten auf sie zukamen, das finde ich sehr spannend.“
In der Moderation fassen die Autoren Susanne Luerweg und Sabine Oelze diesen Ansatz so zusammen.
„Eine neue Generation von Filmemachern dreht nun für ein neues Publikum, das gewillt ist, die Geschichte aufzuarbeiten und anders zu sehen.“
Das hat allerdings mit Geschichte nichts zu tun. Es findet in solchen Formaten keine Aufarbeitung statt, die etwas mit den damaligen Ereignissen zu tun haben. Hier werden vielmehr Denkblockaden beseitigt, die mit dem pädagogischen Anspruch zu tun haben, der in einem Satz zusammenzufassen ist: „Lernen aus der Geschichte“. Die Lehren kannte die Erlebnisgeneration, weil sie von den Emotionen geprägt worden ist, die die bitteren Erfahrungen mit den Zeitumständen bei ihr hinterlassen hatten. Den Nachgeborenen ist das erspart geblieben. Es geht in diesen Formaten um den „Knacks in den eigenen Emotionen“ und nicht um das Gefühlsleben der Menschen aus den 1920er Jahren. Und hier ist auch die Verbindung zum Tatort. Die Ermittlungen der altgedienten Kommissare Batic und Leitmayr sollte man nämlich auch nicht mit der Wirklichkeit in München verwechseln.
+++ Aber wer hört schon Radio? Wo man schließlich über den #Tatort in Echtzeit twittern kann. Heute sind die „sozialen Netzwerke“ das Medium, wo jeder seinen Beitrag zur Meinungsbildung leisten kann. Das erlebten wir zuletzt bei den Mordanschlägen in San Bernardino und jeden Montag neu bei Pegida-Demonstrationen. Am Beispiel der USA ließ sich die Wechselwirkung zwischen klassischen Medien, die noch nie den Blick in das Schlafzimmer scheuten, und sozialen Netzwerken beobachten. Nichts bleibt unkommentiert, alles muss augenblicklich konterkariert werden. Da ist man schon froh, wenn sich die Junge Freiheit die Zeit nimmt, um etwas länger nachzudenken. Dort beschäftigt sich Karlheinz Weißmann mit einem Kommentar von Volker Zastrow in der FAS vom 1. Advent. Dieser ging nicht sehr freundlich mit der AfD um und diagnostizierte bei ihr „völkisches Denken“. In folgenden verschwurbelten Formulierungen von Weißmann fand Zastrow sogar eine inhaltliche Bestätigung.
„Aber soviel sei doch gesagt: die „Völkische Bewegung“ war ihrem Ursprung nach nichts anderes als die „Deutsche“ oder „Nationalbewegung“, das Wort „Volk“ nichts anderes als ein seit der Romantik bevorzugtes Ersatzwort für „Nation“, allerdings bei deutlicher Aufwertung derjenigen, die das Volk in seiner Breite ausmachen.“
„Selbst wenn man davon absieht, welchen Drangsalierungen die Mitglieder der AfD ausgesetzt sind, welche Beschimpfungen und Beleidigungen sie sich gefallen lassen müssen, welche Behinderungen bei ihrer politischen Arbeit und welche Übergriffe von seiten ihrer Feinde, müßte man doch zweierlei in Rechnung stellen: daß in jedem anderen Land der westlichen Welt der Tonfall äußerster Schärfe im Kampf gegen die „demokratischen Politiker“ – Zastrow meint die etablierten – zu den Selbstverständlichkeiten gehört, während bei uns das Establishment sofort „Volksverhetzung“ ruft und die Justiz in Marsch setzt.“
Was gilt jetzt? Der Tonfall der „äußersten Schärfe“ oder der besorgte Kammerton über den politisch Diskurs besorgter Gouveranten? Darf man nicht mit „äußerster Schärfe“ die AfD kritisieren, was man aber ansonsten für sich selbst in Anspruch nimmt? Stichwort: „Lügenpresse“. Weißmann tituliert in diesem Artikel den politischen Gegner als Feind. Er weiß genau, was er damit macht. In einem demokratischen Gemeinwesen wird mit dieser Differenz die Legitimation des politischen Gegners definiert. Das ist der Moment, wo die Emotionalisierung die Oberhand über die sachliche Auseinandersetzung behält. Es gibt nämlich ein berechtigtes historisches Misstrauen gegenüber der Emotionalisierung in der politischen Debatte. Dafür braucht man auch keine fiktionalen historischen TV-Formate. So prägten seit dem Sommer Emotionen die Flüchtlingsdebatte. Sie schwankten zwischen Willkommenskultur und Fremdenhass. Man sollte sich wirklich mit einem Mediensystem beschäftigen, das diese Emotionalisierung zum zentralen Element ihrer Funktionsweise gemacht hat. Was dagegen hilft? Journalismus.
Altpapierkorb
+++ Deshalb wird der Journalismus auch mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. So etwa in Polen nach dem Regierungswechsel. Die neue konservative Regierung trifft auf eine Bevölkerung, deren Mentalität in der taz so beschrieben wird: „Die Bevölkerung zuckt mit den Schultern. Was zählt, sind der Kontostand und das Kleingeld im Portemonnaie. Kaum jemand liest noch Zeitungen. Die wichtigeren Informationsquellen sind wieder der Priester auf der Kanzel und Radio und Fernsehen, die den ganzen Tag lang laufen. Das Verbrennen der „Judenpuppe“ hätte nicht unbedingt sein müssen, finden viele. Aber deshalb gleich dagegen protestieren?“
+++ In der Ukraine ist es kaum besser. Es geht nicht um Meinungen über ein Thema, sondern um einen Journalismus, der in der Berichterstattung zur Partei wird. Er kann das nur werden, wenn er die für einen aufklärerischen Journalismus relevanten Regeln ignoriert. Dazu Maxim Eristravi: „Zu meinem Schrecken habe ich seit Ausbruch des Kriegs in ukrainischen Redaktionen Ähnliches erlebt. Auch dort filtern Journalisten Nachrichten. So haben viele nicht darüber berichtet, dass Präsident Poroschenko einen bekannten Neonazi-Anführer aus Weißrussland zum Ehrenbürger ernannt hat. Sie fürchteten, russische Medien könnten diese Meldung für ihre These, die Ukraine sei ein Nazi-Staat geworden, ausschlachten. Ähnlich war es mit Meldungen über Kriegsverbrechen ukrainischer Paramilitärs. Die ukrainische Regierung benutzt zunehmend dieselben Mittel wie Russland: Ein Informationsministerium wird geschaffen, und kritische ausländische Journalisten werden des Landes verwiesen. Dennoch sind die russische und die ukrainische Propaganda nicht gleichzusetzen: Der staatliche Sender Russia Today hat für 2015 ein Budget von 247 Millionen Dollar; das ukrainische Informationsministerium verfügt über 184.000 Dollar.“
+++ Die Türkei droht dagegen zu einer Art Labor zu werden, um die schleichende Abschaffung der Pressefreiheit in Echtzeit zu beobachten. In Titel, Thesen, Temperamente konnte man dazu einen Bericht sehen. Allerdings um Mitternacht nach der Ausstrahlung von zwei Tatorten und den Tagesthemen.
+++ Wo bleibt das Positive? Die Lindenstraße ist am Sonntag 30 Jahre alt geworden. Wenn in den kommenden Jahrhunderten ein Historiker die Mentalitätsgeschichte der Deutschen zwischen dem Ende des 20. Jahrhunderts und dem frühen 21. Jahrhundert rekonstruieren will, könnte er auf diesen Dauerbrenner zurückgreifen. In der FAZ von Samstag erläuterte Hans Wilhelm Geißendörfer die Gründe: „Am deutlichsten dadurch, dass wir immer wieder ungeduldige Nachfragen bekommen, wenn wir ein für die Zuschauer wichtiges Ereignis nicht aktualisieren, warum wir denn über dies oder das nichts sagen. Die Zuschauer erwarten von den Lindensträßlern eine Stellungnahme. Leider schaffen wir das aus den verschiedensten Gründen nicht immer, aber zirka zwei Drittel der gesendeten Folgen im Jahr haben eine Aktualisierung. Und grundsätzlich gibt es immer in allen Geschichten den Bezug zur deutschen Gegenwart beziehungsweise Wirklichkeit.“
+++ Deutschland interveniert jetzt auch in Syrien. Das war zwar schon längst der Fall gewesen. Schließlich gehört Deutschland zur Anti-IS-Koalition. Aber der Einsatz der Bundeswehr-Tornados im syrischen Luftraum verändert den Blick auf das deutsche Engagement. Über die Rolle der Medien berichtet „Töne, Texte, Bilder“ in WDR 5. Im Sender gibt es übrigens auch eine Programmreform.
+++ Eine der Aufgaben von Medien ist die Irritation. Wem das immer wieder gelingt, ist Tilo Jung in der Bundespressekonferenz. Etwa hier zum Thema Syrien. Die Regierungssprecher sind allerdings die Irritierten. Sie erwecken nämlich andauernd den Eindruck, sie könnten von ihrer eigenen Argumentation nicht überzeugt sein. Dafür könnte man jetzt Jung verantwortlich machen. Aber die Bundesregierung könnte es besser mit einer Argumentation versuchen, die sogar deren Sprecher überzeugt. Nur falls jemand auf den Gedanken kommen sollte, die irritierenden Fragen wären das Problem, das die Bundesregierung jetzt unbedingt lösen müsste.
+++ Außerdem eine kurze TV-Kritik auf turi zu „Ein Herz für Kinder“ mit Johannes B. Kerner im ZDF. Stichwort: PR für Unternehmen mit Herz. Oder so ähnlich.
+++ Schließlich zwei Personalien. Sascha Hahn ist auf dem Traumschiff weiterhin unabkömmlich. Deswegen musste wahrscheinlich die SPD einen anderen Medienbeauftragten suchen.
+++ Was jetzt nicht mehr fehlt? Das Urheberrecht. Darf ORF-Lichtgestalt Armin Wolf einen Artikel aus der New York Times ohne Genehmigung übersetzen lassen und auf seine Facebook-Seite stellen? Natürlich nicht. Er darf ihn allerdings im Rahmen eines eigenen Beitrages zitieren. Wie man das macht, zeigen die Kollegen von Meedia. Sie zitieren aus dem Editorial von Stefan Aust in der Welt am Sonntag, um dieses als klare Absage an den "medialen Mainstream" zu interpretieren. Soweit sind wir schon: Aust als Kritiker des Mainstreams.
Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.