Muss Russlands Präsident Wladimir Putin in der Türkei beim G 20 Gipfel wieder einsam am Tisch sitzen? Dieses schwere Schicksal eines Mannes, der noch vor einem Jahr als das drängenste Problem der Weltpolitik betrachtet worden war, stand beim Gipfel in Brisbane im Jahr 2014 im Vordergrund. In der Medienkritik sorgte das für aufschlussreiche Debatten. Die Ukraine-Berichterstattung in den meisten deutschen Medien war nicht wegen ihrer politischen Ausrichtung angreifbar geworden. Es war völlig in Ordnung gewesen, Russland von einem westlichen Standpunkt aus zu kritisieren. Journalisten haben Überzeugungen, die sie auch ausdrücken dürfen. Das Problem war die Berichterstattung selbst, die sich den Vorwurf gefallen lassen musste, jedes Ereignis in der Ukraine-Krise aus der ideologischen Brille zu beurteilen. Dafür stand die Debatte um dieses Bild beim Abendessen in Brisbane.
Beim derzeitigen Gipfel in der Türkei werden solche Bilder (und die Diskussionen darüber) keine Rolle mehr spielen. Putin gilt wieder als ein Faktor in der Weltpolitik, der nicht ignoriert werden kann. Das kommt auch in den Medien zum Ausdruck. Das Interesse an Bildern vom russischen Präsidenten, der einsam an seinem Tisch sitzen muss, ist verschwunden. Selbst wenn es zufälligerweise wieder ein solches Bild geben könnte, wird niemand mehr so wie damals Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-Aktuell, in seinem Blog argumentieren.
„Nun weiß ich nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie auf einer Party am 8er-Tisch sitzen und links und rechts neben Ihnen jeweils drei bzw. zwei Stühle frei bleiben. Ich nenne das einsam und verlassen. Ob mit oder ohne Roussef, mit oder ohne Kellner, das Bild erzählt genau diese Geschichte: Putin ist isoliert. Insofern stehe ich hundertprozentig hinter der Formulierung unseres Korrespondenten. Abresch hat ja nicht gesagt “allein am Tisch”, aber selbst wenn, hätte ich ihm das durchgehen lassen, denn Putin sitzt am Tisch und ist einsam.“
Putin war schon damals nicht einsam und verlassen gewesen. Die westliche Ukraine-Politik hatte keineswegs unter den wichtigsten Mächten der Welt die Unterstützung gefunden, die Gniffke unterstellte, etwa in China. Dieser Kommentar war ein Ausdruck für eine gewisse deutsche Borniertheit gewesen, die bisweilen selbst unter Journalisten zu finden ist. Der damalige Grundkonflikt, der in den deutschen Medien eine entscheidende Rolle spielte, ist übrigens längst entschieden. Es ging darum, ob es allein die Entscheidung der Ukraine ist, ob sie westlichen Bündnissystemen wie der Nato oder der EU beitreten darf oder nicht. In Washington, Brüssel oder Berlin hat man diesen Anspruch längst beerdigt. In der Türkei beim G 20 Gipfel sitzen heute lauter Putin-Versteher, um dieses fast schon wieder vergessene polemische Schlagwort zu benutzen.
+++ Daran muss man heute erinnern, um die Kurzatmigkeit und Gedankenlosigkeit in den Medien zu schildern, wenn es um strategische Grundentscheidungen, wie das Verhältnis zu einer Großmacht wie Russland geht. Man kann sich die innere Verfasstheit solcher Großmächte nicht aussuchen, so hätte das ein Helmut Schmidt formuliert. Aber das schließt natürlich kritische Reflexionen über deren Politik nicht aus. So schrieb der geschätzte Kolumnist der Zeit, Michael Thumann, über den Terroranschlag des IS auf den russischen Airbus folgende bedenkenswerte Worte.
„Präsident Putin hat nun selbst in diese historische Entwicklung eingegriffen. Der Einsatz aufseiten der vermeintlich starken Männer des Nahen Ostens bringt sein Land bei vielen muslimischen Sunniten in Verruf und macht es zur Zielscheibe. Jetzt haben russische Urlauber mit ihrem Leben bezahlen müssen. Wo werden die Dschihadisten das nächste Mal zuschlagen? Ein russischer Publizist zog nach dem Flugzeugabsturz diese erste Bilanz: "Putin plus Assad ergibt minus 224."
"In für Frankreich ungewöhnlicher Dehnung des Völkerrechts bombardiert Frankreich seit Ende September die Kommandozentren des „Islamischen Staates“ in Syrien. Die Luftangriffe ohne UN-Mandat rechtfertigt das Land als legitime Selbstverteidigung nach Artikel 51 der UN-Charta. In der Nacht vom 8. auf den 9. Oktober wurde ein Versteck in Raqqa von französischen Rafale-Kampfflugzeugen bombardiert, in dem die Geheimdienste den Franzosen Salim Benghalim vermuteten. Der 35 Jahre alte Benghalim aus Cachan, einem Vorort von Paris, organisierte nach Informationen der französischen Ermittler den Empfang neuer frankophoner Dschihadisten in Syrien. Er soll einen Schlüsselposten für die Vorbereitung und Organisation von Attentaten auf französischem Boden innegehabt haben. Die Bombenangriffe hatten zum Ziel, Benghalim zu töten. Es bleibt jedoch unklar, ob dies gelang. In jedem Falle schreckt Frankreich, das die Todesstrafe 1981 abgeschafft hat, nicht davor zurück, französische Staatsbürger auf fremdem Boden „zu neutralisieren“, wie es der französische Verteidigungsminister formulierte.“
Frankreich und Russland operieren in Syrien in der Tradition klassischer Großmächte. Sie haben divergierende Interessen und zugleich die Funktion von Ordnungsmächten. Beides steht zumeist im Widerspruch. Es ist die Kunst der Diplomatie, sie zum Ausgleich zu bringen. Man müsste sich einmal vorstellen, ein französischer oder deutscher Publizist argumentierte nach den Pariser Attentaten, Hollande habe Frankreich "bei vielen sunnitischen Muslimen in Verruf" gebracht. Oder jemand machte die Rechnung seines russischen Kollegen auf: Hollande ohne Assad ergibt minus 132. Das ist die aktuelle Zahl der von den IS-Attentätern am Freitag ermordeten Menschen. Es bräche ein Shitstorm beispiellosen Ausmasses aus.
Sogar der im Vergleich dazu harmlose Artikel des früherer Spiegel-Journalisten Matthias Matussek nötigte seinen heutigen Arbeitgeber Welt zu einer scharfen Distanzierung. Thumanns Zynismus über die internationale Politik am Beispiel Russlands hinterließ dagegen in den sozialen Netzwerken und den etablierten Medien keine Spuren. Das hat niemanden gestört, wenn es überhaupt registriert worden ist. Vielmehr hat man vergleichbare Sichtweisen überall gefunden. Daher ist es seit Freitag auch kaum jemanden aufgefallen, dass sich Frankreich schon seit September im Krieg befindet als es in Syrien intervenierte.
Allerdings gab es damals keine entsprechenden Schlagzeilen. Es war in den deutschen Medien eine Fußnote gewesen, die niemanden interessierte. Wenn man in Deutschland darüber diskutiert, ob diese Attentate ein Terroranschlag oder ein Kriegsakt gewesen sind, ist das absurd. Es ist der Kriegsakt eines völkerrechtlich allerdings nicht als Kombattanten anerkannten Akteurs namens IS. Frankreich befand sich längst im Krieg. Man muss sich allerdings schon fragen, ob das die deutsche Politik überhaupt mitbekommen hat. Die Bundesverteidigungsministerin bei Günther Jauch nicht. Ursula von der Leyen will lieber nicht von Krieg sprechen. Die Bundeswehr ist zwar notorisch unterfinanziert. Aber kann sie sich noch nicht einmal mehr als ein Zeitungsabonnement leisten, wo von der Inanspruchnahme des Rechts auf Selbstverteidigung durch Frankreich die Rede war?
Damit wird das Problem der deutschen Medien deutlich. Sie wechseln notorisch zwischen Handlungsebenen. Andere Akteure wie Putin werden mit einem Zynismus bedacht, der als selbstverständlich gilt. Sobald es aber den Westen selbst betrifft, dominiert eine Form der Moralisierung, wo die analytische Ebene durch Empörung ersetzt wird. In Wirklichkeit kommt darin die eigene Doppelmoral zum Ausdruck. Oder sind die russischen Urlauber im Airbus anders zu beurteilen als die Toten von Paris? Versteht man das wirklich unter westlichen Werten, die wir gegen den IS verteidigen?
Eine rationale Debatte über die Folgen dieser Schreckensnacht von Paris kann sich diese Doppelmoral nicht leisten, weil sie über die Verfasstheit des Westens selbst in die Irre führt. Dieser ist nicht das Mekka der hohen Moral, sondern ein weltpolitischer Akteur mit eigenen Interessen – und dem darin liegenden Zynismus. In Frankreich wird man sich hoffentlich noch an den Kardinal Richelieu oder den General de Gaulle erinnern, damit man nicht völlig den Verstand verliert. Der verstorbene Helmut Schmidt hat gegen diese eigene Selbstüberhöhung und Selbstüberschätzung immer angeschrieben. Wir werden in den kommenden Tagen erleben, ob davon in den deutschen Medien ohne Schmidt noch etwas zu lesen sein wird. Ein Desaster wie in der Ukraine-Debatte können sich die Medien nämlich nicht noch einmal leisten.
Altpapierkorb
+++ Die ARD war am Freitagabend mit den Pariser Ereignissen sicht- und hörbar überfordert. Sie hatte das Freundschaftsspiel zwischen Frankreich und Deutschland übertragen und musste im Verlauf der Übertragung einen kaum zu leistenden Spagat realisieren. Sie mussten sprichwörtlich am Ball bleiben. Für den interessierte sich aber niemand mehr als die Ursache der im Stadion zu hörenden Explosionsgeräusche geklärt war. In der SZ wird diese Situation aus der Sicht der betroffenen Kollegen Matthias Opdenhövel und Tom Bartels geschildert. ">>Das war eine perverse Situation. Ich war überfordert. Das ist das Schlimmste, was passieren kann, dass Menschen sterben während eines Sportereignisses. Es war grausam, mit Worten nicht zu beschreiben und zu lösen", beschrieb Kommentator Tom Bartels am Samstag seine Gefühlslage während des Spiels. Angesichts dessen erledigte er - genauso wie die Kollegen am Spielfeldrand und im Studio - seine Aufgabe sehr gut. Sie blieben Reporter, ohne aber zu vergessen, auch Menschen und selbst betroffen zu sein vom Unfassbaren. Sie waren da in was hineingeraten, wie die Spieler, wie die Fans, sie wussten gar nicht, wie viel Glück sie wohl gehabt hatten.<<“
+++ In der taz beschäftigt sich dagegen Jürn Kruse mit der Berichterstattung von CNN. Aber vor allem mit der Kritik an ARD und ZDF: Es nicht so zu machen wie CNN. „Diesmal waren sie vorsichtiger. Und auch dafür gab es Prügel. Schnell wurde gefordert, doch die Berichterstattung vom Länderspiel abzubrechen, ins Nachrichtenstudio zu wechseln und dort in den Livemodus zu schalten. Doch was hätten die KollegInnen dort zu dem Zeitpunkt berichten können? Sie hätten es machen können wie CNN: Die immer gleichen Bilder von Polizisten auf Motorrädern, die immer gleichen Fragen nach Terror und Sicherheit. Am Ende hätten sie sich wieder in die Falle gelabert, wie damals nach Oslo. Trotzdem: Die Aufregung – vor allem im Online-Netwerk Twitter – war nicht zu ignorieren. Tenor: Bescheuerte ARD! Macht endliche Euren Job! Vielleicht sollten aber auch wir Nutzer endlich lernen, unseren Job ordentlich zu machen. Denn gesicherte Informationen brauchen ein bisschen Zeit. Seriöse Berichterstattung braucht ein bisschen Zeit. Für alles andere gibt es genau den Kanal, auf dem sich die Leute gerade tummelten und darüber beschwerten, dass ihnen die ARD im Fernsehen jetzt nicht all die mal mehr, mal weniger bestätigen Informationen präsentiert, die sie gerade selbst lesen. Der Kanal heißt Twitter.
+++ Wie der Deutschlandfunk mit diesem Problem der Berichterstattung in solchen Ereignissen umgeht, ist hier zu hören.
+++ Was darf die Bundesregierung in ihrer Informationspolitik und was nicht? Darüber gab es schon immer einen Streit, der bisweilen auch vor Gerichten ausgetragen worden ist. Einen originellen Einwand formuliert jetzt der DJV. „Dass die Kommunikationsabteilung einer Regierung ihre Aktivitäten heute nicht mehr auf den Versand von Pressemitteilungen und die regelmäßigen Besuche der Bundespressekonferenz beschränken darf, sollte eigentlich klar sein. Und dass in Facebook ein anderer Sprachstil und eine andere Bildersprache gepflegt werden muss als in klassischen Medien, auch. Vertretern der reinen Lehre mag das als "zu werblich" erscheinen. Was aber nicht in Ordnung ist: Offenbar verbreitet Seibert über den Facebook-Account Bilder und Nachrichten, die er den Medien verwehrt. Das muss sich schnellstens ändern, denn der Mann ist nicht nur PR-Manager, sondern auch der oberste Informationsvermittler der Bundesregierung.“ Die gute Frage ist allerdings, ob in diesem Moment der Veröffentlichung auf Facebook die Medien nicht doch einen Zugang bekommen? Niemand hindert sie daran, diese Informationen für die Berichterstattung zu nutzen. Der DJV meint etwas anderes: Die Bundesregierung verwehrt den Medien einen exklusiven Zugang zu den besagten Informationen. Aber das liest sich in solchen Presseerklärungen natürlich nicht so schön. Exklusivität und Informationsfreiheit könnten schließlich in Widerspruch stehen.
+++ In der Debatte über die Folgen von Paris schon etwas über die Geheimdienste gehört? In deutschen Medien hat man dafür keine Zeit. Sie brüten lieber über die Frage, warum in sicherheitspolitischer Hinsicht offene Grenzen kein Problem sind. Das ist inhaltlich zwar hanebüchen. Wer nicht weiß, wer in dieses Land einreist, kann schließlich auch keine Bedrohungsanalysen erstellen. Aber man fürchtet den Generalverdacht gegen alle Flüchtlinge, wenn tatsächlich ein IS-Kämpfer auf diesen Weg nach Europa eingeschleust worden sein sollte. Ein solcher Generalverdacht ist zwar ebenfalls hanebüchen, aber um Logik oder Fakten geht es in der Flüchtlingskrise schon lange nicht mehr. Es geht um die Deutungshoheit, weil man schon jetzt mit schlotternden Knien auf die Teilnehmerzahlen der montäglichen Pegida-Demonstration in Dresden schaut. Falls die gegenüber der Vorwoche signifikant steigen sollten, kann man sich die Reaktionen schon jetzt ausmalen. Immerhin könnte man aber in der Berichterstattung auf Dramatisierung verzichten. Die hat einen Bumerangeffekt zur Folge. Sie bestätigt nämlich noch die verbreitete Skepsis an den Medien. Wenn sie sich so aufregen, müssen sie sich wohl getroffen fühlen.
Angesichts dessen haben die Medien für die Geheimdienste keine Zeit. Zwar berichten sie brav über deren Rolle in diversen Skandalen. Aber die sind schon viel weiter. Es beginnt nämlich eine Debatte über deren Versagen. Hätten sie nicht die Attentäter von Paris aufhalten müssen? Aber wie sollen sie das tun, wenn man ihnen alle möglichen Fesseln anlegt? Diese Debatte beginnt schon längst, wenn auch nicht in Deutschland, sondern etwa in Israel. „Is it possible? Yes, but with an unprecedented investment of resources and through the establishment of a joint information and operations system for all countries, which will require keeping a big national ego in check. Without a new intelligence-police-operational-legal infrastructure in France, terror will win.“ Das ist so zu verstehen. Ohne die anlasslose Überwachung wird es nicht gehen. In die gleiche Richtung argumentiert auch die FT, wenn auch kryptisch verschlüsselt. „Some ask if there was a failure of intelligence that could have prevented the atrocity. We do not yet know. It was a complex, well planned attack by skilled operatives. Of course, some were known to the French security services — it would be much more alarming if they were all “clean skins”. We need to know how they planned, how they communicated, where they trained and what traces they left ahead of Friday.“ Wie entdeckt man aber Menschen mit „weißer Weste“, die unter Umständen ein Verbrechen begehen wollen? Das ist das Dilemma des Rechtsstaates. Menschen müssen als unschuldig gelten solange sie eine solche Weste tragen.
+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? Die Verschiebung des Tatort mit Til Schweiger. "Es passt einfach nicht in diese Wochen, eine Krimireihe zu zeigen, in der es auch um einen terroristischen Angriff geht." RTL hatte schon im Frühjahr seinen Starfighter-Film wegen des Absturzes des Germanwings-Airbus verschoben. Nur zur Erinnerung: Der Tatort ist keine Dokumentation und Til Schweiger nicht James Bond. Den müsste man nämlich auch sofort absetzen. Beim aktuellen G 20 Gipfel wurde nämlich die engere Zusammenarbeit von Geheimdiensten beschlossen. Darum ging es auch in dem neuen Bond. Dazu passt auch titel, thesen, temperamente von gestern Abend. Dort wurde die türkische Journalistin Ece Temelkuran unter anderem zur Rolle des türkischen Geheimdienstes beim IS befragt. Sie hat dazu geschwiegen, wenn auch nicht aus Pietätsgründen. Es sei in der Türkei schlicht zu gefährlich, sich zu dem Thema zu äußern.
Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.