Alteuropäische Diskurse

Alteuropäische Diskurse
Ob die bisherigen Führungskader des DFB der Neigung der Alteuropäer zur Recherche zum Opfer fallen werden, wissen wir noch nicht. Aber dafür erinnert uns Wolfgang Lieb von den Nachdenkseiten daran, was wir von diesem Alteuropa bewahren sollten.

In früheren Zeiten waren Größen- und damit auch Machtverhältnisse einfach zu bestimmen. Medienunternehmen benötigten für den Markteintritt einen technologisch bedingten hohen Kapitaleinsatz. Außenseiter hatten es daher schwer. Unter diesen Bedingungen entstand der Begriff der Gegenöffentlichkeit. Diese versuchte vor allem ab den 1970er Jahren dem Establishment Konkurrenz zu machen. Das bekannteste Kind dieser Gegenöffentlichkeit wurde die taz. Heute ist sie eine der wenigen überregionalen Tageszeitungen. Sie ist etabliert, wobei die Konkurrenz mittlerweile unter vergleichbar prekären ökonomischen Bedingungen arbeiten muss, die die Existenz der taz schon immer auszeichnete. Der Begriff der Gegenöffentlichkeit macht heute keinen Sinn mehr.

Wir haben es mit fragmentierten Öffentlichkeiten zu tun, wo die etablierten Medien nur noch ein Monopol auf die Nachricht selbst haben. Von Deutungshoheit kann keine Rede mehr sein, die eine „Gegenöffentlichkeit“ angreifen muss. Vielmehr hat sich das Verhältnis bisweilen schon umgekehrt. Die etablierten Medien reagieren auf die Deutungen etwa in den sozialen Netzwerken und betrachten sie als Teil ihrer Berichterstattung. Die Diskussion über den Hass in sozialen Netzwerken ist ein Ausdruck dieses veränderten Verhältnisses. Den Hass gab es zwar schon immer, musste sich aber früher auf die Formulierung anonymer Leserbriefe beschränken. Öffentlichkeit herzustellen, war für deren Autoren faktisch unmöglich gewesen.

+++ Aus der Tradition dieses alten Begriffs der Gegenöffentlichkeit entstanden im Jahr 2003 die Nachdenkseiten. Allerdings kamen deren Gründer, Albrecht Müller und Wolfgang Lieb, aus dem sozialdemokratischen Establishment früherer Zeiten. Sie reagierten damals auf die Hegemonie einer neoliberalen Ökonomie, die ab den 1990er Jahren die Sichtweise von Medien und Politik prägten. Alternative Deutungsmuster kamen nicht mehr vor oder wurden systematisch marginalisiert. Die Sonntagabende mit Sabine Christiansen wurden zum Sinnbild dieser Zeit. Fünf Gäste mit der gleichen Meinung diskutierten über die fehlende Reformbereitschaft der Deutschen. Dem setzten die Nachdenkseiten etwas entgegen. Sie füllten ein Lücke im politischen Diskurs, die die etablierten Medien hinterlassen hatten. Sie wurden nicht zur Gegenöffentlichkeit, sondern schufen damals überhaupt erst wieder Öffentlichkeit. Wenigstens wenn man darunter eine kritische und kontroverse Debatte verstand.

Lieb hat seine Mitarbeit bei den Nachdenkseiten beendet. Ihm erschienen die Differenzen im journalistischen und politischen Selbstverständnis zu seinem Co-Herausgeber Müller unüberwindbar. Aber seine Anmerkungen über das Verhältnis von Journalismus und Politik sind bedenkenswert.

„Rationalität und Vernunft verlangen bei allem Nachdruck in der Argumentation meines Erachtens stets, eine angemessene kritische Distanz zu wahren. Es ging mir darum, Partei zu ergreifen, aber nicht parteiisch zu sein. Die Anerkennung eigener Begrenztheit verbietet undifferenzierte und einseitige Schuldzuschreibungen.“

Ein Journalist alter Schule wie Lieb hat (in diesem Fall klassisch sozialdemokratische) Überzeugungen. Nur verstellt ihm das nicht den professionellen Blick auf die Wirklichkeit.

„Für mich sollten in den Beiträgen auf den NachDenkSeiten die Verarbeitung von Informationen und die differenzierende Abbildung der Wirklichkeit vor ihrer politischen Bewertung und vor der Unterordnung unter das eigene Weltbild stehen. Differenzierung und genaues Hinsehen halte ich für wichtige Voraussetzungen, um Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gegenüber Leserinnen und Lesern zu gewinnen. Ich habe mir nie eingebildet, die Wahrheit gepachtet zu haben.“

Die Einseitigkeit politischer und und medialer Diskurse ist somit das Problem – und nicht deren Logik die Lösung: nämlich diesem Weltbild das eigene entgegenzusetzen.

„Ich halte das um sich greifende konfrontative Denken in der westlichen Politik und in den meisten deutschen Medien für falsch und höchst kritikwürdig, aber ich bin genauso davon überzeugt, dass man dieses Freund-Feind-Schema nicht mit umgekehrten pauschalen und einseitigen Schuldzuweisungen aufbrechen kann. Gesellschafts- und Ideologiekritik hat für mich das Ziel, schlechte bzw. ungerechte Zustände zum Besseren zu verändern. Diese Kritik darf aber nicht zu einem Generalverdacht gegen alles und jede/n verkommen. Der allgemeine Aufruf zu einem „Kampf“ gegen „die Herrschenden“ und gegen „die Medien“ schürt eher Unbehagen oder gar Verbitterung und löst auf Dauer entweder politische Resignation aus oder lenkt sogar Wasser auf die Mühlen der „schrecklichen Vereinfacher“.“

Lieb schreibt diese Sätze unter dem Eindruck eines Mediensystems, wo das „konfrontative Denken“ zunehmend zur Richtschnur journalistischen Handelns geworden ist. In der Ukrainekrise wurde das erstmals deutlich. Plötzlich reduzierte sich die Debatte auf eine einzige Frage: war man für oder gegen Putin? Der politische Standort bestimmte die Berichterstattung - und die Sichtweise der Medienkritiker in den sozialen Netzwerken. Die von Lieb erwähnte „kritische Distanz“ ging verloren. Das hat nichts mit Überzeugungen zu tun. Man kann ein überzeugter Anhänger des westlichen Bündnisses sein, ohne deshalb alles diesem Kriterium unterzuordnen. Das gilt übrigens auch für Vertreter anderer politischer Positionen, sofern sie sich journalistisch betätigen. Liebs Anmerkungen sind für Journalisten und Mediennutzer von Bedeutung. Sie sind ein Dokument der Zeitdiagnostik, die weit über die Nachdenkseiten hinaus zur Kenntnis genommen werden sollten.

+++ Damit kommen wir zum DFB. Über die Pressekonferenz von Wolfgang Niersbach wurde schon am Freitag im Altpapier berichtet. Der Spiegel hat gleich eine weitere Titelgeschichte zum DFB gemacht. Nun ist der Herdentrieb im deutschen Journalismus eine häufig berechtigte Kritik. Die stromlinienförmige Anpassung an eine dominant gewordene Sichtweise, der sich niemand mehr entziehen kann. Oder er muss einen Shitstorm riskieren, der sich nicht mit Argumenten beschäftigt, sondern mit der moralischen Diskreditierung von Autoren. Das ist beim DFB-Sommermärchen nicht der Fall. Die Bild kritisiert den Spiegel, wogegen nichts zu sagen ist, und die Gefahr des Herdentriebs somit ausgeschlossen wäre. Wenn dabei nicht ein anderes Problem zum Ausdruck käme, das Stefan Winterbauer bei Meedia so forumuliert.


“Die Spiegel-Story über das befleckte Sommermärchen ist daher nicht nur ein Lehrstück in Sachen Korruption im Fußball, sondern auch eines über mitunter ungesunde Verflechtungen im Journalismus. Nähe bringt oft Informationen. Zu viel Nähe kann aber auch den Blick auf das Wesentliche verstellen.“

Es geht um die Nähe der Bild zu den DFB-Größen wie Franz Beckenbauer. Man muss nicht der Herde hinterherlaufen und kann trotzdem auf die Nähe zu Größen verzichten. Im Blog von Roland Tichy wird die derzeitiger Verwirrung von Hans-Peter Canibiol zum Ausdruck gebracht.

„Die dramaturgische Rollenverteilung: zwei vermeintliche Helden – Der Spiegel und Theo Zwanziger – gegen zwei vermeintliche Bösewichter – Wolfgang Niersbach und Franz Beckenbauer. In weiteren Rollen zwei, die sich nicht mehr wehren können: Robert Louis-Dreyfus und Gerhard Meyer-Vorfelder. Dazu noch zwei geheimnisvolle Strippenzieher im Hintergrund: Joseph Blatter und Mohamed Bin Hammam. Wer ist Protagonist, wer Antagonist? Wer ist Täter, wer Opfer? Das alles ist nach dem zweiten Akt nicht entschieden. Das Setting hat alle Anlagen zum großen Drama. Das Publikum wartet gespannt auf den Zuschauerrängen auf den nächsten Akt.“

Das ist der Irrtum. Es geht bisher nur um eine Frage. Wie sind die diversen Millionen zu erklären, die das Organisationskomittee zur WM 2006  nutzte, aber ohne sie ordnungsgemäß zu verbuchen? Das hat aber nicht in erster Linie der Spiegel zu erklären, sondern die damaligen Verantwortlichen. Die Medien können lediglich die Widersprüche aufdecken und bisherige Erklärungen durch eigene Quellen widerlegen. Das Drama wird erst geschrieben, wenn das geklärt ist.

+++ Lieb erwähnte in seinem Beitrag den verstorbenen Frank Schirrmacher. Die Nachdenkseiten ständen in der Tradition "im besten Sinne alteuropäischer Diskurse“. Im aktuellen Spiegel beschäftigt sich Georg Diez ebenfalls mit Schirrmacher und seiner Funktion im deutschen Journalismus. Die Diagnose der Leere, die er hinterlassen habe, ist nicht überraschend. Schirrmacher hat sich frühzeitig mit der Genetik beschäftigt. Nur hätte man ihn schon klonen müssen, um diese Leerstelle nach seinem frühen Tod adäquat zu besetzen. Er hätte diese Aussicht allerdings gefürchtet. Ein sich selbst reproduzierender Schirrmacher wäre ihm als die Vision wahnsinniger Technokraten erschienen. Insofern kann ihn auch niemand ersetzen. Aber Schirrmacher hatte zwei herausragende Eigenschaften. Zum einen hatte er spätestens mit der Finanzkrise die Bedeutung der „alteuropäischen Diskurse“ erkannt. Deren herausragende Eigenschaft ist die Fähigkeit zur kontroversen Debatte als das wichtigste Korrektiv für die Politik. Darin liegt auch die Bedeutung des „politischen Feuilletons“. Es ging ihm nicht um Meinungen, sondern um Argumente und Begründungen.

Es galt Freiräume zu öffnen, um sich dem Herdentrieb wie dem Lobbyismus zu widersetzen. Beide prägen die heutigen Diskurse. Und zum anderen versuchte er eine Sensibilität für Entwicklungen herzustellen, die unsere zukünftige Gesellschaft prägen werden. Das betrifft vor allem die Digitalisierung. Schirrmacher brauchte niemand die alteuropäischen Diskurse erklären. Er war darin aufgewachsen. Er repräsentierte die letzte Generation, die noch in der analogen Welt sozialisiert worden war. Die „alteuropäischen Diskurse“ sind zugleich die Substanz aufgeklärter westlicher Gesellschaften. Sie ist hoffentlich nicht mit Frank Schirrmacher gestorben.

Anmerkung: der Autor schreibt regelmäßig für die FAZ.


Altpapierkorb

+++ Ende des kommenden Monats wird die Talkshow von Günther Jauch eingestellt werden. Bild am Sonntag berichtet über die Folgen: die Entlassung der Redaktion. Interessant ist das Verhältnis zwischen fest angestellten Redakteuren und Freiberuflern. Von den 80 Mitarbeitern waren lediglich 16 bei der Produktionsfirma von Jauch fest angestellt. Was dieser in Zukunft machen wird? Darüber rätselt die FAS.

+++ In der Südwestpresse geht es um den erwähnten Hass. „Täglich laufen in der Redaktion der SÜDWEST PRESSE Mails ein, deren Inhalt uns mittlerweile - mit Verlaub - ankotzt. Einhellig berichten die Kollegen darüber, dass die Debatte um die Flüchtlinge eine Wut entfacht hat, die sie in dieser Weise noch nie in ihrem Berufsleben erfahren haben. Dabei geht es nicht um Kritik an der Berichterstattung oder eine sachliche Auseinandersetzung. Es geht um das unflätige Beschimpfen, die Herabwürdigung, die Diffamierung derjenigen, die die jeweiligen Artikel und Kommentare verfasst haben.“ In der „verdrehten Logik dieser Klientel“ werde „nicht wahrhaftig“ berichtet. Man unterschlage Fakten und habe nur eines im Sinn: „Die Bevölkerung im Unklaren darüber zu lassen, welche Dramatik sich tatsächlich hinter den Flüchtlingszahlen verbirgt.“ Das ist insofern bemerkenswert, weil man hier den Umkehreffekt einer zu Beginn fahrlässig geführten Debatte erkennen kann. Im Spätsommer war von einer Flüchtlingskrise nicht die Rede gewesen, sondern allein von der Willkommenskultur und den positiven Folgen einer Zuwanderung in eine alternde Gesellschaft. Diesen Schuh müssen sich viele Medien tatsächlich anziehen, auch wenn sich die Debatte schon längst geändert hat. Man sollte es halt den Dummköpfen nicht zu einfach machen.

+++ Das Börsenblatt bereut eine Anzeige für zwei „schwulenfeindliche Bücher“, wie bei turi zu lesen ist. „Zwar sei die Werbung aus juristischer Sicht im Sinne der Meinungsfreiheit hinzunehmen, dennoch hätte die Redaktion die Anzeige ablehnen dürfen, schreibt Casimir. Rückblickend wäre ihm wohler gewesen, sein Blatt hätte "keine Verbreitungshilfe" für Pirinçci geleistet.“ Dieser letzte Satz ist durchaus verräterisch zu nennen. Casimir stört nämlich in erster Linie die Publizität, die mit Namen „Pirinçci“ nach seinem denkwürdigen Pegida-Auftritt in Dresden verbunden gewesen ist. Ansonsten hätten ihn die Anzeigen bis heute nicht weiter interessiert. Außerdem ist eine Formulierung seltsam: Diese Werbung sei „aus juristischer Sicht im Sinne der Meinungsfreiheit hinzunehmen“, aber man hätte „die Anzeige ablehnen dürfen“. Sicher darf man das, wenn man neuerdings meint, sich mit den Produkten der Werbekunden identifizieren zu müssen. Nur hatte man bisher bei der Veröffentlichung von Werbung eine andere Idee gehabt. Es könnte ums Geld verdienen gehen, selbst wenn die Redaktion die im eigenen Blatt beworbenen Produkte für den größten anzunehmenden Mist halten sollte. Warum dieser Mechanismus ausgerechnet bei diesem Thema keine Rolle mehr spielen soll, ist nicht so richtig deutlich geworden. Aber es ging wohl wirklich nur um das Reizwort „ Pirinçci“.

+++ Um Standortfaktoren geht es in der Medienkorrespondenz. Wie kann man der Filmbranche die besten Rahmenbedingungen schaffen, damit sie später die eigenen Stadt gut in Szenen setzen? Schließlich will mittlerweile jede Kommune in Deutschland einen Tatort-Kommissar haben. Oder wenigstens eine Soko des ZDF. Was muss man dann tun? Die Medienkorrespondenz gibt die Antwort. „>>Film Commissions<< werden in der Regel von den regionalen Fördereinrichtungen gegründet und unterstützt. Sie sind das Bindeglied zwischen den Produktionsfirmen und den kommunalen Behörden. Gerade für ortsfremde Produktionen sind sie erste Anlaufstelle und wertvolle Partner. Die ‘Film Commissions’ können zwar selbst keine Drehgenehmigungen erteilen, vermitteln aber an die zuständigen Ämter. Um den Unternehmen die Arbeit zu erleichtern, sind mancherorts in den Rathäusern zentrale Anlaufstellen entstanden, in denen die entsprechenden Verfahren koordiniert werden. Die Genehmigungen werden dann von den einzelnen Behörden erstellt (Ordnungsamt, Garten- und Forstamt, Sportamt, Wasser- und Schifffahrtsamt). In anderen Städten muss man diese Einrichtungen alle einzeln abklappern. In Nordrhein-Westfalen ist bereits 1999 ein Städtenetzwerk gegründet worden; mittlerweile haben knapp 40 Orte einen festen Ansprechpartner für Filmteams. Die Kontakte stellt die ‘Film Commission NRW’ her.“ Vielleicht solltem man dieses organisatorische Know how bei den Asylverfahren anwenden. Aber das nur so als Idee.

+++ Zuletzt: Gibt es Hoffnung für das lineare Fernsehen? Darüber berichtet Horizont. Vielleicht sollte man der eigenen Tochter diesen link schicken. Als Einladung zum Fernsehabend.

+++ Was jetzt nicht mehr fehlt? Die Debatte über diesen Tweet des Warschauer ARD-Korrespondenten Ulrich Adrian. Die polnischen Wähler waren allerdings seinem Ratschlag nicht gefolgt. Durfte Adrian das sagen? Sicher. Es war sein persönlicher Twitter-Account. Ob das klug war, steht auf einem anderen Blatt. Der Vorwurf der Dummheit ist im Zweifel immer ein schwaches Argument. Aber wer diese Aussage für akzeptabel hält, sollte konsequent sein. Der Wähler kann dann auch dumm genug sein, die Linke zu wählen. Das gilt in gleicher Weise für die Rolle der Gewalt. Wer Übergriffe von rechts verurteilt, sollte das in gleicher Weise bei denen von links tun. Oder geht es wirklich um die Frage, wie man Gewalt legitimiert?

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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