Axel Springer bleibt der Größte

Axel Springer bleibt der Größte
Beziehungsweise hat nach aktuellem Zwischenstand den größten Schadensersatz der bisherigen deutschen Mediengeschichte zu zahlen. Hat die Pressefreiheit gesiegt oder ist sie in Gefahr? (Spoiler: beides, natürlich; größtmögliche Spannbreite der Interpretationen!). Außerdem: Wer der nächste Bundespräsident wird. Und eine Donauschifffahrt mit den Zeitungsverlegern.

Auch 30 Jahre nach dem Tod seines Namensgebers ist Axel Springer, der immer digitalere Auch-was-mit-Medien-Konzern, stets vorn dabei.

Der größte Hecht im Tellerrand der deutschen Medien, der an diesem Donnerstag in alle Briefkästen, deren Inhaber nicht rechtzeitig Vorkehrungen getroffen haben, eine "42-Millionen-Ausgabe" seines berüchtigsten Erzeugnisses stopfen lässt (falls Sie es noch nicht getan haben, lesen Sie die Verwendungszwecke, die der-postillon.com leicht aktualisiert hat), muss nun mit 635.000 Euro auch "das höchste Schmerzensgeld, das je in einem Presseprozess ausgesprochen wurde" bezahlen. Wobei man ein "deutschen" vielleicht sicherheitshalber doch hinzufügen sollte, oder, zeit.de?

Das ist natürlich nur ein Zwischenstand. Die gestern auch hier zu lesende Annahme, dass die bewusste Sache bis zum Bundesgerichtshof weiterwandern wird, wurde bereits bestätigt; darin sind sich sogar beide Seiten einig. Und "ob die Entscheidung des Landgerichts in der Berufung Bestand haben wird, ist nach Experteneinschätzung völlig offen" (Tagesspiegel).

Die vielleicht nüchternste Zusammenfassung des gestern morgen erfolgten Urteils des Landgerichts Köln in der Sache zwischen dem schweizerischen Kläger (der gleich "#fiesefriede" twitterte) und der deutschen Bild-Zeitung hat die österreichische Agentur APA (Standard). Die "38 Fälle", in denen Kachelmann Recht bekam und Springer also Unrecht, dröselt Bernd Dörries auf der SZ-Medienseite auf:

"Kachelmann hatte etwa 150 Artikel und Fotos aus der Bild und deren Onlineangebot in der Klageschrift aufgeführt und insgesamt 2,25 Millionen Euro Schadenersatz gefordert. Das Gericht urteilte nun, Bild habe in 38 Fällen die Persönlichkeitsrechte verletzt. ... Rechnete man die Doppelungen heraus, so [Springer-Anwalt Jan] Hegemann, die durch die Veröffentlichung in der Printausgabe und im Onlineangebot zu Stande kommen würden, bliebe ein Kern von 20 verschiedenen Texten und Fotos, in denen das Gericht Kachelmann Recht gab. Darunter sind Fotos, die Kachelmann auf dem Weg zu seinem Anwalt zeigen, Details über sein Sexualleben und Chat-Protokolle, die Gespräche mit Freundinnen wiedergeben. Dies gehöre zu seiner Privatsphäre, führten Kachelmann und sein Anwalt an. Springer machte geltend, dass die Chat-Protokolle Teil des Strafprozesses gewesen seien, im Gericht öffentlich verlesen wurden. Das Landgericht Köln urteilte nun, dass solche Aussagen für die Täterschaft keine Relevanz gehabt hätten. 'Das weiß man hinterher', sagte Anwalt Hegemann."

Wie es sich für Springer-Themen gehört, besitzen auch die Interpretationen die größtmögliche Spannbreite. Die Pressefreiheit hat gewonnen und ist gefährdet, je nach Blickwinkel des Betrachters.

Am dialektischsten differenziert die Frankfurter Rundschau die Lage aus. Ihr gegenüber sprach Ralf Höcker, Kachelmanns selber ebenfalls twitternder Anwalt ("Mit Zinsen und Schadensersatz bekommt Kachelmann sogar 800.000 EUR von Springer und BILD!") sowohl von einem "grandiosen Sieg" als auch davon, dass die Summe "immer noch zu niedrig" sei, weshalb auch er weiterprozessieren will. Dazu passt Springer-Hegemanns Ansicht, dass Kachelmann "seine Geldentschädigungsklage rein rechnerisch ganz im Wesentlichen verloren" habe.

Wer die Sache rein rechnerisch betrachtet? Zumindest ein immerhin noch relativ einflussreiches, wenngleich oft hochgejazztes  Medium, die Bild-Zeitung, die im vergleichsweise wenig undifferenzierten Artikel unter ihrer Überschrift "Keine Millionen für Kachelmann" weitgehend die Springer-Pressemitteilung (und damit den vielerorts weiterremixten Vergleich mit der der schwedischen Prinzessin Madeleine "im Juli 2009 zugesprochenen Summe von 400.000 Euro") verbreitet. Bloß aufs Fremdwort "kollusiv" verzichtet bild.de lieber.

Die Pole der Meinungen bilden kress.des Bülend Ürük, der bereits "als Verlierer die Pressefreiheit alleine auf dem Platz" zurück bleiben sieht, und Christian Bommarius von der DuMont-Mediengruppe. "Jörg Kachelmanns Triumph ist ein Sieg für die Pressefreiheit", so wie "fast jede juristische Niederlage der Bild-Zeitung ... ein Sieg für die Pressefreiheit" sei, denn es

"erinnert jede juristische Niederlage des Blatts wegen Verletzung von Persönlichkeitsrechten den anderen, besseren Teil der Medien an den Wert ihrer Arbeit und die Notwendigkeit medialer Aufklärung."

"Fehler passieren, und dafür muss ein Verlag auch geradestehen. Wie aber Medienhäuser, die dann halt nicht Axel Springer heißen, solche absurden Beträge stemmen sollen, auch wenn die dann vielleicht in Relation zur Größe gesetzt werden, bleibt vorerst nur ein Geheimnis der Juristen",

schrieb dagegen Ürük, relativ sichtlich eher flott ("weil eventuell ein Komma nicht sitzt") als tief durchdacht. Wer diese Position, nicht unüberraschend, teilt: Wolfgang Janisch auf der SZ-Meinungsseite ("635.000 Euro Schmerzensgeld sind für eine Mahnung zuviel."). Warum denn eine der relativ wenig sensationsgeilen, relativen Qualitätszeitungen da Springer zuneigt, erklärt Michael Hanfeld bei faz.net:

"Und es ist auch ein Zeichen kürzer zu treten für andere Blätter, an die man beim Stichwort 'Kampagnenjournalismus' nicht gleich denkt. Das Landgericht Köln statuiert ein Exempel, von dem man noch nicht weiß, wen es alles betrifft."

Auch wenn Kritik "angesichts des Sturms, in dem Kachelmann stand, wohlfeil erscheinen" mag, "war und ist er in seinem Furor sicherlich auch nicht gut beraten", findet er und ruft ein anderes Verfahren, in dem sich Kachelmann-Anwalt Höcker engagiert, ins Gedächtnis,

"das am Freitag vor dem Landgericht Koblenz zur Entscheidung ansteht und ebenfalls Verweischarakter haben könnte. Dort versuchen die Angehörigen einer wegen Mordes Verurteilten zu verhindern, dass die 'Rhein Zeitung' über die Veröffentlichung des Urteils, das in der Datenbank OpenJur stand, berichten darf. Käme die einstweilige Verfügung gegen diese Berichterstattung durch, wäre das ein massiver Eingriff in die Pressefreiheit."

Den relativ größten Überblick über das weite Feld der Medien hat eben oft Hanfeld, was immer man sonst von ihm hält. Damit zur alleraufrüttelndsten Analyse des Kölner Urteils, die ganz vorn auf der FAZ (und bereits frei online) Reinhard Müller anstellt, also einer der Harten aus dem Politikressort:

"Dabei ist das Urteil ein Warnsignal für jeden Einzelnen. Denn zur Vernichtung eines Rufs gehören immer mehrere. Niemand hindert Fernsehsender, Geschäftspartner und Kunden daran, mit einem von einem schweren Vorwurf Freigesprochenen wieder zusammenzuarbeiten. Eine gezielte Medienkampagne gegen Kachelmann hat das Landgericht zu Recht nicht erkennen können. Es gibt aber so etwas wie eine kollektive gesellschaftliche Feigheit vor vermeintlichen Tugendwächtern. Dagegen hilft kein Gericht."

 Mit der hier geschickt offen gelassenen Frage, welchen "vermeintlichen Tugendwächtern" gegenüber mehr Mut bewiesen werden müsste, verweist Müller die Sache dann wieder zurück ins Auge jedes einzelnen Betrachters.

Wir könnten jetzt auch noch darauf hinweisen, dass derselbe Reinhard Müller dieselbe Sache auf der Vermischtes-Seite der FAZ in einen obskuren Zusammenhang mit der kurzfristigen Landesverrats-Klage gegen netzpolitik.org bringt ("Der Kölner Medienrechtler Rolf Schwartmann sagte dieser Zeitung am Mittwoch, gemessen an dem persönlichen Schaden von Jörg Kachelmann, erscheine die Summe 'hoch, aber nicht überhöht'. Er fügte hinzu: 'So wie die Veröffentlichungen von netzpolitik.org trotz des Verdachts auf Geheimnisverrat im Sommer vielen als sakrosankt schienen, so schien Kachelmann durch die Art und Weise weiter Teile der Berichterstattung von Anfang als schuldig.'"). +++ Oder darauf, dass die schon beim Original-Kachelmann-Prozess engagierte Gisela Friedrichsen bei SPON kommentiert: "Wenn jemals das Wort 'Lügenpresse' einen gewissen Wahrheitsgehalt gehabt haben sollte, dann wohl hier" (und das unter der gleichen Überschrift wie Georg Altrogge, der "1999-1999" Chefreporter der Bild-Zeitung war, die Sache bei meedia.de wiederum anders auslegt). +++ Und vor allem darauf, dass überhaupt "nicht viel" "von dem, was medial rund um das Verfahren" gegen Kachelmann "in den Jahren 2010 und 2011 passiert ist", "überhaupt im Interesse der Öffentlichkeit" lag, wie Jürn Kruse mit Recht in der TAZ kurz Revue passieren lässt.

Wobei, wenn die Medien immer in Echtzeit erkennen könnten, was im Interesse der Öffentlichkeit liegt, wäre natürlich alles sehr viel einfacher und die Welt womöglich erheblich besser.
 


Altpapierkorb

+++ Kölner oder gerade in Köln Weilende könnten gestern abend "Der Hannover-Komplex" gesehen haben, den neuen Dokumentarfilm von Lutz Hachmeister. Ein Interview mit dem Regisseur hat Ulrike Simon für die Neue Westfälische geführt. Darin verrät Hachmeister unter anderem, welcher amtierende Außenminister nächster Bundespräsident werden soll, wie "man hört". +++ Fun-fact für Medienstruktralisten: Simon hat dieses Interview natürlich für das "Redaktions-Netzwerk Deutschland" der Madsack-Mediengruppe geführt, für das sie arbeitet und das die Neue Westfälische aus Bielefeld als ersten externen, also nicht zur vor allem in und um Hannover aktiven Madsack-Gruppe gehörenden Kunden gewonnen hat. Wobei die NW aber zu 57,5 Prozent der DDVG gehört, der zu 23,1 Prozent die Madsack-Mediengruppe gehört. Und die DDVG gehört ja einer Partei, die dann vielleicht auch den nächsten Bundespräsidenten stellt. Wie sagt Hachmeister? "Das mittlere Maß zu finden, ist ja nicht das Schlechteste. Die föderale Kleinstaaterei mit Bonn als Hauptstadt war ja ökonomisch erfolgreich und ganz friedlich, von der RAF mal abgesehen." +++

+++ Meanwhile auf der (deutschen) Donau waren die Zeitungsverleger während ihres Jahreskongresses (Altpapier) in der "Kristallkönigin" unterwegs. Michaela Hütigs epd medien-Nachklapp dazu unter der Überschrift "Tischkickern auf der Titanic" steht inzwischen frei online. +++

+++ Noch spannender als gestern morgen vorm Kölner Landgericht wird es am "am kommenden Dienstag (6. Oktober) um 9:30 Uhr", wenn der  Europäische Gerichtshof sein Urteil in der Sache Max Schrems gegen Facebook bekanntgeben will (heise.de, Update ganz unten). +++

+++ Aktuell vor dem Landgericht Frankfurt/ Main: die "Anfang 1989" vom WDR ausgestrahlte Dokumentation "Aids – Die Afrikalegende". Der Fall führe "ganz tief ... in den Geheimdienstsumpf des Kalten Krieges" und zur Stasi, berichtet Sven Felix Kellerhoff in Springers Welt. +++

+++ "Es ist schon ein merkwürdiger Zufall, dass sich die Nachricht vom Tod Hellmuth Karaseks ausgerechnet am Morgen des Tages verbreitete, an dem in Berlin die Neuauflage des 'Literarischen Quartetts' aufgezeichnet wurde", leitet Christopher Schmidt seinen Nachruf im SZ-Feuilleton ein. +++ Wer bei der Aufzeichnung dabei war und eine Mischung aus Drehbericht und Vorab-Nachkritik der am späten Freitagabend zu sehenden Show veröffentlicht: Literaturredakteur Gerrit Bartels vom Tagesspiegel. +++

+++ Der Grund, aus dem der Karasek-Printnachruf der FAZ heute ebenfalls auf der Vermischtes-Seite steht: Das ganze FAZ-Feuilleton ist heute wegen des Erntedankfests am Sonntag "ein Themen-Feuilleton zur Ernährung" mit Inhalten wie "Ein Intellektueller muss ungesund essen" ("Ein Gespräch mit dem Philosophen Richard David Precht"). Daher gibt's auch keine gedruckte Medienseite. +++

+++ Für die SZ-Medienseite hat Karoline Meta Beisel bento.de, dem "Online-Jugendangebot" des Spiegel, einen Redaktionsbesuch abgestattet: "'Lustigen Themen ist mit 'Haha' ein eigener Hashtag gewidmet. In Sachen Werbung schlägt Bento einen umstrittenen Weg ein: Anzeigen, die aussehen wie redaktionelle Beiträge. 'Native Advertising' nennt man solche Werbung. Sie steht in der Kritik, auch im Rest des Hauses, weil darin gekaufte und journalistisch-unabhängige Inhalte zu verschwimmen drohen. Bento erlaubt solche Werbung, unterstützt sie sogar, indem sich spezielle Mitarbeiter im selben Raum wie die Redaktion darum kümmern sollen, dass sich die Werbeartikel einfügen in das Gesamtpaket. Optisch sollen sich gekaufte Beiträge aber deutlich abheben". +++

+++ Ferner geht die SZ der von der Thüringer Allgemeinen (unfrei online) aufgeworfenen, vom MDR selbst "gewohnt eigenoptimistisch" kommentierten Frage nach, ob es beim MDR einen neuen Skandal gibt.  +++

+++ Und Dominik Graf, der bei der Cologne Conference in einer Diskussionsveranstaltung u.a. mit WDR-Fernsehfilmchef Gebhard Henke laut meedia.de gesagt hat: "Wir sind froh, dass wir unsere Träume und Kinofantasien im Fernsehen verwirklichen können" , müsste mal jemand fragen, wen noch er denn mit diesem "wir" meinte ... +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

 

 

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