Dürfen Journalisten ihren Lesern das Denken überlassen? Bekanntlich ist nichts gefährlicher als das. Sie könnten ja aus Ereignissen die falschen Rückschlüsse ziehen. In China orientiert man sich daher bis heute an einem anderen Grundsatz. Der Journalismus ist nicht nur für die Berichterstattung zuständig, sondern gleichzeitig für das richtige Denken seiner Leser. Ansonsten könnten diese ja auf die Idee kommen, dass explodierende Häfen etwas mit dem Versagen der für diese Häfen verantwortlichen Bürokratie zu tun haben. So hatten Journalisten unter solchen Bedingungen schon immer ein klassisches Problem: Sie wurden als Boten gleichzeitig für die Botschaft verantwortlich gemacht.
Die Pressefreiheit in westlichen Staaten beruhte dagegen auf einer anderen Grundlage. Sie sollte den Menschen nicht das richtige Denken vorschreiben, sondern sie zum Selberdenken befähigen. Damit erst jene Debatte ermöglichen, die pathetisch in jeder Sonntagsrede als demokratische Willensbildung definiert wird. Journalisten beteiligen sich daran auch mit Kommentaren. Aber nicht ihre Meinung ist entscheidend, sondern letztlich der Informationsauftrag gegenüber der Öffentlichkeit, damit deren Meinungsbildung überhaupt möglich ist.
+++ Insofern gehört es zum Inventar jeder Mediendebatte, sich von diesen schlecht behandelt zu fühlen. Vor allem dann, wenn in der Berichterstattung noch ein Unterschied zur eigenen PR zu entdecken ist. Der Spiegel erinnert in seiner aktuellen Ausgabe an Franz-Josef Strauß, der sich von der Hamburger Kampfpresse zeitlebens unfair behandelt fühlte. "Die spinnen, die Bayern", so der Titel. Ihn könnte man als Verleumdung einer in Deutschland nicht ganz unbedeutenden Bevölkerungsgruppe werten. Hier wird mit Vorurteilen gearbeitet, die lediglich das Lebensgefühl nördlich der Weißwurstlinie zu instrumentalisieren versucht. Ob sich der Presserat mit dieser Entgleisung beschäftigen muss? Oder ist das Bayern-Bashing erlaubt, was bei anderen Bevölkerungsgruppen verboten ist?
Man muss sich nur vorstellen, wenn der Spiegel mit "Die spinnen, die Frauen!" Auflage machen wollte. Der Aufschrei wäre nicht zu überhören. Dann könnte der Artikel selbst noch so differenziert daherkommen. Dass eben nicht alle Frauen spinnen, sondern nur einige wenige. So ist diese Titelgeschichte über "die Bayern" zu lesen. Aber das änderte nichts an der dann zu hörenden Warnung vor dem Schüren von Vorurteilen gegenüber Frauen. Die polemische Überspitzung könnte schließlich Misogyniker in ihrem falschen Denken bestätigen. Warum das allerdings bei Bayernphobie erlaubt sein soll, ist ein Rätsel. Oder ist nicht doch dieser ganzer Ansatz irreführend, als Journalist das falsche Denken mancher Zeitgenossen verhindern zu wollen? Man sollte besser auf die Debatte unter mündigen Bürgern vertrauen, anstatt sie verhindern zu wollen. Das kann man in China im Zweifelsfall nämlich effektiver.
+++ Um diesen Ansatz ging es nämlich bei der Löschung der "hart aber fair" Sendung über den Geschlechterkampf in Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des "Gender Mainstreaming". Frauenverbände und Gleichstellungsbeauftragte haben beim WDR-Rundfunkrat die Löschung dieser Folge in der WDR-Mediathek durchgesetzt. Der Diskussion habe die nötige Ernsthaftigkeit gefehlt, so argumentiert die Vorsitzende des WDR-Rundfunkrats, Ruth Hieronymi. Muss jetzt eigentlich der Spiegel seinen Bayernphoben Titel einstampfen oder wegen fehlender Ernsthaftigkeit ändern?
"Die spinnen, die Bayern, auch wenn Deutschland ohne die ökonomische Leistungsfähigkeit des Freistaats kaum überlebensfähig wäre!"
"Laut dem Medienmagazin journalist ist „Politikum“ teuer. Andere öffentlich-rechtliche Sender würden nur selten Beiträge übernehmen, „weil es nicht ins Profil passt. Zu meinungsgetränkt. Und nicht nur das: Politikum gilt als unbequem.“ Viele Hörer hätten sich sogar bei Intendant Buhrow beschwert."
Buhrow scheint die Beschwerden seiner Hörer ernstzunehmen, selbst wenn sie unbegründet sind. Es sollte die CSU-Staatskanzlei von Horst Seehofer bei ihm anrufen. Verständnis findet er in den bösen Medien bekanntlich selten.
+++ So passt ja eine neue Bewegung im Journalismus zum Zeitgeist. Sie nennt sich „Constructive News“ und wird von Stefan Niggemeier in der FAS vorgestellt. Anlass ist ein Buch des dänischen Journalisten Ulrik Haagerup.
"Sie sagt, dass der Negativismus der Medien nicht nur schlecht ist für die Menschen und für die Gesellschaft, die sich zu sehr mit Problemen beschäftigt und zu wenig mit Lösungen, sondern auch für die Medien selbst. Die Menschen würden sich von den Nachrichten abwenden, weil die endlose Abfolge von Schreckens-, Katastrophen- und Horrormeldungen sie deprimiere. Und sie täten das zu Recht."
Nun könnte man den heutigen Tag als ein gutes Beispiel für diesen Negativismus nehmen. Angesichts des Börsenabsturzes könnten die Medien ja nicht über die Kursverluste berichten, sondern über den ungebremsten Aufstieg der vergangenen Jahre. Das passiert natürlich nicht, wird auch nie passieren. Schließlich vermitteln steigende Kurse das Gefühl, reicher zu werden, während von Crashs zumeist nur wenige Profis profitieren. Eine positive Deutung der heutigen Ereignisse verbietet sich daher von selbst. Ansonsten könnte man ja auch über die Vorgänge im sächisischen Städtchen Heidenau anders berichten.
"In Deutschland ist es vor fast allen Flüchtlingsunterkünften ruhig."
Oder über Chinas Häfen so:
"Keine Explosionen zu hören."
Niggemeier macht stattdessen auf das eigentliche Problem aufmerksam.
"Haagerup ... plädiert dafür, die klassischen Kriterien, welche Berichte Nachrichtenwert haben, um den Gedanken der Konstruktivität zu ergänzen. Aber vieles, das er in seinem Buch anprangert, sind gar keine Beispiele für klassischen, negativen Journalismus, sondern einfach Beispiele für schlechten Journalismus. Das Phänomen, dass klassische Auswahlkriterien von Nachrichten dazu führen, sich fast ausschließlich mit Negativem zu beschäftigen, vermischt er mit der Kritik an der Boulevardisierung und Trivialisierung von Medien – zweifellos ein Problem, aber ein anderes."
+++ Mit einem verwandten Thema beschäftigt sich Georg Mascolo in der Wochenendausgabe der Süddeutschen Zeitung. "Was wir dürfen, was wir müssen," so der Titel. Es geht um die Verantwortung des Journalismus und warum es einen "patriotischen Journalismus" nicht geben kann. Wenigstens nicht dann, wenn dieser nur dazu dienen soll, den Interessen der jeweiligen Regierung zu folgen. Die ist in Demokratie immer eine auf Zeit. Andere Regierungen können diese Interessen nämlich anders definieren als ihre Vorgänger. Mascolo nennt das "öffentliche Interesse" als das entscheidende Kriterium für Berichterstattung. Das bedeutet keineswegs die Verantwortungslosigkeit gegenüber den Handlungen der jeweils Regierenden.
"Journalisten dürfen nur veröffentlichen, was auch im öffentlichen Interesse liegt und Menschen nicht in Gefahr bringt. Wenn es um sensible, ja geheime Vorgänge geht, sind Gespräche zwischen Regierung und Journalisten keine Kungelei oder Selbstzensur, sondern Handwerk. Denn auch die Medien müssen sich rechtfertigen für das, was sie veröffentlichen – und für das, was sie zurückhalten. Es ist eine große Verantwortung, und man muss sorgsam mit ihr umgehen."
Das "öffentliche Interesse" ist maßgebend. Und deshalb gibt es nicht nur keinen "patriotischen Journalismus", sondern auch keinen "feministischen", "sozialistischen" oder "marktwirtschaftlich-kapitalistischen" Journalismus. Deshalb können Journalisten trotzdem "Feministen", "Sozialisten" oder "Neoliberale"sein. Nur kann sich die Berichterstattung nicht von diesen Überzeugungen dominieren lassen. Sie muss den Lesern vielmehr die eigene Willensbildung ermöglichen – und nicht vor dem falschen Denken schützen wollen. Das gilt sogar für Bayern.
"Die spinnen, die Journalisten!" wäre übrigens auch ein guter Titel. Wahrscheinlich ließe sich darüber sogar in der aktuellen Mediendebatte ein Konsens herstellen. Vielleicht sollte sich der WDR-Rundfunkrat damit beschäftigen. Im Zuge der MDRisierung des eigenen Programms braucht man keinen kritischen Journalismus. Man hat schließlich den Fußball. Im Vergleich zum teuren Politikum ist der ein echtes Schnäppchen.
Altpapierkorb
+++ Medienkritik gibt es auch von Til Schweiger im Spiegel-Interview. Er äußert sich über die Berichterstattung nach seinem Treffen mit dem SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel. "Das war schon heftig. Es gab Leitmedien, die geschrieben haben: Da ist der Nuschler und Rechtsradikale Schweiger auf der einen Seite, der Kinderschänder wegsperren will, und auf der anderen Seite der Pegida-Sympathisant Gabriel, der als Bundeswirtschaftsminister für die größten Waffenexporte in der Welt verantwortlich ist. Und die zusammen wollen jetzt ein Flüchtlingsheim machen. Was soll denn das bitte schön werden? Das war der Tenor." Trotz ausgiebiger Recherche. In welchem Leitmedium war das so zu Lesen gewesen? Man hat eher den Eindruck, dass Schweiger hier die Reaktionen in den sozialen Netzwerken zusammenfasst. Aber vielleicht sind die ja auch heute schon das Leitmedium?
+++ Ob Hannelore Kraft jetzt auch unter die Medienkritiker gegangen ist? Wir wissen es nicht. Auf jeden Fall hat sie aber scheinbar keine Zeit für die Landespressekonferenz.
+++ Dafür beschäftigt sich epd-Medien mit den Youtubern. "Gleich vorneweg: Das wird kein billiges YouTuber- oder LeFloid-Bashing. Letzterer musste für sein zweifellos uninspiriertes Merkel-Interview eine derart fiese Häme über sich ergehen lassen, wie sie sich die Kollegen sogar bei offensichtlicheren Hofberichterstattern wie Sigmund Gottlieb verkneifen." Das wird er sicherlich nicht gerne lesen, wenn er das denn lesen sollte. Aber dafür weist der Artikel auf das Problem der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten bei der Suche nach dem jungen Publikum hin: "Würde das "1080 Nerdscope"-Konzept zur Blaupause für den Jugendkanal, würden sich die Öffentlich-Rechtlichen zwar die geforderten "Köpfe" einkaufen, mit denen sich die Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen identifiziert (zumindest glauben das die Sender). Die aber würden Formate machen, wie es sie auf YouTube schon zur Genüge gibt. Und das ganz ohne öffentlich-rechtliches Profil. Getrost darf man dann vermuten: Das versendet sich schon."
+++ Man weiß ja heute gar nicht, was wichtiger ist. Der Börsenkrach via China oder Merkels Schweigen. Die Münchner Abendzeitung hat einen Kommentar dazu gebracht, wie Meedia berichtet. Ansonsten sind wir gespannt auf die Folgen, wenn sich die Kanzlerin geäußert haben wird. Ihre Kritiker erwarten ja meistens nicht sehr viel von ihren Stellungnahmen. Das wird dann bestimmt die Berichterstattung nach den Worten der Kanzlerin bestimmen.
+++ Auch wenn "Ungarn ein überschaubares Land" ist, lohnt sich die Beschäftigung mit der Lage des Journalismus in Ungarn. "Entsprechend klein ist der Medienmarkt, der von staatsabhängigen wie unabhängigen Akteuren bespielt wird. Das Publikum ist gespalten: Galt unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges die Zeitung „168 Óra“ als Presseorgan, auf das man sich trotz politischer Differenzen einigen konnte, gibt es laut András Pikó heute nichts Vergleichbares mehr. Der Markt sei zwar frei, aber die Politik nehme über diverse Kanäle Einfluss. Die Folge: „Die Linken lesen ihre Presse, die Rechten nur die rechte. Es gibt keinen Austausch und keine Anerkennung jenseits politischer Interessen.“ Indem sich Fidesz konsequent den oppositionellen Medien entzieht, treibe die Regierungspartei die Spaltung der Öffentlichkeit voran, glaubt Pikó. So entstehe der Eindruck, die andere Seite sei so voreingenommen, dass sie die Regierung gar nicht zu Wort kommen lasse. Die Journalisten von Klubrádio bäten Fidesz-Politiker jedoch immer wieder vergeblich um Stellungnahmen." Man könnte den Eindruck bekommen, dass diese Entwicklung auch in Deutschland passieren könnte. Wenigstens wenn die Logik der sozialen Netzwerke auf die klassischen Medien überschwappen sollte.
+++ Was jetzt auch nicht mehr fehlt? Der Artikel von Stefan Niggemeier über "konstruktive Berichterstattung".
+++ In eigener Sache: Im Text war ursprünglich zweimal vom WDR-Programmrat die Rede. Es war aber wie im Teaser der WDR-Rundfunkrat gemeint gewesen. Wir haben den Fehler korrigiert.
Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.