Oder ist sie eher eine Verheißung? Wenigstens lassen sich die Aufregungen nach #NetzFragtMerkel und #merkelstreichelt kaum noch steigern. Wer bisher nicht den Sinn von sozialen Netzwerken kannte, sollte daher diesen subversiven Beitrag von Christoph Kappes lesen. Er besteht nur aus zwei Worten.
„Beeindruckende Logik.“
Es geht um die erschütternde Frage, ob sich Journalisten schon aus diesen Netzwerken zurückgezogen haben. Auf turi wird unter anderen Konstantin Neven DuMont erwähnt. Er wusste in seltener Klarheit, den Sinn dieser Netzwerke in einem Kommentar zu seinem vermeintlichen Rückzug deutlich zu machen.
„Es stimmt, dass ich Twitter weniger nutze. Ganz eingestellt habe ich es aber nicht. Erst vor kurzem hat mich Jan Böhmermann auf Twitter beleidigt.“
Besser kann man das Aufmerksamkeitsmanagement nicht beschreiben, um das es in diesem Mediensystem geht. Erst wenn einen Jan Böhmermann beleidigt, können wir sicher sein, noch zu existieren. Ansonsten droht das Vergessen. Das wäre der größte anzunehmende Unfall in diesen hektischen Zeiten, wo alle nur noch um sich selbst kreisen. Man könnte sogar das Wort eines berühmten Philosophen paraphrasieren.
Ich beleidige, also bin ich.
Oder muss es nicht doch anders heißen?
Ich werde beleidigt, also werde ich dann erst sein?
Der Mensch als Täter und Opfer? Ist das die Frage, die uns in den sozialen Netzwerken bewegt? Man erkennt an diesen 26 Worten den medienkritischen Kosmos, den uns Kappes und Neven DuMont unverhofft hinterlassen haben. Oder den man daraus entwickeln könnte. Aber man kann das selbstredend auch alles für ausgemachten Blödsinn halten. Wohlgemerkt die Interpretation, nicht die zitierten Worte der Kollegen.
Tatsächlich erlebt man hier etwas anderes. Es gab das schon zu Zeiten als niemand ahnen konnte, den aufrechten Gang mit einem über das Smartphone gebeugten Haupt modifizieren zu müssen. Das nennt sich Propaganda. Alle versuchten aus #merkelstreichelt ihren Honig zu saugen. Die politischen Gegner der Kanzlerin witterten Morgenluft, um ihre Glaubwürdigkeit zu unterminieren. Plötzlich schien sie einen Moment der Schwäche zu zeigen: Sie wirkte angreifbar.
Das palästinensische Mädchen war dabei nur Mittel zum Zweck. Das gilt für die Angreifer wie für die Verteidiger der Kanzlerin. Im Mediensystem hat sich die Umschlaggeschwindigkeit dieser Propagandamaschine nur extrem beschleunigt. Das ist keine konzertierte Aktion oder gesteuerte Kampagne. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen hat dazu am Samstag in Texte, Töne, Bilder interessante Anmerkungen gemacht. Aber nicht die Medienlogik, sondern das politische Interesse bestimmt die Dynamik solcher Prozesse. Man lese unter diesem Blickwinkel noch einmal die im Altpapier von Freitag angebotenen Interpretationen dieses Ereignisses. Sie sagen zumeist mehr über die Interpreten aus als über die Kanzlerin.
Eine Folge wird aber im politischen Betrieb bald zu spüren sein: Die Neigung, sich zu exponieren, wird weiter abnehmen. Die glatt polierte Oberfläche als Erfolgsgeheimnis der Kanzlerin werden alle anderen übernehmen müssen. Das eigentliche Wesen der Politik in demokratisch verfassten Gesellschaften, die Kontroverse über Handlungsalternativen, bliebe endgültig auf der Strecke. Oder den politischen Außenseitern überlassen, um das jetzt so auszudrücken, was Kevin Systrom von Instagram für die Zukunft hält: Das Ende des Textes und den Primat der Bilder. Die Medien selbst erzeugen diesen Trend, wenn sie Ereignisse wie #merkelstreichelt in eine Propagandaschlacht eskalieren lassen. Um sich dann später über die Gleichförmigkeit der Politik zu wundern.
+++ Gestern Abend zeigte das ZDF sein Sommer-Interview mit Sigmar Gabriel. Thomas Walde machte alles richtig, weswegen es auch keine Aufregung verursachen konnte. Konnte er den Vize-Kanzler knacken? Sicherlich nicht. Nur sollte man einmal darüber nachdenken, seit wann eigentlich solche Ansprüche an Interviews gestellt werden. Dafür fasst noch einmal Dietrich Leder in der Medienkorrespondenz den Nutzen zusammen, den das Kanzlerinnen-Interview von Florian Mundt für Angela Merkel hatte. Es war ein Beitrag zur politischen Willensbildung seiner Zuschauer.
„Angela Merkel hat jedenfalls den Jugendlichkeitstest bestanden. Vier Tage, nachdem das Video ins Netz gestellt worden war, hatten es 2,7 Millionen Internet-Nutzer zumindest angeklickt. Über 180.000 von ihnen mochten es auch, was sie bei YouTube durch das Zeichen des emporgereckten Daumens anzeigten. Ihr Missfallen drückten nur 9500 aus. Eine solche Zustimmung erreicht die Kanzlerin noch nicht einmal unter den Parlamentariern ihrer Partei.“
Ob es bei Thomas Walde im ZDF 180.000 hoch gereckte Daumen gegeben hat? Oder 9.500 Zuschauer ihr Missfallen ausdrückten? Sicherlich nicht. Immerhin wird seine Quote mit 1,55 Millionen Zuschauern (es waren sogar 2,8 Millionen. Die 1,55 Millionen bezogen sich auf das Interview mit der Kanzlerin in der ARD F.L.) angegeben. Aber wenn Politiker-Interviews auch für YouTuber wie LeFloid zum Normalfall geworden sein sollten, wird sich auch dort das Interesse auf ein Normalmaß reduzieren. Nur bieten diese neuen Formate die Möglichkeit, Zielgruppen zu erreichen, die etwa beim ZDF nicht mehr zu finden sind. Ansonsten findet Politikvermittlung wirklich nur noch über #merkelstreichelt statt.
Gab es sonst noch was? Das Sommerinterview mit der Kanzlerin in der ARD. Oliver Jungen hat es für die FAZ rezensiert. Und ihm sind zwei Dinge aufgefallen. Zum einen eine erstaunliche Feststellung.
"Seit wann sind denn unsere Hauptstadtjournalisten so wunderbar hartnäckig?
Zum anderen die Reaktion der Kanzlerin auf das Streicheln des Flüchtlingsmädchens.
„Ich finde, die Geste war in Ordnung“, beurteilt sich die Kanzlerin selbst, um dann noch nachzuschicken: „Was soll ich mich ärgern? Ich habe Probleme zu lösen.“ Man mag über den – euphemistisch gesprochen – Kurs in Sachen Griechenland geteilter Meinung sein, doch wie die Bundeskanzlerin einen digitalen Shitstorm aus dem Pelz schüttelt, das hat Format und darf Schule machen. Vielleicht war es alles in allem doch ihre Woche."
Beeindruckende Logik. Es profitiert die Kanzlerin von ihren Kritikern? Am Ende war es aber wohl doch der Journalismus.
Altpapierkorb
+++ Passend zum Thema dieses Altpapier: In England hat man jetzt ein Video entdeckt. Es zeigt die Queen mit dem früher so genannten „deutschen Gruß“, der in diesem unseren Lande mit einem als Führer titulierten Reichskanzler verbunden worden war. Das ist für ein amtierendes Staatsoberhaupt ein skandalöser Vorgang. Ist die noch vor kurzem in Deutschland bei ihrem Besuch gefeierte Königin ein Nazi? Muss sie zurücktreten? Der Film zeigt allerdings die im Jahr 1926 geborene Elisabeth im zarten Alter von sechs oder sieben Jahren. Es ist wahrscheinlich kurz nach der Machtübernahme Hitlers aufgenommen worden. Das Königshaus ist empört über diese Veröffentlichung. Tatsächlich operiert sie mit dem Wissen von heute über eine Aufnahme von gestern. Es ist eine Denunziation, weil die Sun die Queen in einen historischen Kontext stellt, der nur ein Ziel verfolgt: Die Skandalisierung. Nun wird aber in den Medien anders argumentiert. Es ginge hier um die historische Aufarbeitung der Rolle des früh abgedankten Königs Edward VIII im Umgang mit den Nazis. Dessen Sympathien für Hitler waren aber schon vorher bekannt. Wo liegt also die Neuigkeit?
+++ Sie macht eine deutsche Historikerin deutlich, die in England arbeitet: "Die königliche Familie kann ihre eigene Geschichte nicht ewig leugnen", sagte Karina Urbach, die am Institut für Geschichtsforschung der University of London arbeitet. "Das ist Zensur. Zensur ist kein demokratischer Wert. Sie müssen sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Ich komme aus einem Land, Deutschland, in dem wir uns alle mit unserer Vergangenheit auseinandersetzen müssen." Der Zensurvorwurf geht allerdings ins Leere. Niemand kann die Sun an der Veröffentlichung dieses Videos hindern. Die Frage betrifft lediglich deren Motivation namens Skandalisierung. Und die deutsche Historikerin sollte besser einmal die „Anmerkungen zu Hitler“ von Sebastian Haffner lesen.
Dann wüsste sie nämlich, warum die Nazis bis 1938 in Deutschland (und in Europa) häufig anders beurteilt worden waren als nach Ausbruch des Krieges – oder nach 1945. Das gilt besonders für das Jahr 1933 als dieser Film aufgenommen worden war. Vor allem, wenn auch der Kontext dieses „deutschen Grußes“ nicht mehr zu rekonstruieren ist. Der Film ist somit in der derzeitigen Debatte kein Dokument der historischen Aufarbeitung, sondern wird ohne seinen Kontext zum Monument der Geschichtsvergessenheit. Der Hitler-Gruß war in so einem privaten Umfeld 1933 schlicht noch kein Skandal gewesen. Er wurde es erst später. Man bekommt hier aber einen Eindruck davon, was uns mit den neuen Medien in Zukunft blühen könnte. Jeder Tweet kann tatsächlich Jahrzehnte später zum Skandal werden. Im Gegensatz zum Film im Jahre 1933 sind soziale Netzwerke heute bekanntlich ein Massenmedium.
+++ Über den Hass im Internet diskutierte am Samstag Breitband in Deutschlandradio Kultur. Ob bei der Bekämpfung des Hasses Ombudsleute helfen?
+++ Meedia weist dagegen auf ein Thema ohne Hass hin. Gruner&Jahr will wieder den Henri-Nannen-Preis verleihen.
+++ Über das veränderte Denken beim WDR berichtet Altpapier-Autor René Martens in der Medienkorrespondenz. #wowillstduhin „hat zum einen eine spielerische Komponente. Zum anderen erinnert das Umherschweifen in den Zügen, das hier möglich ist, an das sonstige Nutzungsverhalten im Netz. Man kann sich treiben lassen, aber bevor man sich im Leben oder in den Äußerungen von Personen verliert, die weniger interessant sind, als sie auf den ersten Blick zu sein scheinen, kann man schnell woanders hinklicken. Das ist entfernt vergleichbar mit dem Zappen auf der Fernbedienung. Nur dass man in einer interaktiven Web-Doku nicht zu einem anderen Programm „zappt“, sondern das Programm gar nicht verlässt.“
+++ Der Hessische Rundfunk hat allerdings zur gleichen Zeit unveränderte Defizite zu melden, wie DWDL berichtet.
+++ Ein Medienkritiker hat zur Abwechslung nichts zu meckern, sondern etwas zu loben. Allerdings nur in der Schweiz. Ob es deshalb in Zukunft beim Tagesanzeiger eine Medienseite geben wird?
+++ Die Personalie des Tages ist der angekündigte Rückzug von Hans Leyendecker in das Privatleben. Falls es bei Borussia Dortmund mit einem Trainer, der nicht Jürgen Klopp heißt, nicht klappen sollte, hat der BVB jetzt eine Personalreserve zur Verfügung. Der bekennende BVB-Fan Leyendecker könnte dann investigativ bei der Trainersuche helfen.
Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.