Shitstorm im Dienste des Establishments

Shitstorm im Dienste des Establishments
Über den Verfall der Sitten im Zeitalter der Digitalisierung kann man immer wieder viel lesen. War früher alles besser? Ein Patriarch aus Wolfsburg gibt uns Journalisten nützliche Hinweise.

In der Informationsflut kann man schon einmal untergehen. Manchmal reicht in dieser Mediengesellschaft aber auch ein einziger Satz, um jeden Hühnerstall in Aufregung zu versetzen. „Ich bin auf Distanz zu Winterkorn“, so zitiert Spiegel online den Enkel von Ferdinand Porsche namens Ferdinand Piëch und verweist auf die entsprechende Geschichte „Götterdämmerung“ in der Druckausgabe. Nur seltsamerweise ist dieser Satz dort gar nicht zu finden. Man findet dort auch kein Interview mit dem Patriarchen des VW-Konzerns; lediglich eine ausführliche Begründung, warum der amtierende Vorstandsvorsitzende des VW-Konzerns, Martin Winterkorn, keine Zukunft mehr in dem Unternehmen haben sollte. Der Leser ist davon etwas verwirrt. Wieso wird online über etwas in der Druckausgabe berichtet, was dort aber gar nicht zu lesen ist? Das könnte mit einem Satz zu tun haben, den Piëch dem Spiegel auch im Print zu zitieren erlaubte. Es ging um einen Vorfall auf der IAA im Jahr 2013. Winterkorn habe damals an seinem PR-Chef festgehalten, trotz des Verdachts der Indiskretionen gegenüber der Presse.

„Guillotinieren werde ich erst, wenn ich sicher weiß, wer es war.“

Nun stand der wortkarge Piëch schon immer unter Verdacht, besser mit Motoren oder mit Hinterachsen als mit Menschen kommunizieren zu können. In einem Interview vom 15. März fragte Ulf Poschardt Winterkorn, ob es für ihn eine „Fügung“ gewesen sei, den Porsche-Enkel getroffen zu haben. Ein großes Wort. Es ging um den Motor des Audi 200 Turbo. Aber Winterkorn benannte seine Arbeitsbeziehung zu Piëch so:

„Von Piëch habe ich viel über Visionen und Mut gelernt und gleichzeitig auch, meine Herkunft als Materialfachmann nicht nur zum Neinsagen zu nutzen. Piëch meinte zu mir: Herr Winterkorn, ich sehe ein, dass das so nicht geht, aber machen Sie auch Vorschläge, wie es gehen könnte. Statt stets zu verneinen, sollte ich mutig konstruktiv denken.“

Aber wie guillotiniert man jetzt in dieser Mediengesellschaft möglichst effektiv? Von konstruktiv wollen wir ja in diesem Zusammenhang nicht reden. Man verschärft online die Stimmungslage, wenn der eigentliche Artikel offenkundig zu wenig Klartext bietet. Also kam es zu diesem schon heute legendären Satz: „Ich bin auf Distanz zu Winterkorn“. Das im Spiegel von Vertrauten kolportierte „nachhaltig gestörte Vertrauensverhältnis“ schien Piëch nicht auszureichen. Zudem schob er noch sein fehlendes Interesse an der eigenen Ehefrau als seine Nachfolgerin als VW-Aufsichtsratsvorsitzender nach. Der in dem Artikel als Versuchsballon gestartete Hinweis auf Friede Springers Rolle im gleichnamigen Konzern hatte scheinbar nicht überzeugt. Nun muss man sich nichts vormachen: Piëch weiß, was er tut. Er hat den Eindruck, der VW-Konzern könnte einschlafen oder an seiner Selbstgefälligkeit ersticken. Schon früher hatte er in vergleichbaren Situationen mit seinem Fußvolk kurzen Prozeß gemacht. Aber an VW kann man erkennen, wie Medien als moderne Guillotine genutzt werden. Online wird die Klinge noch nach Drucklegung geschärft, wenn es sein muss. Das ist der Shitstorm im Dienste des Establishments. In dem Medien nennt man das aber mit durchaus überzeugenden Gründen Berichterstattung. Piëch könnte aber eigentlich seinem 2.3 Liter Turbo-Motor aus dem verblichenen Audi 200 einen Twitter-Account gönnen.

+++ Damit kommen wir zum Fußvolk, das sich mit den sozialen Netzwerken zufrieden geben muss, um weniger dem Brummen der Motoren als dem Gerede der anderen zu lauschen. Der Aufmacher der FAS machte gestern deutlich, worum es geht.

„Es sind neue Auswüchse der Verrohung. Die „sozialen Netzwerke“ werden zu asozialen Netzwerken, in denen Unbekannte zu Hass anstacheln und unverschämt zu Straftaten aufrufen. Anders als ihre Opfer sind sie nicht allein, im Internet tobt sich ein Cybermob aus, der die Maßstäbe von Recht und Unrecht verdreht. Dieser Mob wird von Extremisten für ihre Zwecke mobilisiert – und die sind nicht virtuell. Sie zielen auf lebende Menschen.“

„Ich gehe auf Distanz zu Winterkorn“ ist zweifellos eleganter und macht sofort verständlich, was unter den „feinen Unterschieden“ zu verstehen ist; selbst für die, die von Pierre Bourdieu noch nie gehört haben sollten. Nur wozu gehören eigentlich Spitzenpolitiker? Sicherlich zum gesellschaftlichen Establishment, aber im Gegensatz zu Spitzenkräften des Subsystems Wirtschaft müssen sie sich dem Fußvolk aussetzen. Oder kann sich jemand einen Winterkorn oder Piëch in einer Schulklasse vorstellen, wie sie Pennälern aus Büchern vorlesen? Das Schicksal hat gerade der Briten-Premier David Cameron in seinem Wahlkampf zu erleiden. Er musste sich zum Gespött der Medien machen lassen, weil er scheinbar selbst Schulkinder in den Tiefschlaf langweilt. Boris Rosenkranz hat sich aber dieses Video einmal angesehen und kommt zu ganz anderen Schlussfolgerungen. Peinlich ist es nämlich nicht für Cameron, sondern für den Journalismus. Stefan Niggemeier nimmt das Thema in der FAS auf und kommt dabei zu interessanten Schlussfolgerungen.

"Aber es ist auch eine perfekte und beunruhigende Illustration, wie Journalisten – selbst im Angesicht von unmittelbar vorliegendem Videomaterial, das ihrer Interpretation widerspricht – beschreiben, was sie sehen wollen, was ihren Erwartungen und denen ihrer Leser entspricht – und nicht, was tatsächlich passiert. Größere Teile der Griechenland-Berichterstattung in Deutschland ließen sich so auch erklären.“

+++ Die Attacke auf TV Monde (Siehe auch das Altpapier von Freitag) hat Frank Rieger in der gleichen FAS zu einigen wichtigen Bemerkungen inspiriert. Er macht nämlich deutlich, warum nicht diese Attacke das Erstaunliche ist, sondern die Frage, warum sie nicht öfter passiert.

„Die Sicherheitsannahmen der meisten Medienorganisationen beruhten bis letzten Donnerstag im Kern auf drei Grundsätzen: „wir vertrauen uns hier“, „unsere Systeme sind so speziell, dass niemand Uneingeweihtes etwas mit den Passwörtern anfangen könnte“ und „wer würde denn schon so etwas machen?“.

Nur sollte man sich diese Naivität wirklich nehmen lassen? Wollen wir jetzt mit bösen Blicken hinter jedem hinterhersehen, der sich in den Redaktionsräumen aufhält? Oder wäre es nicht besser, solche Ereignisse gerade nicht als den digitalen Weltuntergang zu betrachten als der er uns aktuell verkauft wird? Dummerweise hat man nämlich ein Problem: Bei vergleichbaren Aktionen gegen die bösen Buben in dieser Welt lobt man die Raffinesse der digitalen Okkupanten aus dem eigenen Lager - und ist voller Schadenfreude über gelungene Aktionen. Da liest sich Riegers Vorschlag durchaus irritierend:

„Ein erster Schritt zur digitalen Deeskalation wäre daher nicht der wohlfeile Ruf nach neuen Gesetzen, Behörden und Befugnissen, sondern ein sofortiger Stopp von sogenannten „Cyber-Offensivoperationen“ des Westens. Wer immer ein neues digitales Schlachtfeld eröffnet, muss die Antwort vertragen können. Angesichts des jämmerlichen Zustandes der IT-Infrastrukturen kann das eigentlich niemand. Egal ob Industriesteuerungen, Medienorganisation oder Finanzmärkte – niemand kann guten Gewissens versprechen, dass irgendein System vor Angriffen sicher ist.“

Womit wir das auch geklärt haben: Niemand ist in dieser Welt vor Angriffen sicher. Weder ein VW-Chef, noch ein Briten-Premier oder ein TV-Sender. Nur sind die Methoden durchaus unterschiedlich, wie wir gelernt haben. Aber eines ist sicher: Ohne uns Medien kommt dabei niemand aus. Noch nicht einmal ein Patriarch und Multimilliardär wie Ferdinand Piëch. Er könnte aber wirklich einmal in einer Schulklasse den Kindern vorlesen. Schließlich ist er stolzer Vater von 12 Kindern.


Altpapierkorb

+++ Nicht mehr zum Establishment gehört Thomas Middelhoff. Er sitzt seit Monaten in Untersuchungshaft und hat eine Debatte über seine Haftbedingungen ausgelöst. Letztlich geht es seinen Anwälten natürlich nur um eins: Über öffentlichen Druck seine Entlassung aus der Haft zu erreichen. Wird er jetzt aber dort mit Schlafentzug gequält oder nicht? Ist die Annahme des Suizidverdachts gerechtfertigt, der als Begründung für die dauernden Kontrollen angegeben wird? Der Spiegel zitiert aus den Protokollen der Justizvollzugsanstalt, die den systematischen Schlafentzug nicht plausibel erscheinen lassen. Dagegen äußert sich Middelhoffs Sohn in der Bild am Sonntag. Von Selbstmordabsichten seines Vaters könne nicht die Rede sein. Somit wäre auch die Dauerüberwachung, die es nur eingeschränkt gegeben zu haben scheint, gegenstandslos gewesen. Hier wird die PR zum Schlachtfeld einer ursprünglich rechtlichen Einschätzung, die bekanntlich irrtumsanfällig ist. Welchen Richter kann eine solche öffentliche Erörterung schon kalt lassen, wenn er etwa über eine Haftverschonung entscheiden muss?

+++ Da ist das „native advertising“ ja eher harmlos zu nennen. „Markt und Medien“ im DLF klärt uns auf: „Freiwilliger Werbekonsum lautet die Devise: Wer etwas über Autos liest, findet eine entsprechende Überschrift. Die führt zu Artikeln von Unternehmen. Keineswegs plumpe Werbebotschaften, sondern spannende Geschichten und Service-Berichte mit Mehrwert. So funktioniert Werbung heute. Doch das allein reicht nicht, weiß Jana Kusick: "Es gibt nicht nur die eine Seite - ich habe eine tolle Content Marketing Strategie und ich kann Geschichten erzählen - sondern sie müssen auch gefunden werden, sie müssen auch gelesen werden." Schlaue Algorithmen machen das möglich. Sie werten die Klicks der Nutzer sofort aus. Native, das heißt nichts anderes als vertraut. Native Advertising heißt also Werbung in einem vertrauten Umfeld. Das Design der Werbetexte ähnelt dem Rest der Webseite. Für die Stories werden Journalisten eingekauft. Den Erfolg dieser Strategie beweisen Medienhäuser in den USA und Großbritannien: Auf den Webseiten renommierter Blätter wie New York Times oder Guardian erscheinen schon lange Native Ads.“ Ganz schlaue Algorithmen machten somit aus dem heutigen Altpapier was? Sie verlinken auf Audi!

+++ Wo gibt es guten Journalismus? Darüber informiert uns „Töne, Texte, Zeichen“ auf WDR 5. Dort ist übrigens auch von den 5.100 arbeitslos gemeldeten Journalisten zu lesen. Ob die aber über das Smartphone neue Jobs finden, selbst wenn wir alle umdenken?

+++ Während sich Kai Diekmann jedem Shitstorm entgegenstellt, der ihm so auf Twitter begegnet, hat die „heute show“ einen Werbespot über die Bild gedreht. Autor ist der bekannte Kolumnist Gernot Hassknecht. Den sollte niemand verpassen. Über die Lage der Bild am deutschen Kiosk berichtet übrigens auch der WDR.

+++ Wie geht es eigentlich den Medien in Spanien? In der taz gibt es dazu einen informativen Artikel: „Doch was dem Publikum gefällt, war nicht nach dem Geschmack der Mächtigen im Lande. Es war ein offenes Geheimnis, dass immer wieder vor allem Vertreter der regierenden PP beim Sender vorstellig wurden, um sich über Themenwahl und Gäste Cintoras zu beschweren. Die Chefetage bei Mediaset gab dem Druck nun nach. In zwei Monaten stehen Kommunal- und Regionalwahlen und im Herbst Parlamentswahlen an. Die beiden großen Parteien – PP und die sozialistische PSOE – rutschen seit Monaten bei den Umfragen ab. Spanien steht – darauf deutet alles hin – vor dem Ende des Zweiparteiensystems. Fernsehauftritte neuer Kräfte wie Podemos sind deshalb nicht länger erwünscht. Das Druckmittel der Regierung: Es ist geplant, zusätzliche Frequenzen für das Digitalfernsehen zu vergeben. Alle in der Branche wissen, nur wer sich gut benimmt, wird etwas vom Kuchen abbekommen.“ Es ist wirklich von Spanien die Rede, nicht von Russland.

+++ Wie können ältere Herren mit der berühmten Zeit gehen? Sie drehen mit YouTube-Stars. Dafür noch etwas aus den alten Zeiten. In der FAS findet man einen Artikel über die Frage, ob früher alles besser gewesen ist. Es geht um den deutschen SS-Mann Max Merten, der in Griechenland in den 1950er Jahren als Kriegsverbrecher angeklagt gewesen ist, dort festgenommen wurde – und in der Bundesrepublik sehr viel Verständnis für seine Lage gefunden hatte. „Der Fall Merten ist die Geschichte eines in Griechenland verurteilten Kriegsverbrechers, eines skrupellosen Tricksers und Täuschers, der es dank seines gewinnenden Wesens und der Hilfe guter Freunde erstaunlich lange verstand, Schwindelgeschichten in der Presse zu platzieren“, so ist dort zu lesen. „Der Fall ist deshalb auch ein Medienskandal der frühen Bundesrepublik.“ Früher war wohl doch nicht alles besser. Nur langsamer.

+++ Wer etwas über den Medienwandel erfahren wollte, musste sich in den vergangenen Tagen mit Hillary Clinton beschäftigen. Es wäre früher nämlich keine Frage gewesen, wo sie ihre Kandidatur für die Präsidentschaftskandidatur hätte mitteilen müssen: Gegenüber Journalisten in den klassischen Medien. Heute dürfen diese nur noch darüber spekulieren, wie sie diese Kandidatur zu verkünden gedenkt. Man beobachtet das, wie die Werbe-Spots beim Super-Bowl oder die Trailer für einen neuen Kinofilm. Es geht um Originalität, die Performance der PR-Berater von Frau Clinton. Sie wählten ein Video auf Facebook, das seit Sonntag weit mehr als eine Million Klicks zählte. Ihre Gegner der GOP starteten sogleich eine Gegenkampagne. Die kritischen Kommentare in den Medien werden dann nur noch zum Nebengeräusch der PR beider Seiten. Die direkte Ansprache an den Wähler hat deren Beitrag zur Meinungsbildung von Bürgern längst abgelöst. Insofern wäre es wirklich konsequent, wenn sich die Medien vor allem mit der Beurteilung der PR-Performance beschäftigten. Wir werden das in den kommenden zwei Jahren erleben. Der nächste US-Präsident wird bekanntlich erst im November 2016 gewählt werden.

+++ Was nicht mehr fehlt: Guttenberg im Spiegel.

+++ Was die Medien am Dienstag beschäftigen wird, steht dafür jetzt auch schon fest. Literaturnobelpreisträger Günter Grass ist heute im Alter von 87 Jahren gestorben.

Das Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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