Leider konnte Otto von Bismarck nicht in Talk Shows gehen. Er hätte dort seine reine Freude gehabt. Schließlich war er sich der Bedeutung der Öffentlichkeit und der Presse für die moderne Diplomatie immer bewusst gewesen. Seine Meisterleistung war die berühmte Emser Depesche. Er formulierte im Jahr 1870 in Bad Ems einen Bericht aus Berlin über ein Treffen des französischen Botschafters mit dem damaligen preußischen König so um, dass sie sich nach der Veröffentlichung in der Presse wie eine diplomatische Ohrfeige Frankreichs anhören musste. Die Reaktion aus Paris ließ nicht lange auf sich warten. Kaiser Napoleon III betrachtete das Verhalten als Provokation und erklärte Preußen den Krieg. Das war das Ziel Bismarcks gewesen: Frankreich zur Kriegserklärung zu provozieren. Der Rest der Geschichte ist als deutsch-französischer Krieg von 1870/71 bekannt. Heute gibt es keine Depeschen mehr, sondern YouTube. Ansonsten hat sich in Europa wenig geändert, außer dass sich die Umgangsformen verschlechtert haben. Das ließ sich gestern Abend bei Günther Jauch beobachten. Er hatte den griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis zu Gast, um die Position der neuen griechischen Regierung in der aufgewärmten Eurokrise zu erläutern. Er sagte viel, wenigstens mehr als in der Bild zu lesen ist, und machte auch sonst einen passablen Eindruck. Inwiefern ihm dabei seine Gesprächspartner halfen, soll hier nicht erläutert werden. Denn in unseren Zeiten ist man ganz versessen auf Emser Depeschen. Nur kam sie gestern Abend aus Zagreb in Form eines YouTube Videos von einer Konferenz im Jahr 2013. Das Codewort lautet Mittelfinger und ist heute in aller Munde. Hat ihn Varoufakis dort gezeigt und wem hat er gegolten? In welchem Kontext wurde er benutzt? Provokativ oder illustrierend? Welche Rolle spielt er in der aktuellen Europapolitik, die sich durch politische Vorwürfe, wechselseitige Unterstellungen und heiß laufende Pressekampagnen auszeichnet? Aber zurück zu Bismarck. Er hatte mit seiner sinnentstellenden Variante eines diplomatischen Meinungsaustauschs ein klares Ziel verfolgt. Den wankelmütigen König von Preußen und den französischen Kaiser in die gewünschte Sackgasse namens Krieg zu manöverieren. Bismarck wusste, was er tat, und machte das mit jener Kaltblütigkeit, die selbst seine Feinde an ihm bewunderten. Die Medien waren für ihn bloßes Mittel zum Zweck. Davon kann heute keine Rede mehr sein. Sie sind zum Zweck geworden, dem sich alles unterzuordnen hat. Denn seit gestern Abend steht nur noch eine Frage im Vordergrund. Hat Varoufakis bei Jauch gelogen? Nur was hat er dort tatsächlich gemeint? Dass er den Mittelfinger nicht gezeigt habe und das Video eine Fälschung gewesen ist? Oder es sinnentstellend genutzt wird, um ihn zu diskreditieren? Varoufakis sprach Englisch und wurde simultan übersetzt. Hat er also den Einspieler von Jauch mit diesem Video überhaupt richtig verstanden oder dessen anschließende Frage nur falsch interpretiert? Jauch benutzte das Video mit dem Mittelfinger, um die vergiftete politische Debatte zu charakterisieren. Nur betraf es gar nicht die heutige Diskussion. Auf jeden Fall begann augenblicklich auf Twitter und in Blogs der Kampf um die Deutungshoheit über diese Aussagen des griechischen Finanzministers. Die Akteure waren Journalisten. Sie sahen natürlich sofort die Sprengkraft dieser Aussage von Varoufakis: Sie betrifft schließlich seine Glaubwürdigkeit. Selbst mehr als 300 Milliarden Euro Schulden Griechenlands sind im Vergleich zu dieser moralischen Frage die berühmten Peanuts. Wenn Varoufakis gelogen haben sollte, diskreditiert das nämlich augenblicklich alles, was er sonst so gesagt oder getan hat. Da spielt weder der inhaltliche Kontext eine Rolle, noch die Situation, in der diese Aussage fiel. Alles egal: Kopf oder Zahl. Die Schlussfolgerung kennt jeder schon in dem Moment, wo das Ereignis passiert. Bill Clinton war zum Prototyp für diese Glaubwürdigkeitsfalle geworden. Hat er den Joint inhaliert? Ist Oralverkehr Sex? Selbst völlig belanglose Ereignisse bekommen in diesem Moment welthistorische Bedeutung. Bismarck bediente den schon immer üblichen Zynismus in der Diplomatie, um ein politisches Ziel zu erreichen. Die Medien waren lediglich die Transporteure dieser Botschaft. Heute sind es dagegen die Medien selbst, die im Bismarckschen Sinn ihre Botschaft vermitteln wollen.
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+++ Damit kommen wir zum anderen Thema, das die Medienwelt immer noch bewegt. Der Unterschied zwischen Yanis Varoufakis und Tilo Jung ist aber in der Medienlogik nicht grundsätzlicher Natur. Im Kern funktionieren beide Sachverhalte gleich. Jung hatte bekanntlich zum Weltfrauentag seine mittlerweile berühmt gewordenen Bilder gepostet. Daraus ergab sich sich eine hübsche Debatte über die Bedeutung solcher Äußerungen mit symbolträchtigen Inhalt. So auch an diesem Wochenende. So hat Harald Staun in der FAS versucht, den Mechanismus zu dechiffrieren, der diese Posse um vier Bilder zu einem medienhistorischen Ereignis gemacht hat: „Ihren traurigen Höhepunkt erreicht diese Dynamik in der Distanzierung der Redaktion des Online-Magazins „Krautreporter“, die offensichtlich befürchtet, dass ein einzelner Fehler eines Kollegen den Ruf des Kollektivs ruiniert. Kollegen drohen mit Kündigung, Herausgeber Sebastian Esser kündigte paternalistisch „Konsequenzen“ an, die nun so aussehen, dass Jung zwar nicht gefeuert wird, aber erst einmal nicht veröffentlichen darf. Wer so handelt, schafft sich tatsächlich seine eigene filter bubble und erklärt die homogenisierenden Kräfte erst zu jenem Naturgesetz des Internets, für das manche sie halten. Mit politischer Korrektheit haben solche Reflexe nichts zu tun, sonst wäre man bei den „Krautreportern“ womöglich früher schon mal auf die Idee gekommen, sich mit Jungs schon vorher notorischem Chauvinismus auseinanderzusetzen. Dass man sich erst davon distanziert, wenn sich der Unmut der Leser bemerkbar macht, heißt nicht, dass man seine Leser ernst nimmt, sondern dass man ihnen nicht zutraut, mit dem Pluralismus einer Redaktion umzugehen. Aber vielleicht gehört eine gewisse Gelassenheit gegenüber den konträren Überzeugungen seiner Kollegen ja auch nur zu den altmodischen Einstellungen, die man als Redakteur einer großen Zeitung entwickelt.“
+++ Was hält uns noch seit einem Jahr in Atem? Die Ukraine. In Russland hat man begriffen, wie Zielgruppen-orientiertes Marketing sogar grenzüberschreitend funktioniert. Schon vor einer Woche hat man dort eine Dokumentation über die Besetzung und spätere Annexion der Krim angekündigt. Alle deutschen Medien konnten die gestrige Ausstrahlung nicht abwarten. Sie berichteten über jeden Happen, der ihnen aus Moskau in den vergangenen Tagen vorgelegt worden war. Das hatte nur einen Grund: Dort äußerte sich auch der russische Präsident Wladimir Putin zum Thema. Nun hatte auch der erwähnte Bismarck seine Memoiren geschrieben, die allerdings wenig über tatsächliche Ereignisse, dafür umso mehr über den Autor aussagen. Seine Erinnerungen waren eine Bismarcksche Märchenstunde geworden, die vor allem das Ziel verfolgten, seinen Nachfolgern zu schaden. Nun wissen wir nicht, was Putin von Bismarck hält, sind uns aber sicher, dass es ihm vor allem um seine Sichtweise auf die Ereignisse geht. Er will diplomatische Botschaften an seine Kontrahenten im Westen formulieren. Ansonsten wäre er ja auch nicht nicht Politiker, sondern Journalist oder Historiker. Was aber macht die Berichterstattung daraus? Sie reitet vor allem ihr Steckenpferd namens Glaubwürdigkeit. Sie sucht nach Widersprüchen zwischen heutigen und früheren Aussagen, um daraus politische Schlussfolgerungen zu ziehen. Nur ist Wahrheitssuche nicht das Ziel von Politik, sondern die Durchsetzung von Interessen, auch gegen Widerstand. Kann man sich nicht durchsetzen, sucht man einen Kompromiss. Die Annahme, Politik wäre Wahrheitssuche, ist daher ein kategorialer Irrtum der Berichterstattung. Medien können allerdings den Blick hinter die Kulissen ermöglichen, um diese politischen Kalküle sichtbar werden zu lassen. Das Bemühen, selber an diesen Kulissen mitzubauen, gehört nicht dazu.
+++ So unterliegen Yanis Varoufakis, Tilo Jung und Wladimir Putin dem gleichen Mechanismus. Nur in der weltpolitischen und späteren historischen Bedeutung könnte es noch Unterschiede geben. Vielleicht haben die Medien bisher die von Tilo Jung unterschätzt? Wer will jetzt noch sagen, dieser Montag bringe keine neuen Erkenntnisse? Diese gibt es wieder am Dienstag.
Dann erscheint das neue Altpapier.