Anonym über Gehälter informieren - tut man das?

Anonym über Gehälter informieren - tut man das?
Jemand weiß, dass es in einer Abteilung sehr große Gehaltsunterschiede gibt. Der Chef aber tut nichts. Darf derjenige die Betroffenen anonym über die Unterschiede informieren?

Beim Internetportal www.das-tut-man-nicht.de können Nutzer Fragen stellen, wenn sie sich nicht sicher sind, ob eine Angelegenheit in gesellschaftlicher, moralischer, ethischer, sozialer oder religiöser Sicht in Ordnung ist oder eben auch nicht. Experten beantworten die ausgewählten Fragen. Wir stellen jede Woche ein Problem samt Antwort zur Diskussion.

Die Frage:

Ich weiß, dass in meiner Abteilung Kollegen, die sich gegenüber sitzen und das gleiche arbeiten, sehr unterschiedliche Gehälter bekommen. Das kann bis zu 70 Prozent mehr sein. Es hat nichts mit der jeweiligen Leistung zu tun, sondern hängt davon ab, wann sie eingestellt wurden. Ich habe schon mit dem Chef geredet, dass dies unfair ist und er zumindest einen Versuch machen sollte, die Unterschiede nach und nach zu korrigieren. Der Chef hat sehr klar gesagt, er könne da nichts machen und habe auch kein Interesse. Nun überlege ich mir, ob ich die Betreffenden anonym informieren soll, damit sie selber mit dem Chef verhandeln können. Aber tut man das?

Die Antwort: von Marcel Widmer. Er ist 1960 geboren und lebt mit seiner Familie am Zürichsee in der Schweiz. Nach 18 Jahren in Fach- und Führungsaufgaben in renommierten Unternehmen wie IBM und Geberit hat er sich der Beratung verschrieben, um seine Erfahrung an andere weiterzugeben.

"Ich möchte Ihnen gerne zwei Aspekte als Antwort auf Ihre Frage aufzeigen:

Ist dieser Gehaltsunterschied fair?
Um’s gleich vorweg zu nehmen: Ja, ein Unterschied von bis zu 70% bei ähnlichen Aufgaben und bei gleicher Leistung wäre tatsächlich nicht fair. Aber ...
Zum einen ist zu bedenken, dass eine objektive Leistungsbeurteilung für Vorgesetzte sehr schwierig ist (für Sie als "Außenstehende" erst recht). Menschen sind keine Beurteilungs-Automaten – und das ist auch gut so. Zum anderen ist es durchaus sinnvoll, weitere Kriterien bei der Festlegung von Gehältern zu berücksichtigen. So ist in Ihrem Fall offenbar eine lange Betriebszugehörigkeit (sprich: die Treue zum Unternehmen) ein Element, das durch ein höheres Gehalt honoriert wird. Und es gibt noch viele, viele andere.
Also: Eine gerechte Festlegung von Gehältern ist immer schwierig! Selbst für Ihren Chef, der (im Gegensatz zu Ihnen) die Kriterien und die Bewertungen kennt.

Soll ich intervenieren, um die Unterschiede zu beseitigen?
Ich bin 100%ig überzeugt: Wenn wir aufhören, uns gegen Ungerechtigkeiten zu wehren, uns einzumischen und uns füreinander einzusetzen, dann geht’s mit uns bergab! Deshalb möchte ich Ihnen gerne zurufen: "Ja, tun Sie es!" Bevor Sie jetzt aber gleich losstürmen, überlegen Sie bitte Folgendes: Ihre Intervention wird nur beim Kollegen gut ankommen, der weniger verdient. Der andere wird nicht begeistert sein, weil er eine Lohnkürzung zu erwarten hat (da die beiden Gehälter vermutlich in der Mitte angeglichen würden). Wenn Ihr Vorhaben also gelingen sollte, produzieren Sie einen Gewinner, schaffen aber gleichzeitig einen Verlierer. Und was würde passieren, wenn der Vorgesetzte oder die Geschäftsleitung die Anpassung der Gehälter ablehnen würden? Dann wäre Ihr an sich lobenswertes Vorhaben gescheitert und übrig blieben Unzufriedenheit, Misstrauen und Unruhe – auch bei Ihren Kollegen! Deshalb: Tun Sie es nicht!"

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