Als Max eines Tages auf einem Hund davonflog, machte man sich in Sasbach keine Sorgen. Der Hund hieß übrigens Lotte und war westlich der Bahnlinie, die Breisach mit Endingen verbindet, bestens bekannt. Seither verschwanden viele Kinder aus Sasbach, meist am Samstagnachmittag. "Kummet nit so spot wieder", riefen die Mütter ihnen in ihrem alemannischen Dialekt hinterher, wenn sie in Richtung Kaiserstuhl vom Merowingerweg auf die Feldwege abbogen.
[linkbox:nid=14442;title=Fotogalerie]
Nirgendwo in Deutschland scheint die Sonne häufiger und brennt sie heißer als hier im Südbadischen. An diesem Samstag im August steigt das Quecksilber im Merowingerweg schon um zehn Uhr auf 28 Grad. Vor dem Haus Nummer 6 wächst ein Berg von Sperrmüll in den wolkenlosen Himmel. Offenbar ist heute Müllabholtag. "Nein, nein, wir brauchen das Gerümpel für das Foto nachher", sagt Jan von Holleben und wirft noch einen alten Ventilator dazu. "Jetzt müsste es langsam reichen." Moritz ist auch schon da und Leon, Jakob, Jan und Mario. Sieben Kinder tummeln sich in der Hofeinfahrt, heute nur Jungs, und einige Gesichter glaubt man schon einmal gesehen zu haben. Sasbach ist ein Dorf an der deutsch-französischen Grenze.
Vom Eichert, einem Hügel über dem Ort, sieht man über den Rhein bis hinüber zu den Vogesen. Die Bewohner leben vom Weinbau und sie wohnen hier, weil auch ihre Eltern und deren Eltern schon hier wohnten. Man kennt sich, man grüßt sich ("salli"), und deshalb waren einige Mütter erst einmal misstrauisch, als vor sieben Jahren dieser hochgewachsene, schlanke junge Mann im Kindergarten auftauchte und nach Kindern fragte. Jan von Holleben sprach hochdeutsch und hatte außer seinen freundlichen Augen keinen Leumund. Doch dann erkannte jemand, dass er der Sohn von der kürzlich nach Sasbach gezogenen Logopädin sein müsse, und damit war alles in Ordnung.
Als Astronauten durchs All
Jan von Holleben hatte sich als Fotograf vorgestellt und erklärt, er wolle die Kinder aus Sasbach das Fliegen lehren. Seine Bilder aus der Serie "Träume vom Fliegen" (chrismon 08/2007) sind inzwischen in der ganzen Welt bekannt - und damit auch die Kinder aus Sasbach, die als Astronauten durchs Weltall schweben oder Hand in Hand eine imaginäre Schlucht überspringen. Nicht zu vergessen Max und Lotte, der fliegende Hund. Die Fotos entstanden ohne großen technischen Aufwand meist direkt vor dem Haus im Merowingerweg.
Jetzt ist Jan von Holleben für ein neues Projekt wieder nach Sasbach gekommen, um "seine" Kinder mit auf eine Reise zu nehmen: "Reise ins Überall". "Ich will mit euch vom Eichert-Hügel in die ganze Welt reisen", hat er ihnen diesmal versprochen, und sie glauben es ihm, weil er sie auch fliegen lassen konnte.
Eine Mutter hilft, die Sachen ins Auto einzuladen: Bretter, ein alter Tennisschläger und was Jan von Holleben im Keller seiner Mutter sonst noch an brauchbarem Gerümpel gefunden hat. Die beiden Söhne von Sabine Dinger, Leon, 7, und Lukas, 10, sind schon etwas aufgeregt. "Die freuen sich schon seit Tagen", sagt Sabine Dinger, "die muss man gar nicht erst motivieren." Gut ein Dutzend Motive der Serie für den neuen Kalender in der edition chrismon (siehe Seite 11) hat von Holleben in den vergangenen Monaten schon "geschossen": Cowboys, die ein Fort verteidigen, Marsmenschen in einer Schirmlandschaft - und natürlich das Lieblingsbild der Kinder: im Schlaraffenland der Süßigkeiten. Heute will er zwei neue Szenen auf den Speicherchip seiner Canon bannen. Neben der Besteigung des Sperrmüllberges noch eine Szene im Obst- und Gemüseparadies - Kinder auf Äpfel-, Tomaten- und Pfirsichhügeln.
Szenen auf Zetteln skizziert
Der zwölfjährige Pascal war bei den "Flieger"-Bildern noch Darsteller. Jetzt ist er zum technischen Assistenten aufgestiegen. Oben auf dem Eichert angekommen, gibt er seinen jüngeren Freunden erste Anweisungen: "Leiter weiter nach links!" Das Set auf dem Hügel über dem Dorf ist schnell aufgebaut: Im Vordergrund drapiert von Holleben auf einem schmalen Tischchen das Obst und Gemüse zu einem imaginären Gebirge, etwa fünf Meter dahinter werden drei Leitern so gestellt, dass man sie später auf dem Foto nicht mehr sieht. So glaubt man, die Kinder stünden auf den Lebensmitteln. Jede Szene hat von Holleben schon zu Hause auf einen Zettel skizziert und sie mit seinen jungen Mitarbeitern besprochen. So wissen die meisten schon, welche Position sie einnehmen wollen. Moritz will auf den Blumenkohl, Mario setzt sich auf die Äpfel, schließlich stellt sich noch Pascal mit einer Riesenzucchini auf die oberste Leitersprosse.
"Auf drei geht's los", ruft von Holleben, und fast wie Profis werfen sich die Jungs in Pose. "Click, click, click." Nach jeder Einstellung klettern sie von ihren Leitern und rennen zur Kamera, um ihr kleines Wunder zu bestaunen. "Da sieht man die Leiter", hat Mario entdeckt, doch Jan von Holleben stört sich nicht daran. "Wenn man solche kleinen Fehler auf dem Foto erkennt, wirkt das Bild authentischer", sagt er. "Sonst denkt am Ende noch jemand, der macht das mit Photoshop am Computer." Alles ist echt, auch die dunklen Gewitterwolken, die häufig am Eichert aufziehen. Von Holleben hatte gerade sein "Schlaraffenland" aus Popcorn, Lutschern und Mohrenköpfen aufgebaut, als das Unwetter sich zu entladen drohte. "Es hat sich zum Glück verzogen, doch die Luft war so feuchtwarm, dass sich die Süßigkeiten zu einer festen Masse verbacken haben. Zum Fotografieren war das ideal."
Ideen kommen von den Kindern
Die Ideen zu den Szenen kommen oft von den Kindern selbst. "Ich gebe häufig nur ein Stichwort, und dann sagen sie mir, was sie machen wollen." Ein Durstiger in der Wüste, Touristen im Dschungel oder Piraten, die einem Mädchen auf einem Delfin winken - es braucht nicht viele Requisiten, um Geschichten aus der Welt zu erzählen. Ein paar Daunendecken, und schon ist auf dem Eichert mitten im Hochsommer eine Winterlandschaft entstanden. "Ich glaube", sagt von Holleben, "den Kindern macht es am meisten Spaß, zu sehen, dass man allein mit dem Kopf reisen kann."
In den Umbaupausen toben die Sasbacher Kinder im Gelände herum. Einer hat im Sperrmüll einen roten Schneeteller entdeckt und rutscht johlend darauf den steilen Grasabhang hinunter. "Schmiert euch mal alle mit Sonnencreme ein!", mahnt der Fotograf seine Models. Die gerade noch tobenden Jungs greifen folgsam nach den Tuben. "Vielleicht", sinniert Jan von Holleben, "kann man so ein Projekt nur mit Kindern vom Dorf machen. In der Stadt sind Kinder ganz schnell gelangweilt und halten nicht so lange durch."
Der Artikel ist in der Ausgabe 9/2009 im Magazin chrismon erschienen. Der Kalender ist auch im chrismon-Shop zu bestellen.