Hätte man Martina Guidotti vor zehn Jahren gefragt, ob sie vielleicht zur Betriebsratswahl in ihrer IT-Firma kandidieren möchte, man hätte sich ein entrüstetes Nein eingefangen. Guidotti stellte sich unter Betriebsräten bärtige Männer vor, die den ganzen Tag mit dem Arbeitgeber herumstreiten. Nee, so was brauchen wir nicht, wir haben doch einen guten Draht zur Geschäftsführung, wir sind fast schon eine Familie. Dachte sie. Denken viele Beschäftigte. Bis etwas passiert – eine Fusion, eine Auslagerung, eine Massenentlassung – und deutlich wird, dass Belegschaft und Geschäftsführung durchaus gegensätzliche Interessen haben können.
Jetzt, in der Krise, brodelt es in den Belegschaften
Bei Martina Guidotti klickte es, als eine kanadische Firma ihren Betrieb aufkaufte und viele Kollegen entließ. „Die mussten binnen zweier Stunden ihren Schreibtisch räumen. Das war nicht schön.“ Künftig wollte sie bei so was mitreden. Also gründete sie einen Betriebsrat. Jetzt ist Guidotti, die zuvor „eine bessere Assistentin für Global Services“ war, Betriebsratsvorsitzende des Softwareunternehmens Open Text in Grasbrunn, Landkreis München, zuständig für die rund 670 deutschen Beschäftigten. Als es jüngst wieder eine Entlassungswelle gab, setzten sie und ihr Stellvertreter sich mit jedem Gekündigten zwei Stunden zusammen: Sie hörten sich den Schmerz an und die Wut, sie gaben Rechtstipps.
Nur die Hälfte der deutschen Beschäftigten wird durch einen Betriebsrat vertreten. Doch jetzt, in der Krise, brodelt es in den Belegschaften. So kommt es, dass Callcentertelefonistinnen ihren Mut zusammenraffen und sich selbst coole Investmentbanker oder schnöselige Multimediakreativlinge für so was Uncooles wie eine Betriebsratsgründung interessieren; manche wagen dafür sogar den Besuch bei einer Gewerkschaft. Erst später merken sie, dass es aufreibend und überraschend komplex ist, Betriebsrat zu sein: Sie können gestalten, sie gehören auf besondere Weise zur Führungsriege des Betriebs, aber sie blicken auch in Abgründe, und immer wieder stoßen sie an ihre Grenzen.
"Früher hast du auf den Tisch gehauen und geschrien“
Martina Guidotti zum Beispiel musste „auf die harte Tour lernen“, wie man strategisch verhandelt. „Ich hab ganz naiv gedacht, wenn ich fair und offen bin, geht der andere auch so mit mir um. Das war aber nicht so.“ Quälend lang ringt sie manchmal mit der Geschäftsführung, etwa um eine transparente Verteilung der Boni – denn bislang ging das nach Nasenfaktor, nicht nach Leistung. Kurzum: Die 44-Jährige ärgert sich mehr als früher.
Warum tut sie sich das an? Weil ihr die Kollegen am Herzen liegen, ja, auch die Firma. „Und ich wachse jeden Tag. Meine Familie sagt schon: ‚Seit wann bist du so diplomatisch? Früher hast du auf den Tisch gehauen und geschrien.‘“ Sie hat gelernt, ihre Gefühle nicht mehr auf der Zunge zu tragen. „Aber ich würd ein Magengeschwür kriegen, wenn ich den Ärger nicht irgendwo rauslassen könnte. Wenn ich mit meinem Mann zu Hause in der Sauna sitze, dann laber ich ihn voll – ich hab einen sehr geduldigen Mann.“
Einmal noch will Guidotti kandidieren, jetzt, bei den Wahlen, die vom 1. März bis 31. Mai laufen. Nun sucht sie weitere Kandidaten, sie braucht ja Mitstreiter. Wenn also mal wieder jemand heftig schimpft, sagt sie: „Okay, dann lass uns das ändern! Wir haben wieder Wahlen, magst du nicht kandidieren?“ Oft bekommt sie dann zu hören: „Ach nö, ihr macht das schon.“
Anecken gehört zur Rolle eines Betriebsrates
So hätte Peter Höfle nie geantwortet. Höfle ist Lektor beim Suhrkamp-Verlag, ein Kafkaexperte. Er empfand es damals als Vertrauensbeweis, gefragt zu werden, und als Pflicht: „Man kann nicht nur meckern und sich dann, wenn es an die Arbeit geht, zurückziehen.“ Trotzdem erbat sich der 47-jährige Vater von drei Kindern Bedenkzeit. Klar, laut Gesetz dürfen Betriebsräte jederzeit die normale Arbeit für ihre besonderen Aufgaben ruhen lassen, sagt Höfle, Fakt aber sei, dass Betriebsratsarbeit Mehrarbeit ist. „Außerdem streite ich mich nicht gern. Das muss man dann aber tun. Stehe ich das durch?“
Doch dann machte ihm etwas ganz anderes zu schaffen. „Weil beim Betriebsrat alles zuerst landet, neigt man dazu, überall das Schlechte zu sehen: Der wieder! Sind die blöd!“ Richtig schwierig wurde es, als die Geschäftsführung ankündigte, mit dem Verlag von Frankfurt am Main nach Berlin zu ziehen. Trotz aller Proteste, irgendwann konnte man nur noch einen möglichst guten Sozialplan aushandeln. Nicht jeder verstand das gleich.„Kompromisslerisch“, schimpften Einzelne. Das tat weh. Aber wie hatte der Trainer in der Betriebsräteschulung gesagt: „Ihr könnt so gut sein, wie ihr wollt, ihr werdet auch Anfeindungen erleben. Da müsst ihr durch. Es gehört zu eurer Rolle, dass ihr aneckt.“
Jetzt ist der Suhrkamp-Verlag von Frankfurt nach Berlin gezogen. Ohne Peter Höfle, der wird nun Lehrer. „Trotz furchtbarer Phasen, es waren tolle Jahre“, sagt er. Weil er was bewegen konnte, weil er die Abläufe im Betrieb durchschaute wie nicht mal die Geschäftsführung, „weil ich wahnsinnig viel gelernt habe“.
Je kleiner die Belegschaft, umso seltener die Vertretung
Tatsächlich: Der Betriebsrat ist kein Sammelbecken für Zu-kurz-Gekommene, ganz im Gegenteil, immer mehr hochqualifizierte und studierte Beschäftigte finden die Betriebsratsrolle attraktiv, das fand der Soziologe Hermann Kotthoff von der TU Darmstadt heraus. Vom Betriebsrat ausgeschlossen sind nur Leitende mit Kündigungsbefugnis oder Generalvollmacht. Erst recht attraktiv ist die Leitung des Betriebsrates: Dieses Amt wird nicht anstatt einer beruflichen Karriere angestrebt, sondern zusätzlich.
Dafür muss man aber erst mal einen Betriebsrat gründen. Je kleiner eine Belegschaft, umso seltener hat sie eine Interessenvertretung; von den Betrieben mit bis zu 50 Mitarbeitern haben so nur sechs Prozent einen Betriebsrat. Manchmal liegt das daran, dass in kleinen Betrieben die Abhängigkeit vom Arbeitgeber besonders groß scheint – wie in Zahnarztpraxen oder Rechtsanwaltskanzleien –, manchmal daran, dass sich die Angestellten selbst wie Arbeitgeber fühlen. Wie in Investmentbanken.
"Diese Unehrlichkeit kotzt mich an"
Ein Hochhaus in Frankfurt am Main, die deutsche Niederlassung einer internationalen Investmentbank. Wer hier arbeitet, hantiert mit viel Geld. Robert Eisenstätt, sportlich, Ende 30, ist ein Siegertyp. Ja, es ist in Ordnung, wenn jemand gehen muss, weil ein anderer besser ist, sagt er. Aber bitte, es soll dabei „fair und transparent“ zugehen. Nicht so, wie er es erlebt hat, als die Firma im Trubel der Bankenkrise übernommen wurde. Stellen, die es nun doppelt gab, wurden gestrichen; auf die verbliebenen sollten sich die Leute neu bewerben. Es werde ein fairer Auswahlprozess sein, hieß es. „Aber es war von vornherein klar, wer rausfliegt“, sagt Eisenstätt. Ihm zum Beispiel habe man schon vorher bedeutet, dass er bleibe. „Diese Unehrlichkeit, Entschuldigung, kotzt mich an.“
Früher leitete Eisenstätt die Jugendgruppe seiner Kirchengemeinde, heute kümmert er sich um die Finanzen seines Hockeyvereins – schon ist ein besserer Trainer engagiert und der rumpelige Vereinsbus ersetzt. Aber dass er mal für eine Betriebsratsgründung werben würde, hat ihn selbst überrascht. Es stand eine weitere Fusion bevor, und ein Kollege hatte ihn angesprochen, einer, den er schätzt, weil der immer mit anpackt – ungewöhnlich in einer Firma, die von oben als Einzelmannschaft aufgestellt ist; man hilft sich nicht gegenseitig aus, da ja der andere den Bonus fürs Kundengeschäft einstreicht.
"Wir sind Winner, keine Loser“
Nun also trommelten Eisenstätt und sein Kollege die rund 50 Beschäftigten zusammen und sprachen: „Wir haben kein Misstrauen gegenüber dem neuen Arbeitgeber, aber es wird keine Liebesheirat sein. Wir wissen nicht, ob uns der neue Arbeitgeber nicht nach Gutsherrenart behandeln wird. Der Betriebsrat soll eine unabhängige Instanz sein, um zu überprüfen, ob der Übernahme prozess fair ist. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.“
Und was sagten die Kollegen und Kolleginnen? „Mitarbeiter mit Qualifikation brauchen so was nicht. Wir sind Winner, keine Loser.“ Am Ende stimmten zwei Drittel gegen die Gründung eines Betriebsrats. Okay, sagte Eisenstätt, dann lassen wir es bleiben. „Jeder denkt an sich, also ist an jeden gedacht. Aber es wird Leute geben, die demnächst ins Ausland ziehen müssen oder ihren Job verlieren.“ Als Erstem allerdings wurde seinem hilfsbereiten Kollegen gekündigt, dem Wahlinitiator, fristlos und mit fadenscheiniger Begründung – er ging vors Arbeitsgericht und bekam recht. Die Firma zahlte ihm eine hohe Abfindung.
Nun sind Umstrukturierung und Personalabbau in vollem Gang. Eisenstätt hat auch in der neuen Struktur eine Position. Selbst wenn die Leute jetzt doch noch einen Betriebsrat gründen würden, es wäre zu spät für einen Sozialplan. Der Arbeitgeber muss schließlich schon vorher wissen, welche finanziellen Folgen seine Umstrukturierung haben wird.
"Das Wort 'wir' ist fast aus dem Wortschatz verschwunden!"
Ha, über diese Sorte best verdienender Bankmitarbeiter kann sich Siedward Kleint immer wieder neu aufregen. Kleint ist Betriebsratsvorsitzender bei der deutschen Niederlassung der BNPBank in Köln. Natürlich ist es okay, wenn manche Beschäftigte ihre Dinge alleine regeln wollen – aber müssen sie deshalb den Betriebsrat verächtlich machen? „Und kaum sitzt ihnen ein Furz quer, stehen sie doch bei mir auf der Matte: ‚Der Kollege hat einen 5er-BMW, und ich muss einen 3er fahren!‘ Ich sag dann: ‚Wir stehen mit dem Rücken an der Wand, und ihr streitet über BMWs! Eigentlich müsstet ihr alle Skoda fahren.‘“ Kleint muss schon wieder schimpfen: „Das Wort ‚wir‘ ist doch fast aus dem Wortschatz verschwunden! Erst wenn es um die eigene Kohle geht, ist ‚wir‘ wieder in.“
Stimmt: Seit Beginn der Krise rührt sich auch in der konservativen Bankenund Versicherungsbranche was. Es kommen deutlich mehr Leute in das bescheidene Büro des Verdi-Sekretärs Walter Kaufmann in Frankfurt – Leute, die einen Betriebsrat gründen wollen. Diese Startberatung bekommen sie gratis, bezahlt von den Gewerkschaftsmitgliedern. Manche treten anschließend ein, von anderen hört Kaufmann nie wieder was – gerade „Winner“ haben Vorbehalte gegenüber Gewerkschaften. Die Mitarbeiter eines IT-Unternehmens, so wird erzählt, wandten sich zwecks Gründung eines Betriebsrats direkt an den Vorstand der IG Metall – drei Hierarchieebenen über dem eigentlich für sie Zuständigen. Der Vorstand amüsierte sich köstlich, gab ihnen dann aber für ihre Betriebsratsgründung seine besten Leute an die Hand.
Im neuen Betrieb gelten keine Tarifverträge
Auch Yvonne W. saß irgendwann mit einigen Kolleginnen in Kaufmanns Büro. Die Callcenteragentinnen wollten einen Betriebsrat gründen, fürchteten sich aber davor, wie der Arbeitgeber reagieren könnte – mit Abmahnung, Kündigung...Verdi-Jurist Kaufmann trug ihnen aus Gesetz und Urteilen vor: Als Wahlinitiatorinnen genießen sie einen erhöhten Kündigungsschutz. Der Arbeitgeber darf die Wahl auch nicht beeinflussen, etwa indem er droht, den Betrieb zu schließen, sollte ein Betriebsrat gegründet werden; oder indem er Leuten Vorteile verspricht, wenn sie in seinem Sinn im Betriebsrat agieren. Für so etwas droht bis zu ein Jahr Haft. Doch, sagt Kaufmann, solche U-Boot-Betriebsräte gebe es.
Beruhigt ging Yvonne W. in ihren Betrieb zurück, in das Kundencenter der Zurich Versicherung. Die telefonische Kundenbetreuung war unlängst vom Konzern abgespalten und als GmbH neu gegründet worden. Im neuen Betrieb gelten keine Tarifverträge. Hier hatte Yvonne W. angeheuert und sich alsbald gewundert, verspricht die Firma doch in ihren Stellenanzeigen einen „angenehmen Arbeitsplatz“ und „wertschätzende Zusammenarbeit“.
"Das kann doch nicht der Ernst der Leute sein"
Die 38-jährige Bürokauffrau nimmt die Schadensmeldungen der Versicherten entgegen, einen Anruf nach dem anderen, 42 Stunden in der Woche, im Großraumbüro – „das ist so laut, dass Sie denken, da steht ein Bagger neben Ihnen“. Das Nettogehalt dafür liegt je nach Steuerklasse zwischen 1.227 und 1.415 Euro. Nach Tarifvertrag würde Yvonne W. brutto mindestens 500 Euro mehr verdienen, für 38 Wochenstunden. Nein, sie wollte den Betrieb nicht ruinieren, „aber doch ein bisschen was verbessern für die Kolleginnen und Kollegen“. Die meisten arbeiten in der „Telefonie“.
Eigentlich schwebte ihr eine reine Personenwahl vor, keine Listenwahl. Doch kurz vor Fristablauf wird eine zweite Liste eingereicht: darauf nur eine einzige Telefonistin, ansonsten vor allem Teamleiter und Coachs. Dann berichten Kolleginnen, Teamleiter hätten gesagt, Frau W. wolle einen Tarifvertrag, und wenn es einen Tarifvertrag gebe, werde der Betrieb dichtgemacht. Ergebnis der Wahl: Die zweite Liste erringt mit drei Teamleitern und einem Coach vier Sitze im Betriebsrat. „Das kann doch nicht der Ernst der Leute sein“, sagt W., die auch gewählt wurde. Ist es aber wohl – in Callcentern arbeiten viele Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose, Studentenjobber, die froh sind, überhaupt einen Arbeitsplatz ergattert zu haben.
"So einen Fall über nehmen wir nicht"
Es kommt, wie es wohl kommen muss: Die Betriebsratsmehrheit stimmt fast allen Kündigungsbegehren der Geschäftsführung zu und nickt jeden Überstundenantrag ab. Dann will das Gremium die zweite Wahlinitatorin aus dem Betriebsrat ausschließen, und Yvonne W. soll einen Anwalt finden, der das vor Gericht durchsetzt. Sie muss diverse Anwälte anrufen, bis sie einen findet, der nicht entsetzt sagt: „So einen Fall über nehmen wir nicht.“ Yvonne W. fängt an, nachts vom Betriebsrat zu träumen; immer öfter ist sie krank.
Warum tut sie sich das an? „Die Grenze, wo für mich Ungerechtigkeit anfängt, ist bei mir niedriger als bei anderen.“ Beispiel? Sie habe mal in der Personalbuchhaltung einer Zeitarbeitsfirma gearbeitet, „da fand ich unmöglich, dass den armen Leuten, die 6,50 Euro in der Stunde kriegen, erst mal d e Schutzkleidung mit 25 Euro abgezogen wird – dabei muss der Arbeitgeber diese Kleidung zahlen!“ Aber warum reagiert sie da so sensibel? „Weil...“, Yvonne W. zögert, denn in ihrer Firma hat sie das nie erzählt: dass sie aus einer alteingesessenen Frankfurter Romafamilie stammt, dass viele Angehörige in Auschwitz gestorben sind. Schon als Kind wusste sie, wie es sich anfühlt, ungleich und unfair behandelt zu werden.
EKD verleiht Arbeitsplatzsiegel "Arbeit Plus"
Es geht auch anders – mit Wertschätzung. „Wir haben eine hervorragende Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat! Das sind Leute mit hoher Qualifikation und wirtschaftlichem Verständnis“, sagt Michael Geier, der Personalleiter der Wittenstein AG in Igersheim, einem auf kleine Getriebe spezialisierten Maschinenbauunter nehmen mit internationalem Ruf und rund 1.200 Beschäftigten in Deutschland. Früher hielt Geier Betriebsräte für hinderlich, er kannte nur welche aus den Medien. Heute schwärmt der 42-Jährige geradezu: „Über den Betriebsrat kann man die Belegschaft hören! Wir schätzen den Betriebsrat mit seinen anderen Ansichten und Ideen als Sparringspartner.“
Friede, Freude, Eierkuchen? Nun, manchmal führe man eine „intensive Diskussion“. Zum Beispiel jetzt, in der Krise, als die Firma nicht nur Entlassungen, sondern auch schon Kurzarbeit vermeiden wollte. Nur wie? Betriebsrat und Geschäftsführung einigten sich schließlich darauf, das Gleitzeitkonto auszuweiten. Gut daran für die Beschäftigten: Sie können nun bis zu 300 Stunden unter dem Soll bleiben, bei vollem Lohn, müssen natürlich irgendwann nacharbeiten. Weniger toll: Überstunden werden künftig erst ab 200 Stunden ausbezahlt, davor muss man sie als Freizeit nehmen. „Da war es sehr hilfreich, dass der Betriebsrat den Beschäftigten gesagt hat: Das ist sinnvoll.“
Aber mit der Karriere ist es ja wohl vorbei, wenn man mal Betriebsratsmitglied war? „Bei uns nicht“,sagt der Personalleiter, „uns ist gesellschaftliches Engagement wichtig – da bringt sich ja jemand ein, will mitgestalten!“ Auch für diese Haltung verlieh die Evangelische Kirche in Deutschland der Firma das Arbeitsplatzsiegel „Arbeit Plus“. Die EKD ruft jetzt auch wieder dazu auf, bei den Betriebsratswahlen zu kandidieren und mitzuwählen. Denn Betriebsräte trügen dazu bei, dass die Würde der arbeitenden Menschen geachtet werde.
Leiden und trotzdem nichts tun
Ist das nicht alles antiquiert – Betriebsräte, Tarifverträge und Gewerkschaften? Passend vielleicht für unterdrückte Drogerieangestellte oder angelernte Fabrikarbeiter, aber doch nicht für die jungen, bestens ausgebildeten Menschen in der Multimedia- und IT-Welt? So denkt zum Beispiel Mirko Meyerbeer. Er konzipiert Webauftritte für eine hippe Onlineagentur; er versteht sich als Künstler, nicht als Arbeitnehmer.
Doch nun hat die Krise auch seine Firma erwischt, die Hälfte der Leute wurde entlassen, und Meyerbeer arbeitet noch mehr: elf Stunden jeden Tag, das Kickern zwischendurch ist da schon abgezogen. Trotzdem würde sein Gehalt nicht für eine Familie reichen. Gerüchteweise hat er gehört, dass ein Kollege, Familienvater, mehr Gehalt ausgehandelt hat. Das nagt an ihm. Aber einen Betriebsrat gründen? Auf keinen Fall, das könne sich die Firma nicht leisten. Dann soll er doch gleich die Sklaverei beim Chef beantragen, frotzelt seine Freundin, das käme die Firma noch billiger! Es nervt sie, dass er leidet und trotzdem nichts tut.
„Den muss man leiden lassen"
„Den muss man leiden lassen, bis er nicht mehr leiden will“, sagt trocken Kathlen Eggerling von connexx.av, einer Art schnellem Beiboot von Verdi für die Beschäftigten in den neuen Medienbranchen. „Das ist der Klassiker, dass die Leute irgendwann sagen: Ich werde zu alt für dieses Höllentempo, ich will Kinder, mir sind noch andere Dinge im Leben wichtig.“ Oft versuchen es die Beschäftigten zunächst mit einem „runden Tisch“, bis sie merken, dass der bei Konflikten keine einklagbaren Rechte hat. Dann steht die Idee Betriebsrat im Raum – doch kaum macht der Arbeitgeber „Buh!“, zieht man sich zurück. Erst einmal.
Selbst wenn es in Mirko Meyerbeers kleinem Betrieb nur für einen einköpfigen Betriebsrat langen sollte, also einen mit reduzierten Rechten, so könnte der doch Zahlen über die wirtschaftliche Lage verlangen oder Kündigungen widersprechen. Trotzdem dauert es in solchen Betrieben meist Jahre bis zur Gründung eines Betriesbsrats.
Ohne Betriebsrat werden Probleme individualisiert
Und dann dauert es noch mal Jahre, bis die Beschäftigten merken, dass Tarifverträge zu Gehalt und Arbeitszeit mehr Sicherheit und Gerechtigkeit bieten als individuelle Vereinbarungen, dass man Tarifverträge aber nicht geschenkt bekommt, auch Haustarifverträge nicht, sondern erstreiten muss.
So weit sind Meyerbeer und seine Kollegen noch nicht. „Die gründen so lange keinen Betriebsrat, solange die Gemeinschaft tatsächlich gelebt wird“, sagt der Münchner Soziologe Andreas Boes, der Betriebskulturen in der IT-Branche erforscht. „Wenn aber – weil der Markt kriselt oder man aufgekauft wird von einem Finanz investor – der Sinn verloren geht, das Gefühl des positiven Andersseins und der Gemeinschaft, dann gibt es kein Gegengewicht mehr zu den Belastungen. Dann merken sie, dass sich ihre Interessen nicht von alleine duchsetzen.“ Das sei die aktuelle Situation: Es rumore gewaltig unter der Oberfläche.
Größter Nachteil, wenn es keinen Betriebsrat gibt: Probleme werden individualisiert. Das erfuhr der Soziologe Stefan Lücking von der Uni Erlangen-Nürnberg bei seinen Recherchen in betriebsratslosen Betrieben: „Manche Personalleiter haben die Tendenz, jeden Kritiker als Querulanten anzusehen, als einen, dem man es sowieso nicht recht machen kann.“ Statt die Kritik als Chance zu nehmen und zu fragen, ob vielleicht generell was nicht stimmt – es könnte ja sein, dass die Arbeitsorganisation ineffektiv ist –, wird dem Kritiker ein Coach vermittelt: damit er an sich selbst arbeitet, also seinen Umgang mit dem betrieblichen Problem ändert.
Aha, bei so was dürfen wir mitbestimmen!
Dass es einen Betriebsrat gibt, bedeutet allerdings nicht automatisch, dass der auch was bewirkt. Ziemlich unauffällig fand Michael Shohat seinen bisherigen Betriebsrat. Shohat ist Produktmanager bei der Strato AG in Berlin, einem Internetanbieter mit rund 400 Beschäftigten. Und weil er beruflich „einigermaßen gelangweilt“ war, kandidierte er. Jetzt ist er Betriebsratsvorsitzender. Man kann alles lernen, sagt er gut gelaunt, selbst wie man den Vorstand zu Kompromissen bewegt...
Denn dass man sich bei Strato duzt, macht die Verhandlungen nicht einfacher. Immer wenn der Betriebsrat an einer Stelle was verbessern will, kündigt der Vorstand eine Verschlechterung an anderer Stelle an: Wenn der Betriebsrat will, dass die Callcenterleute nicht mehr schon am ersten Krankheitstag ein Attest vorlegen müssen, dann müssen eben künftig auch die höheren Angestellten früher zum Arzt! Michael Shohat schaut in seiner Datenbank für Gerichtsurteile nach: Aha, bei so was dürfen wir mitbestimmen!, spricht also zum Vorstand: „Gut, dann sehen wir uns vor der Einigungsstelle!“, was eine Art Gericht für streitende Arbeitgeber und Betriebsräte ist, und schon nähert man sich einem Kompromiss.
Was bloß macht dem promovierten Politikwissenschaftler daran solchen Spaß? „Dass ich einen Sinn in meiner Arbeit sehe“, sagt der 35-Jährige. „Als Produktmanager vermittle ich zwischen Abteilungen – auch nett, aber die Optimierung der Prozesse führt nur dazu, dass Gewinn an Aktionäre abfließt. Das ist nicht in meinem Interesse, weil die Leute hier wenig verdienen. Und das Schöne im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Engagements: Ich kann das in der Arbeitszeit tun!"
Christine Holch arbeitet als Reporterin für chrismon. Die Geschichte ist in der Ausgabe 3/2010 erschienen.